Ich lebe in einem von Ebola verseuchten Viertel in Monrovia

Alltag mit dem Ebola-Virus: „Im Haus um die Ecke sind fünf Leute gestorben“

Serie. Ich lebe in einem von Ebola verseuchten Viertel der liberianischen Hauptstadt Monrovia

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Selbst in normalen Zeiten ist es kein Vergnügen, in West Point zu leben: Im Armenviertel der liberianischen Hauptstadt Monrovia, das auf einer Halbinsel an der Atlantikküste liegt, vegetieren 75.000 Menschen ohne Sanitär- und Infrastruktur auf engstem Raum dahin.

Seit in Liberia das Ebola-Virus wütet, haben sich die Bedingungen in West Point nochmals dramatisch verschärft. Im August wurde der Slum unter Quarantäne gestellt – sprich: von der Armee einfach abgeriegelt und samt den Bewohnern seinem Schicksal überlassen.

Ebola hat sich seit Sommerbeginn binnen weniger Wochen mit dramatischer Geschwindigkeit in Westafrika verbreitet. Das Auftreten der hochansteckenden Krankheit, die bis zu 90 Prozent der Infizierten tötet, wurde nicht nur in Liberia registriert, sondern auch in Sierra Leone und Guinea. Einzelfälle wurden auch aus dem Senegal und Nigeria gemeldet.
Der derzeitige Ausbruch gilt als schlimmste bekannte Epidemie der Geschichte. Bis Mitte vergangener Woche hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO offiziell 5843 Ebola-Patienten registriert, 2803 davon waren bereits gestorben. In Liberia verdoppelt sich die Zahl der gemeldeten Fälle alle zwei bis drei Wochen, derzeit werden rund 50 Todesfälle pro Tag gemeldet.

Die weiteren Prognosen klingen apokalyptisch. Laut einem Computermodell könnten sich bis Ende September in Westafrika mehr als 20.000 Menschen infiziert haben – und bis Ende Jänner 2015 schlimmstenfalls sogar 1,4 Millionen.

Im vierten – und vorerst letzten – Teil unserer Serie „Ich lebe in …“ kommt Doris T. Keita zu Wort. Die 32-jährige Hausfrau wohnt mit ihrer Familie in West Point und hat in den vergan–genen Wochen miterlebt, wie sich die Krankheit in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ausbreitete und West Point von der Regierung mehr oder weniger aufgegeben wurde.
Inzwischen wurde die Quarantäne zwar wieder aufgehoben. Die Verhältnisse in dem Armenviertel sind aber weiterhin menschenunwürdig – und Ebola fordert dort täglich neue Opfer.

Johannes Dieterich, Monrovia

„Im Haus um die Ecke sind fünf Leute gestorben“

Text von Doria T. Keita

Wie es mir geht, fragst du? Schau dich doch um! Seit gestern regnet es ohne Unterbrechung, das heißt, es regnet nicht, es schüttet. Die Gassen hier in West Point haben sich in rauschende Bäche mit kniehohem Wasser verwandelt, die Marktfrauen stehen bis zu den Waden im Schlamm. Ich musste überall Eimer aufstellen, weil das Wellblechdach meines Hauses verrostet ist – zum Glück kommt wenigstens über dem Bett nichts runter. Nur den Kindern macht dieses Wetter Spaß. Sie duschen sich in den Wasserfällen, die von den Dächern kommen.

Die Leute sagen, dass sich das Virus im Regen noch schneller ausbreitet, aber es wird viel geredet momentan. Als wir zum ersten Mal von Ebola gehört haben, hat zunächst keiner daran geglaubt. Die Regierung sagte, dass man Kopfweh und Durchfall davon bekommt – aber Kopfweh und Durchfall haben wir die ganze Zeit, ohne dass wir daran sterben. Wir waren überzeugt, dass sich die da oben wieder etwas Neues einfallen ließen, um Geld aus dem Ausland zu bekommen. Wir haben sogar Witze gemacht: „Deborah“ nannten wir Ebola. „Wo ist Deborah?“, haben wir gelacht: „Habt ihr sie heute schon gesehen?“

Es wundert dich, dass wir uns keine Sorgen gemacht haben? Ja, es war aber so. Doch dann haben wir von den ersten Kranken hier in Monrovia gehört. Da bekamen manche schon Angst. Vielleicht ist ja doch etwas dran, sagten die Ersten. So richtig schlimm wurde es, als an einem Dienstag im August plötzlich die Soldaten kamen. Zuerst habe ich geglaubt, es ist wieder Bürgerkrieg, wie vor 20 Jahren. Auf einmal rannten Soldaten durch West Point, sie hatten Gewehre und brüllten herum. Wir hatten keine Ahnung, was eigentlich los war. Erst nach und nach fanden wir heraus, dass unser Slum abgeriegelt wurde, mit Stacheldraht an allen Eingängen. Es hieß, dass hier viele Leute an Ebola erkrankt sind und man verhindern muss, dass die Seuche auf andere Stadtteile überspringt.

Weißt du was? Ganz in der Nähe von West Point ist Mamba Point – dort leben die reichen Leute und die Ausländer, in Villen, Hotels und den Büros der Vereinten Nationen.
Nach West Point kommen sie nie. Du warst auch noch nie hier, oder? Hör zu, ich erzählte dir was. Die Häuser sind winzig, die Gassen so eng, dass gar keine Autos durchpassen. Früher war West Point ein Fischerdorf, hier haben nicht nur Fangboote aus Liberia angelegt, sondern auch aus Ghana, Sierra Leone und der Elfenbeinküste.
Aber seit ein paar Jahren fangen sie nichts mehr, wegen der großen Fischkutter aus dem Ausland. Die Leute haben jetzt andere Berufe. Mein Mann Abdullah zum Beispiel ist Schneider. Seine Familie kommt ursprünglich aus Guinea.

Hier sind eigentlich alle mit der Regierung unzufrieden. Als Ellen Johnson Sirleaf vor acht Jahren als erste Präsidentin Afrikas an die Macht gekommen ist, hat sie viel versprochen, und wir haben gehofft, dass alles besser wird. Sie hatte doch so gute Beziehungen im Ausland, da mussten doch Geld und Wohlstand hereinkommen. Und was ist geschehen? Nichts.

Die Leute halten sie für genauso korrupt wie ihre Vorgänger: Ihren Verwandten verschafft sie gute Jobs, die anderen können sehen, wo sie bleiben. Die Jungen halten viel mehr von George Weah, dem Fußballer. Er hat bei den Wahlen knapp verloren. In West Point hätte er haushoch gewonnen. Die Regierung weiß das und hält unseren Slum jetzt für eine Hochburg der Opposition. Sie hassen uns deswegen.

Die Abriegelung von West Point hat die Leute rasend gemacht. Wir bekamen Angst, dass wir ausgehungert werden sollten: Viele deckten sich mit Lebensmitteln ein – für Reis und Hühnerfüße, die aus Europa importiert werden, mussten wir plötzlich fast den doppelten Preis bezahlen. Mein Mann konnte auch nicht mehr zur Arbeit gehen, weil sein Geschäft außerhalb liegt: So hatten wir plötzlich auch kein Einkommen mehr. Am Mittwoch, dem 20. August, gingen die Leute auf die Straße. Ich sperrte meine Kinder, den 15-jährigen Mousa und die neunjährige Mayalla, zu Hause ein: Wir wussten, dass es Ärger geben würde.

Schon morgens zogen über unsere Häuser Wolken von Tränengas, ab und zu hörten wir auch Schüsse. Aber wirklich gekracht hat es zum Glück nicht in unserer Ecke von West Point, sondern am anderen Ende. Dort schoss ein Soldat einem 15-jährigen Jungen ins Bein. Der arme Bub musste stundenlang auf eine Rettung warten. Als er endlich ins Krankenhaus gebracht wurde, war es zu spät, er war verblutet. Die Präsidentin sah wohl schließlich ein, dass die Abriegelung von West Point zu einem Aufstand führen würde: Zehn Tage später hob sie die „Quarantäne“ wieder auf.
Immer noch glauben hier viele, dass es Ebola in Wahrheit gar nicht gibt. Ich bin inzwischen allerdings anderer Meinung. Kürzlich habe ich von einer Frau erfahren, die früher in der Nachbarschaft gelebt hat. Sie hat fünf Verwandte verloren: die Großmutter, ihre Tochter und ihren Sohn, seine Frau und deren zweijähriges Baby. Die verbliebenen sechs Familienmitglieder leben immer noch in einem Haus zusammen: Man kann sich vorstellen, was passieren wird.

Ich habe mich entschlossen, etwas dafür zu tun, dass die Leute mehr über die Seuche wissen und ihre Ausbreitung gestoppt wird. Seit ein paar Tagen gehe ich mit einigen Freunden von Haus zu Haus, um mit den Leuten über die Epidemie zu reden, und was man dagegen tun kann. Mir glauben sie mehr als den Regierungsvertretern, die in hochtrabendem Englisch, das keiner versteht, die Bevölkerung belehren. Ich rede wie sie, sie vertrauen mir. Der Gesundheitsminister hat uns für unsere Arbeit etwas Geld versprochen. Doch bisher haben wir davon nichts gesehen.

Sollte jemand weiterhin behaupten, dass es Ebola nicht gibt und er niemanden kennt, der an der Krankheit gestorben ist, kann ich ihn hier zu einem Haus gleich um die Ecke führen. Dort sind in den vergangenen zwei Wochen fünf Leute gestorben. Noch immer leben 13 Menschen in dem Haus, darunter die Großmutter, die anscheinend auch schon infiziert ist. 55 Jahre ist sie alt. Wir haben versucht, für sie einen Platz in einer der drei Isolierstationen Monrovias zu bekommen, damit sie nicht auch noch den Rest der Familie ansteckt. Aber diese Kliniken sind alle überfüllt und nehmen keinen mehr auf. Was hilft es, wenn die Leute wissen, dass das Virus real ist, wenn sie aber gleichzeitig ihre Kranken nirgendwo hinbringen können und schließlich von denen angesteckt werden? Das ist noch grausamer, als die Seuche einfach zu leugnen.

Wir haben unsere Gewohnheiten in den vergangenen Wochen komplett verändert. Wir geben einander nicht mehr die Hand und versuchen, einander auch sonst nicht zu berühren. Aber das ist hier im Gedränge mit all den vielen Leuten gar nicht so einfach. Selbst wenn mein Sohn an Ebola sterben würde, ich würde ihn nicht anfassen. Meinen Kindern habe ich auch eingebläut, dass sie einander beim Spielen nicht angreifen sollen. Aber die vergessen das natürlich dauernd, also achte ich darauf, dass sie sich wenigstens danach die Hände waschen. Zum Spaß binden sich die Kinder manchmal Plastiktüten um die Hände, nachdem sie im Fernsehen die Leute mit ihren Schutzanzügen gesehen haben.

Seit die Epidemie hier um sich greift, sind alle Schulen geschlossen. Die Kinder sind deshalb den ganzen Tag zu Hause und langweilen sich zu Tode. Nachmittags hilft mir meine Tochter manchmal beim Kochen. Da sitzen alle Frauen aus der Nachbarschaft in der gemeinsamen Küche – das ist der Unterstand mit dem Wellblechdach da draußen. Auf dem Boden brennen vier oder fünf Feuer, und jeder macht sein eigenes Essen – meistens Reis mit Paprika und manchmal ein paar Hühnerfüße dazu. Nur zu besonderen Anlässen gibt es mal Rindfleisch. Ich esse zusammen mit den Frauen, die Kinder essen für sich, und mein Mann isst, wenn er um sechs oder sieben Uhr nach Hause kommt.

Seit das Virus hier herrscht, verdient Abdullah kaum noch Geld. Niemand will mehr Geld für neue Kleider ausgeben. Ich selber war auch mal Geschäftsfrau, habe Kleider in Mali gekauft und hier auf dem Markt wieder verkauft. Aber ich war wohl nicht ehrgeizig genug, jedenfalls lief das Geschäft nicht gut. Am liebsten würde ich nochmals zur Schule gehen, die Matura nachmachen und Buchhalterin werden. Dann könnten wir uns ein eigenes Haus mit Toilette irgendwo außerhalb des Slums kaufen. Zur Zeit mieten wir unser Zweizimmerhaus für 20 US-Dollar im Monat und gehen – wie alle anderen auch – in die Lagune, wenn wir auf die Toilette müssen. Hier in West Point gibt es keine Klosetts. Gesund ist das sicherlich nicht.

Zur Zeit liege ich nachts oft schlaflos im Bett und habe Angst: Vor dem Virus, den steigenden Preisen, dass es zu Aufständen kommen könnte. Schon seit Monaten gehen wir abends nicht mehr aus dem Haus. Sobald es dunkel wird, ziehen wir uns in unser Zimmer zurück und schauen fern. Meine größte Sorge ist, dass jemand von uns krank werden könnte – ob an Ebola oder irgendeiner anderen Krankheit. Denn die einzige Klinik in West Point ist seit Wochen geschlossen: Die Krankenschwestern, die sich vor einer Ebola-Ansteckung fürchteten und trotzdem keine Schutzkleidung bekamen, sind eines Tages einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen. Jetzt sind wir im Ernstfall auf uns selbst gestellt. Wenn wir nicht an Ebola sterben, dann sterben wir an etwas anderem.

Teil I der Serie: Ich lebe in Simferopol auf der Krim

Teil II der Serie: Ich lebe in Uganda und bin schwul

Teil III der Serie: Ich lebe in der von der Terrormiliz IS kontrollierten syrischen Stadt Raqqah