Flüchtlinge in Ungarn: Sind unsere Nachbarn wirklich so böse?
Zwei Stationen dauert es, bis der resoluten älteren Dame im roten Wollpullover endgültig der Kragen platzt. Vor wenigen Minuten erst hat die U-Bahn der Linie 4 die Endstation Keleti verlassen. Es ist der größte der drei Bahnhöfe in Budapest und seit Kurzem auch der international bekannteste. Die ganze Welt blickt seit zwei Wochen nach Ungarn: auf den Keleti-Bahnhof unweit des Zentrums der Hauptstadt, wo Vertriebene aus Diktaturen und Kriegsgebieten auf ihre Weiterreise warten; auf die Flüchtlinge, die sich lieber zu Fuß nach Österreich aufmachen, als zwischen Müll und Matratzen ausharren zu müssen; auf die Grenze nach Serbien, zu den improvisierten Auffanglagern, von denen Flüchtlinge sagen, sie würden dort wie Tiere behandelt.
Es ist ein Aufkleber, der die Ungarin mit dem roten Wollpullover und dem festgezurrten Dutt am Kopf vor Wut fast platzen lässt. Der Sticker klebt über der Sitzreihe ihr gegenüber. Er zeigt das Foto von Ministerpräsident Viktor Orbán auf orangem Hintergrund, daneben steht auf Englisch und Ungarisch „Schande“; außerdem wird zu einer Demonstration gegen die ungarische Regierung und ihre harte Linie in der Flüchtlingspolitik aufgerufen.
„Im Westen hat doch keiner eine Ahnung, was hier los ist!“, schimpft die Frau, während sie den Aufkleber energisch von der Wand kratzt. Sie reibt weiter und grantelt vor sich hin: auf die Politiker in Westeuropa, die vom Leben der Menschen im Osten keine Ahnung hätten, und auf die Menschen hier, die den Politikern und ihrem Unsinn auch noch Recht geben würden. Als sie wutschnaubend aussteigt, ist vom orangen Aufkleber nicht mehr viel übriggeblieben.
Fast 900 Kilometer trennen Budapest und Berlin, aber derzeit sind es Welten, die zwischen Ungarn und Deutschland liegen. Deutschland, das ist der Sehnsuchtsort, der die Flüchtlinge herzlich willkommen heißt. Ungarn, das sind prügelnde Polizisten, ein Bischof, der vor einer „muslimischen Invasion“ warnt, eine Fernsehreporterin, die einem flüchtenden Mann mit einem Kind in den Armen das Bein stellt.
Ungarn gibt derzeit das Schmuddelkind der Berichterstattung ab. Dabei ist das Land beileibe nicht das einzige, in dem Flüchtlinge schlecht behandelt oder unerwünscht sind. Wie böse sind die Ungarn? Eine Annäherung in fünf Bildern.
*
Die Müllberge und der Gestank sind zwar weg, aus den mobilen Toiletten fließt kein Kot und kein Urin mehr. Doch noch immer gleicht die Unterführung des Keleti-Bahnhofs einem Bettenlager. Ein paar Menschen ruhen sich auf Isomatten und Matratzen aus, die meisten aber schlafen in Zelten. Kinder jagen zwischen den Säulen umher, andere setzen sich zu der Frau, die Papier und Stifte gebracht hat. Junge Menschen sortieren Kleiderhaufen, neben ihnen suchen zwei Jugendliche in einem Zelt voller Schuhe nach zusammengehörenden Paaren.
Vom Staat fehlt hier jede Spur.
Am Keleti herrscht ein geschäftiges Treiben, das unwürdige Chaos aber ist immerhin vorbei. Die Polizisten sind weg, die Regierung schickt nicht einmal mehr Beobachter. Die NGO „Migration Aid“ ist seit Wochen hier, inzwischen hat sie so eine Art Infrastruktur vor Ort aufgebaut. Immer wieder kommen Menschen und reichen den Mitarbeitern Matratzen, Wasser, Lebensmittel, erkundigen sich, wo sie für Zugtickets spenden können. Die NGO hier zählt 15, 20 Mitarbeiter, hinzu kommen an die 60, 70 Freiwillige, schätzt die ungarische Mitarbeiterin Bernadette Metzger. Und sie sind bei Weitem nicht die einzigen.
Es sind vor allem junge Ungarn wie sie, die helfen und außerdem beweisen wollen, dass der hartherzige Premierminister Orbán nicht für alle Ungarn spricht. Eine ohnehin schwach ausgeprägte Zivilgesellschaft hilft mit spärlichen Mitteln aus und versucht so, die Abwesenheit der Offizialität abzufangen. „Vom Staat fehlt hier jede Spur“, sagt Bernadette Metzger.
An den Wänden der Unterführung stehen Grußworte in bunten Farben geschrieben, an einer Seite hat jemand eine Deutschlandfahne gezeichnet. In einer Ecke wurde eine Lade- und Internetstation aufgebaut. Männer sitzen eng beieinander, stecken ihre Telefone an und googeln die Orte der Weiterreise, die sie später in der Bahnhofshalle an den Schildern der Zugtüren zu entziffern versuchen: Szombathely, Sopron, Györ und schließlich: Nickelsdorf, Wien, München.
*
Zoltán Kovács ist dieser Tage ein gefragter Mann. Er ist Sprecher der konservativen ungarischen Regierung, vor seiner Tür warten Trauben von Journalisten auf Stellungnahmen. Über dem Eingang zum Regierungsgebäude wehen die ungarische und die europäische Fahne, nur wenige Meter weiter fließt die Donau vorbei. Kovács eilt von einem Meeting zum nächsten, das Handy stets am Ohr. „Verrückte Zeiten“, sagt eine Mitarbeiterin und tippt in ihr Handy.
Wir registrieren an der Grenze, weil das die Regeln der EU sind.
Kovács ist ein großgewachsener Mann, er wirkt selbstsicher und wie jemand, den so schnell nichts aus der Fassung bringen kann. Der Jurist kontert oft mit dem Verweis auf Gesetze und Abkommen. Seit Wochen ist er damit beschäftigt, in geschliffenem Englisch den Kurs der ungarischen Regierung zu verteidigen, die vorgibt, schlichtweg geltendes EU-Recht einzuhalten, in der Praxis aber einen Zick-Zack-Kurs fährt und völlig überfordert agiert.
„Wir registrieren an der Grenze, weil das die Regeln der EU sind“, sagt er: „Nur weigern sich die Menschen dort mit Händen und Füßen, weil sie sofort nach Österreich und Deutschland weiterziehen wollen. Wenn wir sie nicht aufhalten, werden wir dafür gescholten. Wenn wir sie aufhalten, schreiben ausländische Medien, dass in Ungarn Flüchtlinge um ihr Leben rennen müssen.“ Ungarn teilt sich dasselbe Problem mit Italien oder Spanien. Wo die Außengrenzen des EU-Schengenraums verlaufen, ist der Druck besonders hoch. Spanien hat in seiner nordafrikanischen Exklave Ceuta bereits vor Jahren einen Zaun hochgezogen, Italien beschwert sich seit den 1990er-Jahren darüber, mit der hohen Zahl an Flüchtlingen alleingelassen zu werden. Das Dublin-System, wonach Asylsuchende ihren Antrag in jenem Land des Schengenraums stellen müssen, das sie zuerst betreten haben, war immer schon ein gefährlicher Pfusch, nun ist es gänzlich zusammengebrochen.
Gerade weil Ungarn sich an die Regeln hält, legt das Land deren Untauglichkeit offen. „Welchen Sinn hat es, über Quoten zu reden, wenn die EU noch nicht einmal ihre Außengrenzen unter Kontrolle bringen kann?“, sagt Kovács.
Ungarn ist nicht Auslöser des Problems, das Vorgehen und die Rhetorik der Regierung aber verschärfen die Lage. Tausende Flüchtlinge stecken in Ungarn fest, die meisten wollen nicht bleiben – weil sie nach Deutschland und Skandinavien möchten, aber auch, weil sich herumgesprochen hat, dass in Ungarn die Flüchtlingslager katastrophal, die Polizisten brutal und die Chancen auf Asyl ausgesprochen schlecht sind.
*
Den nackten Zahlen nach zu schließen, hat Orbán sein Ziel erreicht: Ein Jahr lang gingen die Umfragewerte für seine rechtskonservative Fidesz („Ungarischer Bürgerbund“) beständig in eine Richtung: nach unten. In Scharen liefen seine Anhänger vor allem zur rechtsextremen Jobbik über. Seit ein paar Monaten zeichnet sich ein Umschwung ab: Auf bis zu 30 Prozent kommt Fidesz nun wieder. Gleichzeitig aber hat sich auch Jobbik, die bei den jüngsten EU-Wahlen im vergangenen Jahr zweitstärkste Partei wurde, auf 14 bis 16 Prozent eingependelt.
Es kommt bei den Ungarn jedoch allgemein gut an, wenn politische Anführer für Recht und Ordnung sorgen.
Seit Monaten verschärft Viktor Orbán seine Rhetorik gegen Flüchtlinge. Er hat das Thema Einwanderung und Asyl zur Chefsache erklärt, den Bau des Grenzzauns in Auftrag gegeben und mit fremdenfeindlichen Volksbefragungen und Plakaten die Stimmung in der Bevölkerung aufgeheizt. Er beharrt aus populistischen Gründen strikt auf EU-Regeln, just in dem Moment, in dem sie versagen – mit zweifelhaftem, doppeltem Erfolg: Erstens stellte das Umfrageinstitut Tárki kürzlich einen „Rekord an Fremdenfeindlichkeit“ fest. Noch nie hätten so viele Menschen – nämlich 46 Prozent – angegeben, dass Ungarn überhaupt keine Flüchtlinge ins Land einreisen lassen solle. Und zweitens gelang es Orbán, diverse Korruptionsskandale und die schlechte Wirtschaftslage vergessen zu machen.
„Im Gegensatz zu anderen populistischen Figuren ist Orbán jemand, der viele Dinge, die er großspurig ankündigt, auch durchzieht. Das kommt gut an“, sagt Péter Krekó, Direktor des Political Capital Institute in Budapest. „Das Thema Flüchtlinge war bisher für Wähler nicht unbedingt ein Motiv, warum sie zu Fidesz tendieren. Es kommt bei den Ungarn jedoch allgemein gut an, wenn politische Anführer für Recht und Ordnung sorgen. Deshalb hat Orbán bisher von der harten Linie gegen Flüchtlinge profitiert“, sagt der Krekó.
Nun drohe Orbán von dem Chaos eingeholt zu werden. „In Ungarn ist die Fremdenfeindlichkeit stark ausgeprägt – selbst unter den ohnehin im Vergleich zu Westeuropa xenophoberen Osteuropäern. Allerdings ist es einfach, gegen Flüchtlinge zu sein, wenn sie nur auf dem Papier existieren. Das ändert sich derzeit, die Stimmung kann sich also schnell verändern. Außerdem kann die Regierung nicht halten, was sie versprochen hat: keine Leute mehr hereinzulassen und die Grenzen zu verteidigen.“
*
Dass es seine Jobbik-Partei ist, die zusehends den Ton in der Debatte angibt, weiß auch Márton Gyöngyösi. Alles an seiner Körpersprache verrät das. Seit 2010 sitzt Gyöngyösi für Jobbik im Parlament. „Wir brauchen einen besseren Zaun“, sagt er, die Arme auf den grünen Couchsessel gelehnt. Sein Land, das solle „null“ Flüchtlinge aufnehmen, wenn es nach ihm ginge. „Schon die Integration der Roma hat hier nicht funktioniert. Wenn andere Länder sich dafür entscheiden, in Multikulti-Gesellschaften leben zu wollen, dann sollen sie nur. Nur uns soll bitte niemand dazu zwingen.“
Die „Bewegung für ein besseres Ungarn“, wie die Jobbik-Partei mit vollem Namen heißt, zählt neben dem französischen Front National und der österreichischen FPÖ zu den derzeit erfolgreichsten Rechts-außen-Parteien in Europa. Das liegt mitunter auch daran, dass sie seit geraumer Zeit ihre armen-, minderheiten- und fremdenfeindlichen Ideen in weniger aggressive Worte verpackt.
Es ist absurd, aber letztlich will Jobbik genau dasselbe wie die Flüchtlinge: dass sie weiterziehen, ohne in Ungarn registriert zu werden.
Márton Gyöngyösi, gebügeltes Hemd, adretter Haarschnitt und feine Wortwahl, ist das beste Beispiel für diese Kurskorrektur. Er hat viele Jahre im Ausland gelebt, neben fließendem Englisch spricht er deutsch, in der Bibliothek in seinem Büro steht ein russisches Wörterbuch. An der Wand hängen Kinderzeichnungen von Rittern und den Turtles. Bekannt ist Gyöngyösi unter anderem dafür, dass er die Anzahl der in Ungarn im Zweiten Weltkrieg ermordeten und deportierten Juden infrage gestellt hat.
Kürzlich versammelten sich erstmals Hunderte Anhänger der rechtsextremen Jobbik-Partei in dem Niemandsland an der Grenze zu Serbien. Sie kamen mit den grün-weiß-roten Fahnen der Partei und forderten den Regierungschef auf, die Armee an die Grenze zu schicken. Wasser solle man den Flüchtlingen geben, Essen auch, nur Fingerabdrücke solle die Polizei doch um Himmels willen keine nehmen. Es ist absurd, aber letztlich will Jobbik genau dasselbe wie die Flüchtlinge: dass sie weiterziehen, ohne in Ungarn registriert zu werden. Es dauerte keine zwei Wochen, ehe die Regierung in Budapest die Entsendung von 3800 Soldaten an die Grenze beschlossen hatte. Immer deutlicher zeigt sich derzeit, wie sehr die Fidesz-Konservativen nach rechts rücken, weil sie fürchten, dass ihre Anhänger zu den Rechtsradikalen tendieren.
*
Peter Juhász kommt gehetzt durch die Tür. Er schnauft, nimmt schnell noch einen Schluck Wasser, richtet sein Hemd zurecht, aber es dauert nicht lange, ehe er sich gesammelt hat. Früher war Juhász als Aktivist in diversen NGOs tätig, heute ist er Abgeordneter im Budapester Stadtrat und Vizechef der 2012 gegründeten linken Gruppierung „Együtt“, was auf Ungarisch „Gemeinsam“ heißt und für den Gründungsanspruch der Partei steht, die in Ungarn hoffnungslos zerstrittene Linke zu bündeln. Der Plan ging nicht auf, „Gemeinsam“ zog 2014 mit nur drei Abgeordneten ins Parlament ein.
Dass Juhász als einer der bekanntesten Köpfe der Opposition gilt, hängt mit einem früheren Erfolg zusammen: Im Oktober 2011 brachte er rund 70.000 Menschen auf die Straße – es war die größte zivile Demonstration in Ungarn seit der Wende. Bis heute wirft Juhász Premier Viktor Orbán vor, dass dieser seit seinem Amtsantritt im Mai 2010 die Demokratie Stück für Stück abgebaut habe. „Wir Ungarn haben zwar nach der Wende die Demokratie erhalten, aber wir wissen immer noch nicht, wie wir sie nützen sollen“, sagt er.
Für den 13. September hat Juhász die nächste Demonstration geplant, die ein Zeichen gegen Orbáns harte Flüchtlingspolitik setzen soll. „Wir wollen dem Ausland zeigen, dass sich viele Ungarn für die Politik ihres Regierungschefs schämen. Ich denke, dass derzeit leider ein Großteil der Bevölkerung die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnt. Ich bin mir allerdings sicher, dass es viel weniger wären, hätte die Regierung nicht schon seit Monaten gezielt gegen Flüchtlinge gehetzt.“
Im Netz wird Werbung für die Demonstration gemacht, auf Facebook mobilisieren die Organisatoren Menschen. Aber auch Aufkleber verteilen sie über die ganze Stadt – es sind jene orangen Sticker, auf denen neben dem Foto des ungarischen Premiers groß „Schande“ steht.
Einer wird kurz nach dem Gespräch von einer wutschnaubenden Ungarin von der U-Bahn-Wand gekratzt werden.