Flüchtlingskrise: Was soll die EU jetzt tun? Sechs Lösungsvorschläge
Wenn eine Mutter und ihre zwei kleinen Kinder beim Versuch, nach Griechenland zu gelangen, vor der türkischen Küste ertrinken; wenn 71 Syrer im Burgenland erstickt in einem Lastwagen aufgefunden werden; wenn eine Familie sich in Ungarn vor einem Zug auf die Geleise legt, um nicht in ein Flüchtlingslager gebracht zu werden; wenn das Erreichen der Grenzen Europas für Menschen, die dem Krieg entronnen sind, kein Aufatmen bedeutet, sondern die Fortsetzung eines gefährlichen Spießrutenlaufs; dann ist der Moment gekommen, einen Nachruf auf die Europäische Union, wie wir sie kannten, zu verfassen. Oder rasch dafür zu sorgen, dass sie das tut, was ihre Bestimmung ist – Menschenrechte zu garantieren.
Die EU, Trägerin des Friedensnobelpreises im Jahr 2012, verstößt derzeit gegen Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Denn es sind nicht banale Unfälle, bei denen Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa den Tod finden, die Lebensgefahr ist logische Konsequenz eines völlig ungeeigneten Systems, das die Staatengemeinschaft etabliert hat. Dieses System hat de facto nie funktioniert, seit jedoch die Flüchtlingszahlen wegen des Kriegs in Syrien stark angestiegen sind, ist es völlig kollabiert.
Es gibt keine Möglichkeit für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika, auf sichere Weise nach Europa zu gelangen. Selbst wenn sie es in die EU schaffen, herrschen zur Zeit völliges Chaos und Unklarheit, wer in welches Land darf, wer Chancen auf Asyl hat, wer abgeschoben wird und wer unter Menschen unwürdigen Bedingungen in einem Lager hausen muss.
Lesen Sie die Titelgeschichte von Anna Giulia Fink und Robert Treichler in der aktuellen Printausgabe oder als E-Paper (www.profil.at/epaper)!
ANMERKUNG DER REDAKTION
Aylan Kurdi, 2012–2015 Warum profil das Foto eines toten Kindes auf das Cover gibt.
Ein totes Kind liegt am Strand, die Wellen umspülen den Leichnam. Das Kind war drei Jahre alt. Es hat dunkle Haare und trägt ein rotes T-Shirt, eine kurze, blaue Hose und dunkelblaue Halbschuhe mit Klettverschlüssen. Der tote Bub heißt Aylan Kurdi. Er war gemeinsam mit seinem Vater Abdullah, seiner Mutter Rehan und seinem fünf Jahre alten Bruder Galip auf der Flucht. Die syrische Familie schaffte es 2012 über Damaskus, Aleppo und Kobane in die Türkei und wollte jetzt weiter nach Europa. Die vier bestiegen mit anderen Flüchtlingen an der türkischen Küste, nahe der Ferienstadt Bodrum, ein kleines Motorboot. Ihr Ziel: die griechische Insel Kos.
Das Boot kenterte. Nur der Vater überlebte.
Das Foto des angespülten Aylan wurde im Internet über soziale Netzwerke verbreitet und von vielen Medien veröffentlicht. Es löste weltweit Entsetzen aus. profil entschied, das Foto auf das Cover zu heben. Trotz Bedenken, denn das Foto eines toten Kindes zu publizieren, ist heikel.
Man könnte dahinter die Absicht vermuten, einen billigen Schockeffekt erzeugen zu wollen, um Aufmerksamkeit für das zu verkaufende Magazin zu erreichen. Dieser Verdacht ist unbegründet. Bilder, vor denen man instinktiv zurückschreckt, stellen bestimmt keinen zusätzlichen Kaufanreiz dar. Das zeigen unsere Erfahrungen.
profil zeigte auch nach dem Tsunami im Dezember 2004 Tote auf dem Cover. Damals war die Überlegung, dass nur ein solches Bild darstellen kann, was die Flutkatastrophe angerichtet hat: nicht etwa bloß enormen Sachschaden, sondern ein Massensterben.
Warum also das Foto von Aylan?
Weil es das Drama einfängt, das Europa in diesen Tagen als Wertegemeinschaft infrage stellt. Der Körper des Buben ist unversehrt, das Gesicht in den Sand gedrückt, die Haltung die eines schlafenden Kindes. Nichts kann anklagender sein. Wir wissen, warum Aylan sterben musste: aus denselben Gründen, weshalb vor ihm in den vergangenen 15 Jahren bereits geschätzt 23.000 Flüchtlinge beim Versuch, nach Europa zu gelangen, den Tod fanden oder als vermisst gelten. Weil es keinen sicheren Weg in die EU gibt.
Doch keine Zahl kann diesen Skandal so fasslich machen wie das Foto von Aylan.
Natürlich ist die Veröffentlichung eines so schockierenden Bildes einerseits mit der Befürchtung verbunden, es könnte bei Lesern eine Abwehrreaktion hervorrufen, andererseits mit der Hoffnung, es könnte im Gegenteil eine politische Reaktion bewirken – gegen diese Schande aufzutreten.
Ist letztere Annahme vermessen? Nein. Die Einstellung gegenüber Flüchtlingen ist sehr stark von Emotionen geprägt. Begriffe und Bilder spielen dabei eine große Rolle. Empfindet man den Schutz der Grenzen oder die Rettung der Flüchtlinge als vordringlich? Das Foto von Aylan macht die Priorität für die Menschen augenscheinlich.
Schließlich: Wird die Würde des toten Kindes verletzt?
profil meint: Nein. Denn das hängt stark vom Kontext ab. Zusammen mit dem Foto wird in den Medien auch die tragische Geschichte der Familie erzählt. Die Personen erfahren dadurch keine Abwertung, im Gegenteil. Der Vater hat der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) ein Interview gegeben, in dem er von der Flucht erzählt: Wie der Schlepper plötzlich wegen des hohen Wellengangs Angst bekam und ins Wasser sprang, um sich zu retten; wie der Vater dann selbst versuchte, das Boot zu steuern; wie er nach dem Kentern Frau und Kinder festhielt und schließlich feststellen musste, dass sie tot waren. Über seine Kinder sagte er gegenüber der BBC, dass sie „die schönsten Kinder der Welt“ gewesen seien, denn: „Gibt es irgendjemanden, für den das eigene Kind nicht das Wertvollste ist?“
Das Foto könnte dazu beitragen, dass in Europa ein Umdenken einsetzt, wie es sich in Ansätzen bereits abzeichnet. Der Impuls, dass ein Schicksal wie jenes von Aylan nicht wie bisher Normalität bleiben darf, kann politische Wirkung zeigen. Für die Familie Kurdi kommt das zu spät. Vater Abdullah hat den Plan, nach Europa zu gelangen, aufgegeben, wie er in dem AP-Interview sagt. Er ist in seine ursprüngliche Heimatstadt Kobane zurückgekehrt, um seine tote Frau und seine toten Kinder dort zu bestatten.
Robert Treichler