Flüchtlingslager Röszke: Von staatlicher Hilfe keine Spur
Um einen alten, dunkelblauen Klappbus der Marke Ikarus drängen sich hunderte Flüchtlinge. Männer, Frauen und Kinder – alle wollen in den Bus. Durch die hinterste Tür wird einer nach dem anderen auf den Bus gelassen. Ein großer, kräftiger und kahl geschorener Polizist steht in der Tür. Er handelt strikt aber fair. Nach wenigen Minuten voller Gedrängel und panischem Geschrei ist der Bus endlich gefüllt. Der Polizist deutet dem Busfahrer - er kann fahren. Plötzlich beginnt eine Frau zu schreien. Sie steht hinter dem Polizisten, bereits im Bus. Sie deutet in die Menge, ruft ein unverständliches Wort immer und immer wieder. Ihr Kind ist noch in der Menge.
Der Polizist reißt die Tür auf, stemmt sich dagegen und versucht, das Kind in der Menge zu erblicken. Die Türen des längst ausrangierten Busmodelles haben keinen Schutzmechanismus. Sie versuchen weiterhin zu schließen und schlagen im Sekundentakt auf den Polizisten ein. Der Beamte beginnt zu schimpfen, schreit zu dem Busfahrer, er solle die verdammte Tür endlich aufmachen. Seine Stimme geht in der schreienden Menge völlig unter. Plötzlich verschwindet der Polizist in der Menschenmasse, die Tür schließt. Einige Männer im Bus springen zum Fenster und versuchen mit aller Kraft die alten, verklebten Fenster im Bus zu öffnen. Nach mehreren Versuchen ist das Fenster endlich offen. Ein kleines Mädchen wird aus der Menge gehoben. Die schreiende, weinende Mutter lehnt sich aus dem Fenster und nimmt das Kind entgegen. Der Bus fährt ab.
Für tausende aus dem Süden kommende Flüchtlinge ist das die letzte Möglichkeit, aus Serbien nach Ungarn zu gelangen.
Am Rande von Röszke, einem kleinen ungarischen Bauerndorf, befindet sich die letzte offene Stelle der grünen Grenze zwischen Serbien und Ungarn. Hier führen Bahngleise aus dem serbischen Horgos nach Ungarn. Für tausende aus dem Süden kommende Flüchtlinge ist das die letzte Möglichkeit, aus Serbien nach Ungarn zu gelangen. Entlang dem restlichen - etwa 150 Kilometer langen - Grenzverlauf hat die Regierung in den vergangenen Wochen bereits einen meterhohen Maschendrahtzaun aufziehen lassen.
Die Landschaft rund um Röszke könnte unauffälliger nicht sein. Felder und Acker, dazwischen Landstraßen und Feldwege. Seit einigen Tagen werden diese Wege aber von internationalen Übertragungswägen, LKWs und Bussen zugestellt. Freiwillige haben entlang der Bahngleise eine sporadische Versorgungsstation für durchreisende Flüchtlinge errichtet. Anfäglich bauten sie nur ein paar Pavillons zur Lagerung der Spenden und kleine Campingzelte auf, um den Ankömmlingen einen Schlafplatz zu bieten. Im Laufe der vergangenen Tage sind jedoch hunderte kleine Zelte dazugekommen. Nach der großen medialen Aufmerksamkeit sind auch internationale Organisationen dazugestoßen, die ebenfalls ihre Zelte aufgeschlagen haben. Von einer richtigen Struktur ist das Lager Freitagmittag aber noch weit entfernt. Immer wieder versuchen kleine Gruppen, eine Struktur in das provisorische Camp zu bekommen, sind mit den Menschen- und Spendenmengen jedoch völlig überfordert. „Es gibt niemanden, der all dies koordinieren könnte“, erklärt eine Mitarbeiterin der ungarischen Caritas. Bereits seit 14 Tagen ist ihre Organisation vor Ort.
Sobald sie die Soldaten an der Grenze erblicken, wird ihr Gang etwas zögerlicher.
Von staatlichen Organisationen fehlt jede Spur. Wenige Kilometer entfernt gibt es zwar zwei Aufnahmezentren, die Versorgungsstation wird von der ungarischen Regierung aber völlig vernachlässigt. Täglich kommen Tausende neue Sachspenden, die freiwilligen sind aber nicht in der Lage, sich um die Organisation zu kümmern. Folglich sind alle paar Meter riesige Müllhaufen entstanden. Dort häufen sich Unmengen an Gewand, Schlafsäcken und Lebensmittelresten. Während die Koordination am Westbahnhof innerhalb eines Tages offiziell an die Caritas übergeben und in Nickelsdorf vom Roten Kreuz ein hochprofessionelles Auffanglager errichtet wurde, schert sich in Ungarn niemand um diesen Ort. Aus ganz Europa werden Spenden geliefert, es kommen ganze LKW-Ladungen mit neuwertigen, teils originalverpackten Sachspenden. Es gibt allerdings kaum Platz, all diese Dinge zu lagern. Viele Spenden wurden einfach ausgeladen und im Schlamm stehengelassen. „Ich wollte eigentlich nur den LKW ausladen und anschließend wieder heimfahren“, erklärt der LKW-Fahrer eines burgenländischen Unternehmens. „Aber ich habe nicht gedacht, dass die Zustände hier so katastrophal sind.“
Spätestens am Dienstag soll die Grenze endgültig dicht gemacht werden. Zeitgleich wird in Ungarn auch ein neues Gesetz in Kraft treten. Ab diesem Zeitpunkt droht jedem Flüchtling, der illegal über die Grenze geht, eine Haftstrafe von drei Jahren. Deshalb versuchen viele, noch vor Dienstag nach Ungarn zu gelangen. Die UNHCR erwartete von Samstag bis Dienstag täglich etwa 20.000 neue Flüchtlinge in Röszke. Ein Großteil der Menschen kommt aus Syrien, einige aus dem Irak oder Afghanistan. Selbst Pakistaner und Marokkaner sind unter den Flüchtlingen. In Serbien wurden sie in die Nähe der Grenze gebracht, entlang der Schienen legen sie die letzten Kilometer bis nach Ungarn zu Fuß zurück. Sobald sie die Soldaten an der Grenze erblicken, wird ihr Gang etwas zögerlicher. Erst sobald sie sicher sind, dass die Soldaten nicht eingreifen, betreten sie den ungarischen Boden.
Die Menschen befürchten, von den Soldaten festgehalten und zur Registrierung gezwungen zu werden. Vor dieser haben sie panische Angst. Von der Grenze zur Versorgungsstation sind es nur ein paar hundert Meter, viele trauen sich aber nicht dorthin zu gehen. „Stamps? Do we have to do Stamps?“ Mit ihrem Daumen drücken sie kraftvoll auf ihre Handflächen. Fast jede ankommende Flüchtlingsgruppe will wissen, ob sie Fingerabdrücke abgeben müssen. „Hier nicht. Hier könnt ihr rasten, essen und schlafen“, antworten die Helfer. Die Menschen erblicken die Busse und wollen wissen, wohin sie gebracht werden. Doch niemand weiß wirklich, was mit ihnen passieren wird, sobald sich die Bustür hinter ihnen schließt. Selbst die Polizisten können darüber keine Auskunft geben: „Sie werden in Lager gebracht. Mehr weiß ich auch nicht. Ich weiß nicht wohin und ich weiß nicht was dort mit ihnen passiert. Ich bin selber erst seit wenigen Stunden hier“, erklärt ein Polizist, während er versucht, Menschen von den Bustüren fernzuhalten. Die Polizisten versuchen, nett zu sein. Sie arbeiten in 30-Stunden-Schichten, haben dazwischen nur wenig Zeit, sich auszuruhen. Zum Essen haben sie nur das, was sie selbst mitgebracht haben. Mittlerweile versorgen Freiwillige auch die Polizisten mit Speisen und Getränken.
Nach zwei Wochen harter Arbeit bekommt das Lager erstmals eine richtige Struktur.
Am Samstagvormittag treffen die ersten Mitarbeiter der UNHCR ein. Sie nehmen die Ankömmlinge am Grenzübergang in Empfang und versuchen, sie über ihre rechtliche Lage aufzuklären. „Ihr müsst in die Busse steigen und euch bei der Polizei registrieren. Sonst seid ihr illegal in diesem Land.“ Dies ist nicht die Antwort, die die Flüchtlinge hören wollen. Beunruhigt ziehen sie weiter. „Mehr darf ich ihnen leider nicht sagen“, erklärt der UNHCR-Mitarbeiter. Die Angst komme von dem Gerücht, dass mit der Registrierung gleichzeitig Asyl beantragt werden müsse. Die meisten wollen jedoch nach Deutschland oder Skandinavien weiterziehen. Berichten zufolge werden die Flüchtlinge zuerst in Lager zur Registrierung gebracht und dürfen anschließend weiterziehen. Doch niemand traut sich dies den Flüchtlingen zu sagen – zu groß wäre das schlechte Gewissen, wenn sie dann doch in einem Lager bleiben müssen.
Am Samstagnachmittag treffen endlich Großzelte der UNHCR ein. Gemeinsam zeichnen die Hilfsorganisationen einen Lageplan und teilen das Areal in verschiedene Bereiche auf. Nach zwei Wochen harter Arbeit bekommt das Lager erstmals eine richtige Struktur. Am Sonntagmorgen kommen die Flüchtlinge bereits in einer durchgehenden Kolonne über die Gleise marschiert. Bis zu 1000 Menschen könnten Röszke nun stündlich erreichen. Bis zur Schließung der Grenzen sind es ab diesem Zeitpunkt sind es noch 48 Stunden.