Ich lebe in Simferopol auf der Krim

Serie. Tagebuch aus Simferopol, Krim

Drucken

Schriftgröße

Als Alim Khalil am Morgen des 27. Februar 2014 in seiner Heimatstadt Simferopol auf der Krim aufwachte, war auf den Straßen eine Invasion im Gang: Russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen hatten die Regierungs- und Amtsgebäude sowie Kasernen auf der ukrainischen Halbinsel umstellt. Es war – wenige Tage nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch infolge der „Euromaidan“-Proteste – der Beginn von verdeckten Militäroperationen, die erst zur Annexion der Krim durch ein fragwürdiges Referendum und danach zum Krieg in der Ostukraine führten.

Khalil trifft die Machtübernahme durch Russland besonders hart. Er ist Krim-Tatare und damit Angehöriger einer muslimischen Minderheit, der zu Sowjet-Zeiten besonders übel mitgespielt wurde. Bereits in den 1930er-Jahren fielen rund 150.000 der damals 300.000 Menschen zählenden Ethnie dem stalinistischen Terror zum Opfer. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Überlebenden nach Zentralasien deportiert. In ihre Heimat durften sie erst ab 1988 zurückkehren.

Die Kampfhandlungen im Osten der Ukraine und das Verwirrspiel der russischen Regierung haben die Ereignisse und Entwicklungen auf der Krim völlig in Vergessenheit geraten lassen. Um sie zu dokumentieren, hat Alim Khalil in den vergangenen Monaten für profil Tagebuch in Simferopol geführt.

Seine Schilderungen sind der Auftakt zu einer Serie: Redakteure und Mitarbeiter von profil haben ganz persönliche Berichte von Menschen aus aller Welt gesammelt, die derzeit besonders schwer unter Kriegen, Krisen und Repressionen leiden.

In den nächsten Wochen kommen dabei etwa Bewohner einer Stadt in Syrien zu Wort, in dem der Islamische Staat (IS) die Macht übernommen und die Scharia eingeführt hat; schwule Afrikaner schildern ihr Leben unter der homophoben Pogromstimmung in Uganda. Um sie nicht zu gefährden, hat profil sowohl ihre Namen als auch Details geändert, die Rückschlüsse auf ihre Identität zulassen würden. Martin Staudinger

Lage der Halbinsel Krim

„Man nimmt mir die Luft zum Atmen“

Von Alim Khalil

Samstag, 15. März
Morgen werden sie mir die Heimat wegnehmen: Es wird darüber abgestimmt, ob sich die Krim von der Ukraine abspaltet und an Russland anschließt. Die Kasernen unserer Armee sind von unbekannten Soldaten umstellt. Wir nennen sie die „kleinen grünen Männchen“, und es gibt keinen Zweifel, dass es russische Truppen sind, obwohl Präsident Wladimir Putin das leugnet. Die Atmosphäre ist gespannt. Die Ukrainer und die Tataren machen sich Sorgen, in welchem Land sie nach dem Referendum aufwachen werden. Was ist mit den Kindern, mit der Schule, mit der Wirtschaft, mit den Löhnen? Die Russen sind bester Laune, für sie ist morgen so etwas wie ein Feiertag.

Sonntag, 16. März
Heute ist es sehr ruhig. Ich bin zu einigen Wahllokalen gegangen, um zu sehen, wie es dort zugeht. Es herrschte Volksfeststimmung: Kleine Stände wurden aufgebaut, es gab Gratisessen und Freigetränke, Musik aus Sowjetzeiten wurde gespielt, die Leute tanzten und feierten, schon bevor das Ergebnis bekanntgegeben wurde – es war dann klarerweise ein Ja zur Abspaltung. Einige ukrainische Journalisten wurden verprügelt, Akkreditierungen zur Berichterstattung gab es fast nur für russische Reporter. Im Fernsehen erzählte ein österreichischer Politiker namens Johann Gudenus (FPÖ-Abgeordneter, der als „Wahlbeobachter“ auf der Krim eingeladen war, Anm.) etwas vom Recht der Ukrainer auf Selbstbestimmung und davon, dass das Referendum toll organisiert sei und europäischen Standards entspreche. Meine Freunde waren entsetzt. Meine Frau macht sich große Sorgen. Ich versuche, sie zu beruhigen: Mach dich nicht verrückt, sage ich zu ihr.

Dienstag, 18. März
Zum ersten Mal zeigen sich unmittelbare Auswirkungen der Abspaltung: In den Supermärkten sind manche Waren nicht mehr erhältlich, es gibt Engpässe bei Konserven, Zucker und Mehl. Das liegt nicht nur daran, dass die Leute Notvorräte anlegen – offenbar lassen die Behörden nicht mehr alle Lastwägen aus der Ukraine durch, von wo 70 Prozent der Waren auf der Krim kommen. Ukrainisches Bargeld ist ebenfalls knapp, die Bankomaten geben nichts mehr aus.

Samstag, 22. März
Gestern habe ich die Krim zum ersten Mal seit der Intervention verlassen, um nach Kiew zu fahren. Was für ein seltsames Gefühl: Am Grenzbahnhof hielt der Zug, eine russlandtreue Miliz ist ins Abteil gekommen und hat meine Dokumente verlangt. Es war komplett surreal: In meinem eigenen Land muss ich meinen Pass vorzeigen, um nach Kiew fahren zu können – das kann doch nicht wahr sein! Meinen Mitreisenden ist es genauso ergangen. Wir waren zornig und traurig, erst recht, als wir dann gleich noch einmal kontrolliert wurden – diesmal von der ukrainischen Polizei.

Dienstag, 25. März
Was mache ich mit meinem Pass? Es heißt hier, dass wir binnen sechs Monaten alle einen russischen Pass nehmen müssen, um geschützt zu sein – wenn nicht, werde ich als Ausländer betrachtet und riskiere, mein Eigentum, meinen Grund und meine politischen Rechte zu verlieren. Und für mich ist es auch ein Identitätsproblem: Ich hasse dieses russische Dokument und kann mir nicht vorstellen, dass ich es akzeptiere. Aber vielleicht muss ich.

Sonntag, 30. März
Ich bin mit dem Zug auf die Krim zurückgefahren. An der Grenze musste ich mich wieder zwei Mal kontrollieren lassen. Inzwischen sind alle ukrainischen Militärstützpunkte von Russen besetzt, 400 unserer Soldaten haben die Halbinsel bereits verlassen. 3000 weitere wollen nicht in die Ukraine, weil sie hier Häuser oder Wohnungen haben. Einige von ihnen sind bereits zu den Russen gewechselt, die gute Bezahlung versprechen. Gleichzeitig droht ihnen die Regierung in Kiew mit Strafverfolgung wegen Desertation. Meine Frau macht sich große Sorgen um ihre Zukunft: Sie ist Juristin und hat ukrainisches Recht studiert: Jetzt gelten hier aber plötzlich die Gesetze und Bestimmungen Russlands.

Donnerstag, 3. April
Die „grünen Männchen“ sind in den Norden der Krim abgezogen und bereiten dort etwas vor, aber man weiß nicht, was. Inzwischen ändert sich hier alles sehr schnell. Die Uhren wurden bereits auf Moskauer Zeit umgestellt, die Pensionen werden in Rubel ausbezahlt. Wer Ukrainer ist und bleiben will, muss sich binnen drei Monaten registrieren lassen, wer keinen Wohnsitz hat, binnen einem Monat ausreisen. Die Ukraine wiederum hat ein Gesetz erlassen, das die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung von okkupierten Territorien unter bis zu 15 Jahre Haftstrafe stellt.

Sonntag, 6. April
Ich denke, das Beste ist, ich behalte meinen ukrainischen Pass und nehme auch einen russischen, damit ich zumindest weiter arbeiten kann. Aber ich bin zornig und frustriert, weil mich Russland in eine Lage bringt, in der ich nicht sein will. Das ist keine Demokratie, das ist ein autoritäres Regime.

Dienstag, 8. April
Die Versorgungsprobleme werden immer schlimmer. Die Russen sind mit Geldtransportern gekommen, um die Löhne in Cash auszuzahlen. Vor allem die alten Leute sind sauer: Ihnen wurden höhere Pensionen versprochen. Jetzt müssen sie in den Geschäften die Rubel, in denen sie ihre Rente bekommen, in Hrywnja zurückwechseln, weil noch nicht genügend russisches Bargeld in Umlauf ist. Das bedeutet immense Verluste: Wenn jemand früher 1000 Hrywnja Pension hatte, bleiben ihm jetzt nur mehr um die 700. Im öffentlichen Dienst ist es ähnlich: Auch die Beamten sind verärgert. Alle sind echt sauer. Vor den Banken stehen die Leute Schlange und versuchen, ihr Geld abzuheben. Die ukrainischen Institute schließen bereits, nur mehr zwei russische haben offen. Und die Preise steigen immer weiter: Ein Kilo Zucker kostet bereits zwölf Hrywnja, bis vor wenigen Tagen waren es acht.

Mittwoch, 16. April
Wir Tataren machen uns jetzt wirklich Sorgen: Als uns Ende der 1980er-Jahre erlaubt wurde, auf die Krim zurückzukehren (die muslimische Ethnie war unter Stalin nach Zentralasien zwangsübersiedelt worden, Anm.), wurde es zwar geduldet, dass wir Land besiedeln – wir durften es aber nicht offiziell erwerben. Wir haben also keinen rechtlich festgeschriebenen Anspruch auf unsere Grundstücke und Häuser. Die neue Regierung kann unseren Besitz daher einfach einziehen. Entsprechende Gerüchte gibt es bereits.

Freitag, 25. April
Ostern habe ich mit meinen christlichen Freunden verbracht: Wir pflegen hier die Tradition, bei religiösen Festen gemeinsam zu feiern. Aber abgesehen davon herrscht eine sehr angespannte Stimmung: Unser Anführer Mustafa Dschemilev darf nicht aus Kiew auf die Krim zurückkehren. Die neue Regierung hat ihn für fünf Jahre zur Persona non grata erklärt. Die Stimmung hier kippt gegen die Tataren: Von pro-russischen Leuten bekommen wir immer öfter zu hören, dass wir gefälligst nach Zentralasien zurückkehren sollen. Unsere politische Vertretung, die Medschlis, wird von der pro-russischen Regierung als extremistische Organisation bezeichnet, die zu verbieten sei. Der Geheimdienst schickt Spitzel in die Moscheen, um angebliche Islamisten ausfindig zu machen. Putin hat uns Rehabilitierung und Integration versprochen, seine lokalen Statthalter handeln aber anders. Jetzt haben die Tataren beschlossen, paramilitärisch organisierte, allerdings unbewaffnete Selbstverteidigungsgruppen aufzustellen.

Samstag, 3. Mai
Heute wurde neben mir geschossen – zwar nur in die Luft, trotzdem war es beängstigend. Unser Anführer Mustafa Dschemilev hat versucht, vom ukrainischen Festland in seine Heimat auf der Krim zurückzukehren. Wir haben mit 5000 Leuten eine Menschenkette am russischen Grenzposten gebildet, die Soldaten haben Verstärkung und Panzerfahrzeuge geholt. Dann sind Warnschüsse gefallen. Daraufhin hat Dschemilev den Einreiseversuch abgebrochen, um keine Menschenleben zu riskieren.

Dienstag, 6. Mai
Wieder einmal auf der Fahrt nach Kiew. Das Problem ist inzwischen, dass man als Krim-Bewohner nur mehr dann in die Ukraine einreisen darf, wenn man eine Arbeitsgenehmigung hat. Die Behörden fürchten, dass die Russen hier Terroristen ausbilden und dann auf das Festland schicken. In den Kasernen von Perewalne und Feodossija werden Kämpfer für die Ostukraine trainiert, heißt es hier.

Freitag, 9. Mai
Sie sind verrückt, sie wollen alles auslöschen, was die Krim mit der Ukraine verbindet: Fernseh- und Radiosender sind längst abgeschaltet, Denkmäler werden abgebaut und auf das Festland geschickt, ab September wird an den Schulen nur mehr auf Russisch unterrichtet. Und jetzt haben sie auch noch die ukrainische Fahne verboten: Wer sie aufhängt, bekommt Besuch von der Staatsanwaltschaft.

Dienstag, 13. Mai
Wir fühlen uns bedroht. Man vermittelt uns, dass die Russen gewonnen haben und wir eine Minderheit sind – Nachbarn reden darüber, manchmal versucht man, uns zu provozieren: Wo ist denn eure Ukraine, die euch angeblich beschützt? Vor einer Woche wurde ein Bub in der Hauptstadt Simferopol spitalreif geprügelt, weil er auf dem Rückweg von der Schule auf der Straße auf Tatarisch telefoniert hatte. In Siedlungen mit gemischter Bevölkerung heißt es: Uns gefällt euer Haus. Wenn ihr zurück in die Ukraine geht, sagt es uns früh genug. Wenn ihr es nicht verkauft, nehmen wir es uns einfach. Und es gibt neue Gesetze: Wer öffentlich dafür eintritt, dass die Krim Teil der Ukraine ist oder sein soll, kann als Separatist fünf Jahre Gefängnis bekommen. Wer die offizielle Geschichte Russlands im Zweiten Weltkrieg infrage stellt, riskiert zwei Jahre Haft.

Montag, 2. Juni
Seit gestern ist der Hrywnja keine lokale Währung mehr. Aber es gibt nicht genug Bargeld in Rubel, und wenn, dann nur in großen Banknoten. Das Wechselgeld fehlt, die Banken arbeiten nicht. Deshalb wickeln die Leute ihre Geschäfte immer noch in Hrywnja ab, in den Wechselstuben wird damit spekuliert, die Preise steigen immer mehr. Viele Medikamente fehlen. Ich bin gerade in Kiew und kaufe hier Medizin ein, um kranke Familienmitglieder und Freunde mit Herz- und Blutdruckpräparaten zu versorgen. Die Krise trifft auch die 2000 Drogenabhängigen, die in Behandlung sind: Die Methadon-Therapie ist in Russland verboten und wird jetzt auch auf der Krim eingestellt.

Mittwoch, 11. Juni
Es wird immer unangenehmer hier. In den vergangenen Tagen wurden Unterstützer der Euromaidan-Proteste vom (russischen Geheimdienst, Anm.) FSB verhaftet und nach Moskau gebracht. Festnahmen wegen Separatismus gab es sogar wegen Facebook-Einträgen, in denen über Putin und Russland geschimpft wurde. Auch zwei Journalisten wurden wegen Internet-Postings verprügelt und zwei Stunden lang von der Polizei verhört.

Montag, 7. Juli
Eigentlich sollte jetzt die Tourismussaison in vollem Gang sein, aber die Hotels, Sanatorien und Strände sind völlig leer. Die Ukrainer kommen nicht mehr, die Russen auch nicht – sie fahren lieber in die Türkei. In der Ostukraine wird immer heftiger gekämpft. Jetzt wurde auch ein spezielles ukrainisches Bataillon namens „Krim“ aufgestellt, das sich für Aktionen auf der Krim vorbereiten soll. Ich halte das für keine gute Idee, weil die Ukraine keine Chance hat, die Krim militärisch zurückzuerobern. Und es ist eine Provokation, die von den Russen als Vorwand für Verhaftungen herangezogen wurde – zum Beispiel nahmen sie Jugendliche in Koranschulen unter Terrorverdacht fest.

Mittwoch, 23. Juli
Schon wieder Verhaftungen. Diesmal traf es Tataren beim abendlichen Fastenbrechen im Ramadan, wegen unerlaubter Versammlung. Nach ein paar Stunden in Polizeigewahrsam wurden sie wieder freigelassen. Aber jetzt bekommen die Restaurants, in denen sie sich getroffen haben, Probleme mit der Finanz und anderen Behörden. Damit soll erreicht werden, dass die Tataren ihre Siedlungen nicht verlassen.

Freitag, 1. August
Jetzt soll ich als Ukrainer Kriegssteuer zahlen. Die meisten Leute sind dazu bereit, aber nur, wenn es tatsächlich für Verteidigungszwecke ist und nicht in korrupten Kanälen verschwindet.

Donnerstag, 14. August
Die Ukraine will die Krim von der Außenwelt abschneiden: Strom und Wasser kommen ja zum größten Teil vom Festland, Nahrungsmittel ebenfalls. Wenn es einen Boykott gibt, dann trifft er vor allem die Russen in den Städten. Wir Tataren leben vor allem in privaten Haushalten auf dem Land, halten Tiere und haben Brunnen – das macht es etwas leichter.

Donnerstag, 28. August
Derzeit gibt es in vielen Städten auf der Krim nur mehr vier Stunden Strom pro Tag. Die Grenzen sind dicht, viele Regale leer und alle unabhängigen Medien geschlossen. Es wird ein kalter Winter hier.

Mittwoch, 3. September
Ich habe lange mit meiner Frau diskutiert und überlegt, aber jetzt ist unsere Entscheidung gefallen: Wir werden von hier weggehen und nach Kiew übersiedeln. Ich fühle mich immer weniger hier zu Hause. Man nimmt uns die Luft zum Atmen. Die Krim war unsere Heimat, aber die Russen haben uns von hier vertrieben.