Ukraine-Flüchtlinge: Ein Lokalaugenschein auf beiden Seiten der Grenze

Der Krieg in der Ukraine hat mehr als 1,7 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht – innerhalb des Landes, aber auch im benachbarten Russland. Richtig willkommen sind sie nirgendwo. Ein Lokalaugenschein auf beiden Seiten der Grenze.

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Es hat lange gedauert, ehe Wladislaw das Streiten aufgegeben hat. Denn eigentlich geht der Wirtschaftsprofessor aus der umkämpften Donbass-Region im Osten der Ukraine keinen Diskussionen aus dem Weg– im Gegenteil: Lange Zeit, nachdem die Stimmung in seiner Heimat durch Krieg und Propaganda schon vergiftet war, suchte er noch den Dialog mit den glühenden Anhängern der Separatisten unter seinen Bekannten. „Was, bitteschön, hat uns die Donezker Volksrepublik denn gebracht?“, habe er sie stets gefragt, erzählt Wladislaw heute.

Inzwischen herrscht bereits seit Monaten Krieg zwischen der Regierungsarmee und den Separatisten im Osten des Landes. Trotz eines neuerlich ausgehandelten Waffenstillstandes bleibt die Lage instabil. Nachdem auch Wladislaw die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts aufgegeben hatte, packte er im vergangenen Herbst seine wichtigsten Habseligkeiten zusammen, verließ seine Vier-Zimmer-Wohnung in Wuhlehirsk, eine Autostunde nordöstlich von Donezk, und machte sich mit seiner Frau und seinem Sohn auf den Weg. Hauptsache, weit weg vom Krieg.

Die drei taten gut daran: Wenig später tobten wieder schwere Kämpfe um Wuhlehirsk. Im Februar fiel die 8000-Einwohner-Stadt unter die Kontrolle der prorussischen Separatisten. Heute liegt sie in Trümmern.

Die Flucht führte Wladislaw und seiner Familie ans andere Ende der Ukraine. Die Hoffnung, bald zurückkehren zu können, blieb jedoch. Als die Familie ein Zimmer in einem Flüchtlingsheim in Wynnyky nahe der Stadt Lemberg erreichte, waren auf den umliegenden Feldern die Bauern noch dabei, die Ernte einzubringen.

„Was? Du bist bei den Faschisten?“

Inzwischen hat sich eine Schneedecke über die Landschaft gelegt und ist wieder geschmolzen. Bald wird es wieder Zeit für die Aussaat sein. Aber noch es ist kalt. Wladislaw sitzt im dicken Anorak im Speisesaal des Flüchtlingsheims und löffelt Borschtsch. Bis heute wollte er seinen Bekannten daheim nicht verraten, wo er nun lebt. Denn Wladislaw ist in den Westen der Ukraine geflohen, zu den Nationalisten, den „Banderowtsi“, wie sie von manchen in seiner Heimat im Osten abwertend genannt werden. Wladislaw hört sie schon reden: „Was? Du bist bei den Faschisten?“, imitiert er sie: „Die, die uns umbringen? Also bist du auch ein Mörder!“ Als Verräter würde man ihn beschimpfen, und das will Wladislaw sich und seiner Familie ersparen.

Der Donbass kommt ebenso wenig zur Ruhe wie die unzähligen Menschen, die in den vergangenen Monaten aus der Region geflüchtet sind. Rund 1,15 Millionen sogenannte „Binnenvertriebene“ (Internally Displaced Persons, IDP) sollen sich derzeit in der Ukraine aufhalten, weitere 670.000 sind in andere Länder geflohen – knapp 525.000 nach Russland, schätzt das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (Unhcr).

Viele haben große Hoffnungen in das Friedensabkommen von Minsk gesetzt. Da die aktuelle Waffenruhe jedoch brüchig bleibt, kommt eine Rückkehr in ihre Heimat für die meisten von ihnen weiterhin nicht in Frage.

Je länger der Krieg dauert, umso schwieriger wird es für Ukrainer wie Wladislaw. Zwar arbeitet der 36-Jährige inzwischen für ein paar Stunden als Dozent im nahegelegenen Lemberg. Doch das Gehalt reicht längst nicht, um finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Zu allem Überdruss droht dem Flüchtlingsheim das Aus. Denn auch dort häufen sich die Rechnungen, klagt Pfarrer Wladimir Burda, Initiator der kirchlichen Flüchtlingsinitiative: „Wir versorgen hier 100 Menschen. Ich brauche 700 Euro pro Woche, um das Heim zu betreiben. Am Anfang haben die Menschen noch viel gespendet – aber jetzt?“

UN: "Verheerende humanitäre Katastrophe"

Mit der russischen Annexion der Krim im März des Vorjahres strömten die ersten Flüchtlinge nach Kiew und Lemberg. Bereits damals wiesen viele darauf hin, dass der korrupte und ineffiziente Staatsapparat nicht auf einen größeren Ansturm von Vertriebenen vorbereitet sei. Die UN warnten vor einer „verheerenden humanitären Katastrophe“. Inzwischen steht die Ukraine vor der Zahlungsunfähigkeit, die Wirtschaft liegt aufgrund der militärischen Auseinandersetzungen nahezu brach.

Bislang schafften es viele Flüchtlinge dank des Engagements der Zivilgesellschaft über die Runden zu kommen: durch private Hilfsvereine, Spenden und kirchliche Initiativen. Doch nach und nach hat sich die Stimmung verändert. Die ersten Ankömmlinge von der Krim wurden von der lokalen Bevölkerung noch geradezu überschwenglich empfangen. Dass sie den neuen russischen Machthabern den Rücken gekehrt hatten, wurde im Westen der Ukraine als Beweis ihrer patriotischen Gesinnung gewertet.

Den Flüchtlinge aus dem russisch geprägten Donbass, vor allem den Männern im kampffähigen Alter, schlug hingegen von Anfang an Misstrauen entgegen – und dieses wuchs immer weiter an, je mehr Ukrainer im Kampf gegen die pro-russischen Separatisten getötet wurden.

„Unsere Jungs sterben dort für die Ukraine, und sie machen sich einfach aus dem Staub und kommen zu uns?“, schimpfen die Lemberger heute hinter vorgehaltener Hand. Und so werden die „Pereselentsy“, die Binnenflüchtlinge, zusehends zu Sündenböcken. Ein Taschendiebstahl auf dem Markt? Eine Schlägerei am Stadtrand? Das seien sicher wieder die „Pereselentsy“ gewesen, wird in der Stadt immer öfter geraunt.

Wut in Lemberg

Wladislaw macht der Argwohn, der Menschen wie ihm neuerdings entgegenschlägt, wütend. „Ihr lebt hier in Frieden und versucht dennoch, die Gesellschaft wieder zu spalten – genau so, wie es die russische Propaganda tut!“, ruft er wütend an die Adresse der Bürger von Lemberg.

800 Kilometer südöstlich liegt die Stadt Mykolajiw. In dem hiesigen Flüchtlingsheim lebt Tatjana. Sie stammt aus Snischne, dem Zentrum des Kohlebergbaus im Donbass. Die Welt kennt Tatjanas Heimatstadt, weil unweit davon im Juli 2014 das malaysische Passagierflugzeug MH17 abgeschossen wurde. Tatjana flüchtete kurz nach dem Unglück.

Doch nun stellt sich die Frage, wie lange sie noch hier in Mykolajiw bleiben kann. Denn mit Jahresbeginn hat die Direktorin des Heims – ursprünglich einmal ein privates Erholungszentrum – angekündigt, künftig eine Gebühr von 30 Hrywnja (umgerechnet knapp zwei Euro) pro Tag und Nase einzutreiben. „Wir sind zu dritt – meine Tochter, mein kleiner Sohn und ich“, sagt die Frau mit dem roten Haarschopf: „Da komme ich auf 2700 Hrywnja im Monat. Aber ich verdiene selbst nur 1200 Hrywnja! Wie soll ich das bloß bezahlen?“

Dabei hatte Tatjana noch Glück. Sie hat einen Job im Zoo bekommen. Viele andere Flüchtlinge sind arbeitslos und auf Sozialleistungen angewiesen. Weniger als 50 Euro erhalten arbeitslose Flüchtlinge derzeit pro Monat vom ukrainischen Staat. Wer keine Wohnung finden kann, ist auf Spenden und den guten Willen von Unternehmern angewiesen. Doch bei einigen Hotelbetreibern, die bisher Flüchtlinge aufgenommen haben, ist das Mitgefühl inzwischen wirtschaftlicher Räson gewichen.

„Wir schreiben im Monat einen Verlust von 100.000 Hrywnja (umgerechnete rund 5500 Euro, Anm.). Wir müssen schließlich zusätzlich die Fixkosten und das Personal trotzdem weiterhin bezahlen“, sagt ein Hotelbetreiber, der bisher 200 Flüchtlinge beherbergte. Nun müssen sie alle ausziehen – doch wohin sie sich dann wenden sollen, bleibt unklar.

940.000 ukrainische Flüchtlinge in Russland

Und es gibt schließlich noch einen Weg in eine andere Richtung als jene, die Tatjana und Wladislaw gewählt haben: den Weg nach Russland. Laut den offiziellen Zahlen des russischen föderalen Migrationsdienstes haben bisher 318.000 Menschen aus dem Donbass um einen Flüchtlingsstatus angesucht. Zählt man all jene dazu, die bei Verwandten und Freunden Zuflucht gefunden haben, kommt man nach Angaben der Behörden auf 940.000 ukrainische Flüchtlinge in Russland.

Margarita, eine junge Frau aus Slowjansk, der einstigen Hochburg der pro-russischen Rebellen in der Ostukraine, trat die Flucht nach Russland an, als auf dem Höhepunkt der Kämpfe Ende Mai 2014 ein Kinderspital in der Nähe ihres Hauses bombardiert wurde. Seit Anfang Juli befindet sich die Stadt wieder unter Kontrolle der ukrainischen Armee.

Margarita erzählt ähnlich verstörende Geschichten wie Tatjana und Wladislaw – nur dass es in ihrer Version nicht die Separatisten sind, die Angst und Schrecken verbreiten, sondern ukrainische Soldaten und Milizen. „Wir haben Slowjansk nicht einfach verlassen, wir sind regelrecht aus der Stadt gelaufen“, erzählt Margarita, während sie ihre jüngste Tochter im Arm hält, die erst vor wenigen Monaten geboren wurde – während draußen die Granaten krachten. „Bei den ukrainischen Checkpoints haben sie uns aufgehalten und durchsucht“, berichtet Margarita: „Ich hatte solche Angst. Diese Menschen haben zuvor auf Zivilisten geschossen. Wir wussten ja nicht, wozu sie sonst noch fähig sind.“

Margarita ist mit ihren beiden Töchtern über die russische Grenze geflohen, in das Land, das in diesem Krieg den direkten Feind der Regierung in Kiew darstellt. Sie hat sich bis zu Verwandten in eine Kleinstadt in der Nähe von Nischni Nowgorod durchgeschlagen, sechs Autostunden östlich von Moskau entfernt. Ihr Mann ist in der Ukraine geblieben und kämpft auf der Seite der pro-russischen Rebellen.

Kein Antrag ohne Familienvater

Als ihr Neugeborenes kurz nach der Ankunft in Russland erkrankte, bat sie die dortigen Behörden vergebens um Hilfe. Eine Versicherungspolizze, teilten ihr die Beamten mit, gebe es in Russland nur mit offiziellem Flüchtlingsstatus – und dieser könne nur gewährt werden, wenn der Familienvater den Antrag stellt.

Es war der Punkt, erzählt Margarita heute, als sie die Welt schlichtweg nicht mehr verstehen konnte: Sie galt hier nicht als Ehefrau eines Helden, der zu Hause gegen die in Russland als faschistische Übermacht dargestellte ukrainische Armee kämpft – sie fühlte sich ganz im Gegenteil als Bittstellerin, die im russischen Vaterland fehl am Platz ist.

„Ich kann noch immer nicht glauben, dass das alles wirklich passiert“, sagt Margarita sichtlich geschockt. Ihre Tochter ist inzwischen wieder gesund, doch ihr Haus in Slowjansk ist zerstört. An eine Rückkehr ist überhaupt nicht mehr zu denken, seit sich die Stadt wieder in den Händen der ukrainischen Armee befindet.

Es sind gerade einmal 90 Kilometer, die zwischen Margaritas Heimat Slowjansk und Wladislaws Haus in Wuhlehirsk liegen. Doch die Welten, in denen die beiden Ukrainer heute leben, könnten nicht weiter voneinander entfernt sein. Der Krieg hat sie in alle Himmelsrichtungen zerstreut – nicht nur geografisch, sondern auch psychologisch. Ihre Erzählungen über Befreiung und Belagerung, Täter und Opfer, Wahrheit und Lüge gleichen zwei spiegelverkehrten Koordinatensystemen von Gut und Böse.

Wladislaw, der Mann, der die Hoffnung so lange nicht aufgeben wollte, zuckt mit den Schultern. Selbst wenn irgendwann einmal die Waffen schweigen sollten, sei er sich nicht sicher, ob er nach Wuhlehirsk zurückkehren könne. „Ich glaube, die Menschen werden nie mehr friedlich zusammenleben können. Die Propaganda hat die Gesellschaft gespalten. Es ist zu viel passiert.“