Ingrid Brodnig: Trollhaus
Im Netz bekommen viele Worte eine neue Bedeutung: Dank Facebook ist selbst der unsympathische Abteilungskollege nun unser „Freund“. Und auch „Trolle“ sind leider nicht mehr auf die nordische Sagenwelt beschränkt, sondern machen mit ihren Rüpeleien das ganze Web unsicher. Zwei Begriffe werden jedoch besonders inflationär und falsch eingesetzt. Jede Form von Kritik, Gegenrede oder Moderation wird gern als „Zensur“ verunglimpft, weil die „Meinungsfreiheit“ dadurch abgeschafft werde.
Natürlich ist das ein Unsinn. Wenn jemand ein rassistisches Posting über Flüchtlinge verfasst, dann handelt es sich nicht um „Zensur!!11!!!“, nur weil andere dies kritisieren. Wenn Buchhändler die Werke von Akif Pirinçci aus dem Sortiment nehmen, weil der deutsche Schriftsteller auf einer Pegida-Kundgebung bedauerte, dass es keine Konzentrationslager mehr gebe, ist dies kein Beleg für „Meinungsdiktatur“, sondern das gute Recht dieser Geschäftsleute. Und wenn ein User im „Standard“-Forum die Autorin eines Textes als inkompetente „Hure“ bezeichnet, dann ist es noch lange kein Vorgehen „wie in Nordkorea“, wenn der Kommentar auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Der Vergleich mit Nordkorea zeigt, wie dumm solche Zensurrufe sind. In Nordkorea werden Regimegegner hingerichtet. In der Türkei werden vor der Wahl die Websites unabhängiger Medien blockiert. In Saudi-Arabien wurde der Blogger Raif Badawi wegen „Beleidigung des Islam“ zu 1000 Stockhieben verurteilt. Das ist Zensur.
Nicht verboten ist es, dass Menschen einander ordentlich die Meinung sagen.
Als in der Französischen Revolution die Meinungsfreiheit als unveräußerliches Recht eingeführt wurde, sollte dies die Bürger vor Repressalien durch den Staat schützen. Deswegen werden auch heute im Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention „Eingriffe öffentlicher Behörden“ in die freie Meinungsäußerung dezidiert verboten. Nicht verboten ist jedoch, dass Menschen einander ordentlich die Meinung sagen.
Im Internet dagegen hält sich ein Irrglaube hartnäckig: dass das Recht auf Meinungsfreiheit bedeute, nicht kritisiert werden zu dürfen. Als die nunmehrige Ex-FPÖ-Politikerin Susanne Winter heftig angegriffen wurde, nachdem sie ein antisemitisches Posting gutgeheißen hatte, schrieb sie auf Facebook: „Ich danke IHNEN ALLEN, die mir in diesen bedrückenden Tagen Mut und Stärke zusprechen, aber ich weiß nicht, ob ich diese Ihre Erwartungen erfüllen kann. Die Keule ist zu groß.“
Wer Antisemitismus anprangert, schwingt eine Keule – das unterstellt dieses Posting. Eine perfide Behauptung: Aggressiv ist demnach nicht, wer gegen „zionistische Geld-Juden“ hetzt, sondern wer es wagt, dies zu kritisieren. Was Winter als „Keule“ bezeichnet, ist vielmehr eine Form von Notwehr. Zu Recht (und zum Glück) sind viele im Rahmen ihrer Meinungsfreiheit nicht bereit, Antisemitismus unwidersprochen stehen zu lassen. (Ob wiederum Winters Posting durch die Meinungsfreiheit abgedeckt ist, wird die Staatsanwaltschaft zu beurteilen haben, denn Verhetzung gilt in Österreich als Straftatbestand.)
Bezeichnenderweise wird das Recht auf Meinungsfreiheit meistens von jenen eingefordert, die nur an der eigenen Meinungsfreiheit interessiert sind. Damit einher geht ein zweites Missverständnis: Viele glauben, die Meinungsfreiheit gebe ihnen auch das Recht, immer und überall Gehör finden zu müssen.
Wie unsinnig das ist, zeigt folgender Vergleich: Im „Speaker’s Corner“ im Londoner Hyde Park darf jeder ungestraft seine Weltsicht verbreiten – und möge sie so abstrus sein wie die „Chemtrails“-Verschwörungstheorie, laut welcher die Chemieindustrie uns alle vergiften will. Vier Kilometer davon entfernt liegt die Redaktion der liberalen Traditonszeitung „The Guardian“. Dorthin können besorgte Bürger Leserbriefe schicken und ihre Meinung äußern. Die Zeitung ist jedoch nicht verpflichtet, einen Leserbrief über „Chemtrails“ abzudrucken. Es ist keine Zensur, wenn einschlägige Einsendungen nicht veröffentlicht oder entsprechende Online-Postings entfernt werden.
Zensur wäre es, wenn Anhängern der „Chemtrails“-Theorie generell das Wort oder der Internetzugang verboten würde. Ihnen bleiben immer noch der „Speaker’s Corner“ oder unzählige dubiose Internetforen, die jede noch so skurrile Äußerung zulassen.
Im Netz werden wichtige Grundrechte oft als Totschlagargumente missbraucht. Wenn jemand empört die Worte „Meinungsfreiheit“ und „Zensur“ verwendet, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ihm die stichhaltigen Argumente fehlen und er in Wahrheit nichts anderes ist als ein „Troll“ – und zwar von jener Sorte, die nicht aus der skandinavischen Mythologie stammt.