Otto F. Kernberg gilt als DER Experte im Forschungsbereich des pathologischen Narzissmus.

Interview mit Otto Kernberg, dem berühmtesten Psychiater der Welt

Otto F. Kernberg ist gebürtiger Wiener und der bekannteste praktizierende Psychiater der Welt. profil besuchte ihn in New York und hatte viele Fragen dabei: Ist ein Narzisst liebesfähig? Neigen Frauen häufiger zu sexuellem Masochismus? Wie ruinieren Eltern die Psyche ihrer Kinder?

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White Plains im Staat New York, das Gelände eines psychiatrischen Spitals: Elegante Backsteinhäuschen sind in einem Park verteilt. Nur eine der vielen Wirkungsstätten des 86-jährigen Otto Friedmann Kernberg, der Wien im Alter von zehn Jahren verlassen musste und weltweit als die Kapazität für Persönlichkeitsstörungen gilt. Der Sohn eines überzeugten Monarchisten, den die Flucht aus Wien über Italien nach Chile führte, hat Phänomene wie den pathologischen Narzissmus und die Boderline-Störung neu für die Psychiatrie definiert. Obwohl er seit den 1960er-Jahren in Amerika lebt, ist sein Deutsch noch immer von jener weichen Tonalität, die von der versunkenen Welt der jüdischen Bourgeoisie im Wien der Zwischenkriegszeit zeugt.

profil: Gibt es so etwas wie einen gesunden Narzissmus? Otto Kernberg: Durchaus. Zu einem normalen Narzissmus gehören Ehrgeiz, Selbstsicherheit und die Unabhängigkeit von der Meinung anderer. Ein gesunder Narzisst verfügt über eine innere Kontinuität, hat Freude an sich selbst und am Leben, durchaus auch funktionierende Beziehungen zu seinen "significant others" und besitzt die Motivation, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

profil: Wann wird Narzissmus pathologisch? Kernberg: Ein Patient, der an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet, hat ein verzerrtes Selbstkonzept und Selbstgefühl. Er hat idealisierte Vorstellungen von sich selbst. Ihm fehlt der Bezug zur Realität, er hält sich für rundum großartig, bombastisch und braucht die ständige Bewunderung anderer.

profil: Das heißt, Publikum ist der Sauerstoff seiner Pathologie. Kernberg: Ja. Dieses Auditorium, das ihn bewundert und deswegen so wichtig ist, entwertet er aber auch gleichzeitig und hat dazu eine verächtliche Haltung. Der Kern und das Zentrum seines Seins ist die eigene Großartigkeit. Diese Grandiosität muss ein schwer gespaltenes, vielleicht traumatisiertes Selbst ausgleichen.

profil: Sind solche pathologischen Narzissten überhaupt liebesfähig? Sie sprechen in Ihren Vorträgen von der "emotional shallowness" solcher Patienten - ihrer Flachheit der Gefühle. Kernberg: Menschen mit einer solchen Störung enden oft in Einsamkeit und Isolation. Partner haben für sie vorrangig die Funktion, sie zu bewundern und ihr Selbstgefühl zu stärken. Lieben können sie sie in der Regel nicht.

profil: Ist ein notorisch promiskuitives Verhalten, das in der Populärpsychologie oft unter dem Begriff Sexsucht abgehandelt wird, auch ein Symptom einer solchen Störung? Kernberg: Diese Patienten verlieben sich sehr schnell und idealisieren den Partner ebenso rasch, aber sie ernüchtern nach ein paar Monaten oder sogar Wochen schnell wieder. Dann kommt es zur Abwertung und Abwendung. In schweren Fällen gehen solche Menschen von einer Beziehung in die nächste. Sie sind einfach unfähig, sich festzulegen.

Der Neid kann da krasse Formen annehmen. Ich hatte einmal einen Patienten, der konnte es einfach nicht ertragen, dass seine Partnerin beim Geschlechtsverkehr mehr Lust als er selbst empfand.

profil: In Liebesbeziehungen verschränken sich ja auch die jeweiligen Neurosen miteinander. Wer ist denn der ideale Partner für einen narzisstisch gestörten Menschen? Kernberg: Eigentlich ein Masochist. Oft kommt es auch zu Konstellationen von sehr schönen Partnern, die als Paar nur für ihre Wirkung in der Außenwelt leben und innerlich eigentlich sehr wenig miteinander zu tun haben. Sie nähren sich aus dem Neid, den sie bei anderen erzeugen.

profil: In Ihren Vorträgen bewerten Sie Neid als wichtigen Symptomträger bei narzisstisch gestörten Menschen und kritisieren auch, dass das lange Zeit nicht erkannt worden ist. Kernberg: Neid ist ein wichtiger Faktor in der pathologischen Struktur des Narzissmus. Das kam in der Literatur lange nicht vor. Manchmal wählen solche Patienten auch entsetzlich unscheinbare Partner, damit sie einerseits noch mehr strahlen können, und sich aber auch davor schützen, den anderen wegen seines guten Aussehens beneiden zu müssen. Der Neid kann da krasse Formen annehmen. Ich hatte einmal einen Patienten, der konnte es einfach nicht ertragen, dass seine Partnerin beim Geschlechtsverkehr mehr Lust als er selbst empfand. Die unbewussten Neidgefühle sind da noch viel stärker als die bewussten.

profil: Ist die Fähigkeit zur sexuellen Ekstase bei solchen Menschen vorhanden? Kernberg: Ja, aber es gibt keine Fähigkeit, den Erotismus mit Zärtlichkeit und Liebesgefühlen zu verbinden.

profil: Sie haben Masochismus und Narzissmus als ideale Paarkombination erwähnt. Wie erklären Sie den globalen Flächenbrand der Romantrilogie "Fifty Shades of Grey"? Kernberg: Nun ja, hier haben wir die glückhafte Kombination der Romantik eines Zwanzig-Groschen-Romans mit Pornografie. Das arme, schüchterne Mädchen und der große Millionär.

profil: Der noch dazu als Knabe von einer bösen Cougar-Frau missbraucht worden ist und natürlich eine schwere Kindheit hatte. Kernberg: Hier werden sadomasochistische Gefühle, die wie auch der Voyeurismus, Exhibitionismus oder Fetischismus auch ein Teil der normalen Sexualität sind, aber natürlich selten ausgelebt werden, in einem konventionell akzeptablen Rahmen präsentiert. Das macht sicher auch den Erfolg aus.

Es ist wissenschaftlich belegt, dass sexueller Masochismus von fünf Mal so vielen Männern wie Frauen praktiziert wird.

profil: Darf man in diesem Zusammenhang von Perversionen sprechen? Kernberg: Dieser Begriff wurde inzwischen ausgetauscht - als Konsequenz dieser politisch-korrekten Infektionskrankheit. Wir sprechen jetzt statt von Perversionen von Paraphilie und bezeichnen damit eine Beschränkung des sexuellen Verhaltens auf einen einzigen Aspekt.

profil: Das Buch "Fifty Shades" wurde nahezu ausschließlich Frauen gekauft. Lässt das den Rückschluss zu, dass Freud Recht hatte? Und sexueller Masochismus bei Frauen dominiert und einer soziokulturellen Prägung entstammt? Kernberg: Es ist wissenschaftlich belegt, dass sexueller Masochismus von fünf Mal so vielen Männern wie Frauen praktiziert wird. Und abgesehen von sexuellen Belangen: Generell haben Männer genauso starke oder schwache sadomasochistische Tendenzen wie Frauen. Nur ist der Umgang mit diesen Tendenzen geschlechtsspezifisch geprägt.

profil: Neigen Frauen mehr zum Beziehungsmasochismus? Kernberg: Ja, bei Frauen dominiert der Masochismus in Liebesdingen; Männer tendieren zu chronischem Leiden in der Arbeitswelt. Sie lassen sich erstaunlich lange von ihren vielleicht auch narzisstisch veranlagten Chefs quälen. Frauen würden sich in vergleichbaren Situationen im Berufsleben viel schneller abwenden.

In ganz schweren Fällen wird das Über-Ich komplett ausgehebelt, es existieren keinerlei Schuldgefühle bei Gewalttätigkeit und anderen sadistischen Grausamkeiten. So etwas wie Empathie kommt da nicht vor.

profil: Kehren wir noch einmal zum Symptom Neid zurück. Neid ist doch auch häufig ein Treibstoff für Gewaltakte. Kernberg: Wenn primitive Aggression dieses Selbstgefühl der Großartigkeit infiltriert, dann kommt es zu bösartigem Narzissmus.

profil: Ist das die häufigste Voraussetzung für eine Karriere als Serienkiller? Kernberg: Das kann sein. Dann haben wir es mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit antisozialem Verhalten zu tun. In ganz schweren Fällen wird das Über-Ich komplett ausgehebelt, es existieren keinerlei Schuldgefühle bei Gewalttätigkeit und anderen sadistischen Grausamkeiten. So etwas wie Empathie kommt da nicht vor.

profil: Leben wir in einem Zeitalter, in dem durch soziale Medien und wirtschaftlichen Egoismus der Narzissmus und die narzisstische Persönlichkeitsstörung besonders blühen? Kernberg: Das zu behaupten, ist einfach zu vage und wäre fachlich unzulässig. Zur Zeit können wir noch nicht mit Sicherheit feststellen, ob diese Erkrankung, aber auch andere Persönlichkeitsstörungen wie die Borderline-Störung, jetzt häufiger auftreten oder einfach öfter erkannt werden, weil man sich eben intensiver in der Praxis und Forschung damit beschäftigt hat.

profil: Beim Erscheinen des ICD, des internationalen Handbuchs für psychiatrische Diagnosekriterien, kommt es regelmäßig zu heftigen Debatten. An der jüngsten Ausgabe 2011 wurde heftig kritisiert, dass jede geringe Abweichung von der Norm bereits pathologisiert wird: Jemand, der den Verlust eines geliebten Menschen über drei Monate betrauert, leidet dort bereits an depressiven Verstimmungen. Kernberg: Ja, Trauer wird in dieser Gesellschaft nicht respektiert, Depressionen werden häufig überdiagnostiziert. Hinter solchen Behauptungen stehen natürlich finanzielle und politische Interessen. Es liegt ganz klar in der Absicht der psychopharmakologischen Industrie, dass die Menschen bei jeder kleinsten psychischen Irritation Pillen verschrieben kriegen. Und die Versicherungsanstalten begrüßen das auch, weil das natürlich wesentlich kostengünstiger als Psychotherapie ist. Abgesehen davon hinkt die Klassifikation des ICD oft Jahre hinter dem aktuellen Forschungsstand hinterher.

profil: Ist die Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen eine wirksame Methode? Kernberg: Psychotherapie ist bei der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen die erste Wahl. Medikamente haben da nur unterstützende Wirkung. Allerdings helfen da keine Techniken, die nur an der Oberfläche ansetzen. Persönlichkeitsgestörte Patienten können nicht einfach nur eine Verhaltensänderung erlernen, sie brauchen eine Therapie der gesamten Person.

profil: Kann der langwierige Prozess einer Psychoanalyse, in der jahrelang nach frühkindlichen Traumen gegraben wird, in solchen Fällen überhaupt helfen? Kernberg: Ja. Die Psychoanalyse hat sich sehr verändert. Wir beschäftigten uns längst nicht mehr so intensiv mit der Vergangenheit, die Fragen nach dem Großvater, der Mutter werden kleiner und beiläufiger. Im Zentrum steht die Übertragungsanalyse, die unbewusste Beziehung, die sich im Laufe der Therapie zwischen dem Patienten und dem Analytiker entwickelt hat.

profil: Diese Entwicklung hätte Freud vielleicht nicht gefallen. Kernberg: Die Vergangenheit ist natürlich relevant, aber in dem Ausmaß, in dem sie sich aktiv im aktuellen Leben eines Menschen zeigt. Unsere zentrale Frage lautet: Wie funktioniert ein Mensch heute in den großen Gebieten des Lebens - in intimen Beziehungen, dem Berufsleben, seiner Sexualität?

profil: Psychiater behaupten immer wieder, dass pathologische Narzissten therapieresistent sind. Kernberg: Das stimmt nicht. Mit zunehmendem Alter greifen Therapien besser, denn da wächst auch der Leidensdruck. Im Alter von 20,30, vielleicht auch noch 40 Jahren funktioniert diese Art von Leben mit dem Glauben an ein grandioses Selbst und dem schnellen Wechsel von Beziehungen und vorübergehenden Idealisierungen irgendwie noch. Doch dann - mit dem langsamen Schwinden der Schönheit, der Macht und der beginnenden Konfrontation mit Krankheiten - kann es auch zu einer entsetzlichen Einsamkeit kommen. Für solche Menschen sind Alterungsprozesse besonders schwer zu verkraften. In schweren Fällen kann es auch zum totalen Zusammenbruch kommen, der mit dem Verlust der Arbeitsfähigkeit, schweren Depressionen und einer sozialen Isolation einhergeht.

profil: Wie erkennen denn Eltern, dass ihr Kind an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet? Kernberg: Das sind Kinder, die möglicherweise ein Talent haben, das sie einsetzen, um Bewunderung zu kriegen. Aber nur, wenn es mühelos funktioniert. Sobald sie für etwas arbeiten müssen, in Konkurrenz zu anderen treten, dabei möglicherweise frustriert werden, lassen sie es bleiben.

profil: Worin wurzelt diese Frustrationsintoleranz, die offensichtlich eine Keimzelle des pathologischen Narzissmus ist? Kernberg: Es ist normal, dass Babys intensive affektive Reaktionen haben. Sie können große Freude und Zufriedenheit empfinden, wenn sie an der Brust der Mutter liegen, aber auch Schmerz und Wut. Wenn die negativen Erfahrungen jedoch dominieren und, biologisch bedingt, eine erhöhte Sensibilität gegenüber traumatisierenden Situationen besteht, kann beim Baby eine normale Integration von idealen, aber auch schmerzlichen Erfahrungen nicht stattfinden.

Es gibt viele sogenannte Genies, die jedoch unfähig sind, schwer zu arbeiten. Sie können ihr Talent nur dann entwickeln, wenn damit keine Arbeit und keine Investition verbunden ist.

profil: Inwiefern spielen Überhöhung und Idealisierung des Kindes seitens der Eltern bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit? Kernberg: Wenn das Kind zu diesen frühen Frustrationen und einer unsicheren Bindungserfahrung auch noch von der Mutter oder dem Vater wie ein Triumph herumgetragen und gelobt und idealisiert wird, verfestigt sich in ihm das Bewusstsein: Auf Liebe kann ich nicht vertrauen, auf Bewunderung jedoch schon.

profil: Ist es ein Klischee, dass aus solchen Kindern später Rockstars oder Schauspieler werden? Kernberg: Es gibt viele sogenannte Genies, die jedoch unfähig sind, schwer zu arbeiten. Sie können ihr Talent nur dann entwickeln, wenn damit keine Arbeit und keine Investition verbunden ist. Kategorien wie Dankbarkeit und Einsatz sind da nicht vorhanden.

profil: Immer wieder liest man, dass die sogenannten Helicopter-Eltern, die sich mit tausend Ratgebern aufrüsten, ihre Kinder zu kleinen Narzissten modellieren. Kernberg: Gott sei Dank verfügen die meisten Kinder über eine solche Konstitution, dass sie sich nicht von ihren allzu kenntnisreichen Eltern verderben lassen.

profil: Hier in Ihrem Arbeitszimmer hängt ein riesiger Stich des mittelalterlichen Wiens. Was haben Sie für ein Verhältnis zu dieser Stadt? Kernberg: Ich liebe Wien. Auch mein Vater liebte Wien. Er war Monarchist, deswegen heiße ich auch mit Vornamen Otto.

profil: Sie waren zehn Jahre alt, als Sie mit Ihrer Familie über Italien nach Chile flüchteten. Was war für Sie das prägendste Erlebnis nach dem "Anschluss"? Kernberg: Ich bin mit meiner Mutter einmal auf der Mariahilfer Straße spaziert. Da wurde sie von einem SA-Mann aufgehalten und gezwungen, das Trottoir zu reinigen. Um sie bildete sich gleich eine Meute. Es war eine sehr unangenehme Situation. Für mich war als Kind Chile dann das Paradies, trotz der schwierigen Anfangsjahre für meine Eltern - ich konnte mich wieder angstfrei auf den Straßen bewegen.

profil: Wann haben Sie das erste Mal nach dem Krieg Wien wieder besucht? Kernberg: Das war im Winter 1954. Ich bin in unserem ehemaligen Wohnhaus auch der Frau begegnet, von der wir glaubten, dass sie damals alle jüdischen Bewohner angezeigt hatte. Als sie mich sah, weiß ich nicht, wer mehr Angst hatte: Sie vor mir oder ich vor ihr. Es war in jedem Fall eine sehr unangenehme Situation.

Otto F. Kernberg wurde am 10. September 1928 als Sohn eines Ministerialbeamten in Wien geboren. Die Familie floh nach dem "Anschluss" aus Österreich über Italien nach Chile, wo Kernberg Biologie, Medizin und anschließend Psychiatrie und Psychoanalyse studierte. 1961 emigrierte Kernberg in die USA, wo er sich intensiv mit Persönlichkeitsstörungen auseinanderzusetzen begann. Er ist Professor für Psychiatrie an der Cornell University und Direktor des Personality Disorders Institute am New Yorker Presbyterian Hospital. Kernberg leitete jahrelang die Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Er wirkt bis heute als "supervising" Analytiker im Zentrum für psychoanalytische Ausbildung an der Columbia Universität in New York, steht der "Rigidität in gewissen psychoanalytischen Institutionen" jedoch durchaus kritisch gegenüber. Kernberg, der mit der renommierten und inzwischen verstorbenen Kinderpsychiaterin Pauline Kernberg verheiratet war, reist bis heute unermüdlich durch die Welt, um auf Kongressen vorzutragen. Seine Werke wie "Narzissmus, Aggression und Selbstzerstörung" und "Liebesbeziehungen - Normalität und Pathologie" sind inzwischen Klassiker der psychiatrischen Fachliteratur geworden.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort