Jack Unterweger: Der Party-Killer
Dieser Text erschien am 29.08.2015.
Bei seinem letzten Appell an die Geschworenen am 28. Juni 1994 im Grazer Schwurgerichtssaal zog Jack Unterweger noch einmal alle Register. Er hätte früher wie „eine Ratte gelebt“, sei „ein primitiver Häftling, der mehr gegrunzt als gesprochen hat“, gewesen und habe nach seiner Haftentlassung mit seinem „Luftikusverhalten“ einen Riesenfehler gemacht.
Er wollte so gern wie Klaus Kinski sein, benahm sich wie „ein gierig fressendes Individuum“, „voll Hunger nach Leben“, dem es ein „Siegergefühl bereitete“, wenn „Prominente an meinem Tisch Platz nehmen“. Jetzt wolle er nur noch „schreiben und Theater spielen“; das Plädoyer in eigener Sache schloss Unterweger mit den Worten: „Ich bin unschuldig, danke.“
Gegen 21 Uhr wurde das Urteil verkündet: Lebenslänglich und schuldig in neun der elf Mordanklagen; bei zwei Opfern war der Zersetzungsprozess schon so weit fortgeschritten, dass die Todesursache nicht mehr sicher festgestellt werden konnte. In den Morgenstunden des 29. Juni 1994 endete die Reise aus dem „Fegefeuer“, so der Titel seines autobiografischen Romans, den Unterweger in seinen insgesamt 14 Gefängnisjahren in Stein verfasst hatte, mit Selbstmord – in einer aus einer Jogginghosen-Kordel und einem Schuhsenkel geknüpften Schlinge.
„Sein bester Mord“, verkündete der ÖVP-Politiker Michael Graff in unangemessenem Zynismus.
Das wirkliche Faszinierende an diesem Typen war, wie viele Menschen er verändert und aus der Bahn geworfen hat (Elisabeth Scharang, Filmemacherin)
Auch 28 Jahre nach seinem Freitod ist Jack Unterweger noch immer der Popstar unter Österreichs Gewaltverbrechern. Elisabeth Scharang, Filmemacherin mit einem thematischen Faible für Österreichs Abgründe, widmete die vergangenen sieben Jahre der Arbeit an ihrem Film „Jack“ (siehe Kritik hier), in dem Johannes Krisch Unterwegers Persönlichkeitsspaltung zwischen diabolischem Charme und impulsgetriebenem Sadismus eindrucksvoll reanimiert. Insgesamt 15 Unterweger-Projekte lagern in den Filmförderungskommissionen des Landes. Hollywoodstar John Malkovich widmete ihm 2009 das Musiktheaterprojekt „Infernal Comedy“, das in Wien Premiere feierte.
Antworten auf die offene Frage, ob Unterweger die ihm angelasteten elf Prostituiertenmorde in Österreich, Prag und Los Angeles auch tatsächlich begangen hat (durch seinen Tod wurde das Urteil nicht rechtskräftig), kann und will Scharang nicht geben: „Ich halte mich da an die Aussage von Alfred Noll, der als junger Rechtsanwaltskonzipient in der Kanzlei Georg Zanger mit Unterwegers letztem Prozess betraut war. Der sagte: ‚Es ist sehr wahrscheinlich, dass er es war, es ist aber auch sehr wahrscheinlich, dass er es nicht war.’ In unserem Rechtssystem sollte jedoch im Zweifel für den Angeklagten gelten.“
Als junge Radioreporterin hatte Scharang Unterweger Anfang der 1990er-Jahre kennengelernt, als sie ihn zu Features über jugendliche Straftäter und das Rotlichtmilieu einlud: „Seine Großspurigkeit stand in seltsamem Widerspruch zu einer gewissen Spießigkeit. Das wirkliche Faszinierende an diesem Typen war, wie viele Menschen er verändert und aus der Bahn geworfen hat.“ Was die Unterweger-Industrie bis heute am Rotieren hält, sind neben seinem manipulativen Talent für Frauen und den medialen Selbstinszenierungen auch die vielen Lücken, Fragezeichen und Ungereimtheiten, die entsprechenden Raum für Verschwörungstheorien und Spekulationen geben.
Den Geschworenen ging es gar nicht darum, die Beweislage abzuwägen, sondern sie sahen in Unterweger einen bereits Schuldigen, dem sie es zeigen wollten.
Im Gerichtsarchiv, erzählt Elisabeth Scharang, könne man zwar Einsicht in den Akt nehmen, nur fehle ein Großteil der Unterlagen, wie eine Menge gähnend leerer Mappen in dem Ordner beweist.
Die Grazer Anwältin Astrid Wagner, Autorin des kürzlich erschienen Unterweger-und-die-Frauen-Buchs „Verblendet“, die eine Affäre mit „dem Jack“ in der Grazer Haft hatte, fand die Tatsache, dass „plötzlich in einem längst verschrotteten BMW auf den Autositzen zwei Monate vor Prozessbeginn Haare auftauchten, die zu Unterweger und einem Mordopfer passten“, „äußerst erstaunlich“: „Es war der erste DNA-Prozess in Österreich, und die Justiz stand unter großem Druck. Zwei Jahre lang hatten sie nichts, worauf sie sich stützen konnten.“
Auch sein Strafverteidiger Georg Zanger ist heute der Ansicht, dass „eine Vorverurteilung im Mainstream bereits stattgefunden“ hatte: „Den Geschworenen ging es gar nicht darum, die Beweislage abzuwägen, sondern sie sahen in Unterweger einen bereits Schuldigen, dem sie es zeigen wollten.“
Das Unterweger-Urteil und sein Selbstmord, „vor dem ich die zuständigen Stellen schon im Vorfeld ohne jede Reaktion brieflich gewarnt habe“, so Astrid Wagner, spalteten im Sommer 1994 das Land: Die linksliberale Hälfte zeigte sich von der „Mordsjagd“ und „Jagdgesellschaft“ (profil) entsetzt, die konservativen Kräfte jubelten, dass der vom Mörder zum reuigen Schriftsteller Geläuterte, den die Kultur- und Meinungselite für ein Paradebeispiel gelungener Resozialisierung hielt, endlich bekommen hatte, was er verdiente.
Aus dem Nichts transportierten wir ihn eilig zum Ruhm. Das Dunkle an so einem Typen, das macht die Intellektuellen an (Günther Nenning, Journalist)
Allein profil-Autor Günther Nenning, einer von vielen Prominenten, unter ihnen auch die Schriftstellerin Elfriede Jelinek oder die Burgschauspielerin Erika Pluhar, die sich Ende der 1980er-Jahre für eine vorzeitige Haftentlassung von Unterweger stark gemacht hatten, ging noch während Unterwegers Flucht nach Amerika öffentlich in die Mea-culpa-Position. In der profil-Ausgabe 9/1992 übte er Selbstkritik: „Aus dem Nichts transportierten wir ihn eilig zum Ruhm. Das Dunkle an so einem Typen, das macht die Intellektuellen an. Die Promi-Literaten sind oft verblüffend schwächliche Figuren – der begabte Killer-Literat erscheint ihnen stark, verführerisch und ansteckend.“
Die liberale Medien- und Kunst-Schickeria hatte in Unterweger das Austro-Pendant zum französischen Kriminellen und Gefängnisschriftsteller Jean Genet gewittert, der mithilfe der Propagandamaschinerie von Jean Cocteau und Jean-Paul Sartre zum Star der Pariser Literaturelite avanciert war. Der 1975 wegen des Mordes an der 18-jährigen Deutschen Margret Schäfer zu lebenslanger Haft verurteilte Unterweger hatte sich in der Strafanstalt Stein bei Krems mit seinem autobiografischen, oft die Tatsachen verfälschenden Roman „Fegefeuer“, in dem er sich als Opfer einer brutalen Kindheit unter einem versoffenen, herumhurenden Großvater zeichnete, in die Herzen der Literaturszene und linken Meinungselite des Landes geschrieben.
„Besonders der ORF unterhielt eine irritierende Liebesaffäre mit Jack Unterweger“, zeigt sich der amerikanische Unterweger-Biograf John Leake noch immer über Unterwegers damaligen Kultstatus irritiert: „Als sadistischer Frauenmörder durfte er sogar aus dem Gefängnis Geschichten für das Kinderprogramm ,Traummännlein‘ liefern. Wenn nur einer der verliebten ORF-Redakteure oder der prominenten Petitionsunterzeichner einen Blick in den Akt geworfen hätten, wäre klar gewesen, dass Unterweger für den humanen Strafvollzug gänzlich ungeeignet war und eigentlich für immer in der Psychiatrie hätte landen müssen.“
Wenn ich auf der Uni gewesen wäre, wäre ich sicher nur Terrorist geworden (Jack Unterweger)
Legendär war Unterwegers Auftritt in der Ö1-Hörfunkreihe „Im Gespräch“, für die ihn der Journalist Peter Huemer 1989 in Stein interviewte und die noch heute im Netz nachgehört werden kann. Huemer schwärmte von Unterweger in seiner Zwischenmoderation als „Wunder“ eines „Menschen“, der sich im Gefängnis „zum Guten verändert“ hat und eigentlich „das Opfer einer Kindheit unter gänzlich asozialen Umständen“ war, der „zeitlebens nur die Mutter suchte, von der der kleine Jack nur neun Aktfotos besaß“. Der Sohn der Kärntner Kellnerin Theresia Unterweger (die im Gegensatz zu seinen Behauptungen in „Fegefeuer“ keine Prostituierte war) und eines amerikanischen Besatzungssoldaten (der sich nie zu dem Kind bekannte und den er nie kennenlernte) apportierte geschickt, was der Journalist von ihm hören wollte: „Ich habe immer in älteren Frauen meine Mutter gesucht; in dem Moment, in dem ich kapierte, dass die ja nicht meine Mutter war, kam es gleich bei mir zu einer Trotzreaktion, und die Beziehung war schon wieder zum Scheitern verurteilt.“
An anderer Stelle gibt er, durch die Gespräche mit Freudianischen Gefängnispsychologen sichtlich geschult, auch Einblick in seine früheren Gewalträusche: „Wenn man den anderen vor Angst zittern sieht, kriegt man ein Siegergefühl. Man kann sich nicht zurückhalten, findet nicht mehr die geistige Kraft und den Kanal. Dadurch, dass ich nie gelernt habe, etwas auszusprechen, sind dann die primitiven Instinkte herausgekommen. Ich habe nicht die zum Opfer Gewordene getötet, sondern meine Mutter … Wenn ich auf der Uni gewesen wäre, wäre ich sicher nur Terrorist geworden.“
Rückblickend betrachtet Peter Huemer seinen damaligen Enthusiasmus heute mit ironischer Distanz: „Wir waren damals von einer Sehnsucht getragen, dass Menschen sich verändern können. Unterweger schien der perfekte Beleg dafür. Ich war mir damals sicher, nicht auf ihn hereinzufallen, weil er mir eigentlich unsympathisch war.“
John Leakes 2007 erschienene Biografie „Der Mann aus dem Fegefeuer“ wurde in Amerika als bestes True-Crime-Buch des Jahres gekürt. Leake stellte seinem Werk das Wittgenstein-Zitat „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“ voran. „Er war ein Bilderbuchfall einer malignen narzisstischen Persönlichkeitsstörung“, resümiert er, „doch Österreich vibrierte in einer Art Sozialromantik für den geläuterten Literaten, der als schillerndes Party-Tier durch die Szene gereicht wurde und mit seinem Prison-Chic die Frauen anmachte.“
Es war direkt unheimlich, wie die Frauen auf ihn abfuhren (Margit Haas, Journalistin)
Auf der Klaviatur der Selbstinszenierung war der Bilderbuch-Narzisst ein hochbegabter Virtuose. In seinen 673 Tagen in Freiheit zwischen 1990 und 1992 ließ er nichts aus. Er posierte für Magazine als Dandy im schneeweißen Anzug, mit blutroter Blume im Knopfloch, seinen Schäferhund Joy an der Seite. Er gab den der Gefängnishölle entkommenen Rebellen – mit nacktem Oberkörper und Trotz im Blick. Auf seiner schmächtigen Brust waren lodernde Flammen tätowiert und der Satz „Make Love Not War“, auf dem linken Oberarm prangte der Kopf einer jungen Frau mit dunkler Langhaarmähne, die seinem ersten Mord- opfer Margret Schäfer irritierend ähnlich sah. Um den Hals des kleinen Mannes mit der eigenartig braven Frisur baumelte eine Kette mit einem Löwenkopf.
„Es war direkt unheimlich, wie die Frauen auf ihn abfuhren“, erzählt die Journalistin Margit Haas, die mit Unterweger bis zu seiner Flucht „nur freundschaftlich“ verbunden war, „schon bei unserer ersten Begegnung in einer Bar konnte ich beobachten, wie er innerhalb weniger Minuten mehrere Telefonnummern zugesteckt bekam. Besonders die Damen aus der besseren Gesellschaft wollten alle gern aus ihren faden Ehen ausbrechen und mit einem echten Mörder ins Bett gehen.“
Die Bilder jener Frauen, die Unterweger in sadistischen Ritualen nachweislich vor seinem vermeintlich lebenslangen Haftantritt 1975 gefesselt, geknebelt, vergewaltigt und auch getötet hat, blieben in dieser Hochglanzwelt, „in der sich der Boulevard und die Kultur auf den notorisch mediengeilen Jack stürzten“ (Haas), gänzlich ausgeblendet.
„Sein Mord an Margret Schäfer am 11. Dezember 1974 war das Resultat eines einzigen Blut- und Gewaltrausches, bei dem Alkohol und sicher auch Drogen im Spiel waren,“ erzählt „Jack“-Regisseurin Elisabeth Scharang. „Es ging dabei nicht um sexuelle Übergriffe, sondern um puren Sadismus. Er hat sie durch den Wald gehetzt und mit seiner Stahlrute regelrecht zermerschert.”
Schon 1973 war der DJ und Schmalspurzuhälter unter Verdacht geraten, eine Salzburgerin gefesselt und lebend in den Salzachsee geworfen zu haben. Durch das Alibi seiner damaligen Freundin, das sich Jahre später, als Unterweger bereits saß, als falsch herausstellen sollte – musste die Polizei ihren Mordverdächtigen wieder laufen lassen.
Er verzeichnete penibel jede Begegnung (Astrid Wagner, Anwältin)
Der Löwe, dessen erster Lyrikband den Titel „Tobendes Ich” trug, konnte die Frauen eben sehr gut verstehen: 152 Frauen fielen, laut seinen Tagebuchaufzeichnungen, in seinen letzten 673 Tagen in Freiheit auf jenen Mann herein, der auf so erotisierende Weise Glamour, Gewalt, die Melancholie eines geschundenen Kinds und die Aura eines Künstlers, der sich aus eigener Kraft freischrieb, in sich zu vereinen wusste.
„Er verzeichnete penibel jede Begegnung“, erzählt Astrid Wagner, die heute zugibt, sich hauptsächlich „in das Medienphänomen“ verliebt zu haben. „Da stand so was zu lesen wie: „Geiles Bumsen mit U, zärtlicher Sex mit E – wild, geil, keine Lust mit der Sopransängerin, es geht zu Ende …“
Auch noch in der fast zweijährigen Untersuchungshaft in Graz trudelten täglich um die 40 Zuschriften von Frauen, oft mit beigelegten Nacktfotos, ein, wie sein Psychiater Reinhard Haller aus nächster Nähe beobachten konnte: „Sogar Nonnen schrieben; Unterweger selbst teilte seine Fans in drei Kategorien ein: die Hofratswitwen, die mit dem Mörder und archaischen Urmann schlafen wollten, die, die von seiner Unschuld überzeugt waren und ihn retten wollten, und die, die sich deswegen in ihn verliebten, weil ihnen ein lebenslanger Mörder nicht weglaufen konnte.“
Acht ganze Tage hatte Haller damals mit Unterweger in einem Untersuchungszimmer verbracht und ihn als „äußerst charmant und hochgradig manipulativ empfunden. Ganz wahrhaftig dabei allerdings nur einen Moment lang: „Es war ein Samstagnachmittag und draußen braute sich gerade ein Gewitter zusammen. Da wurde er weich und begann auf einmal zu weinen. Und sagte ganz leise: Es wäre sich alles so gut ausgegangen, wenn da nicht diese Faser gewesen wäre …“