Naomi Klein im Gespräch: Warum der Kapitalismus die Welt ruiniert
Vielleicht kann man sich ja darauf einigen: Die Welt ist nicht gerecht. Naomi Klein ist es jedenfalls nicht, zumindest, wenn Gerechtigkeit bedeutet, abzuwägen, auszugleichen und immer schön brav und neutral zu sein. Naomi Klein ist weder brav noch neutral, sie ist eine Aktivistin und schon seit der Jahrtausendwende so etwas wie das Gesicht der radikalen Antiglobalisierungsbewegung. Mit ihren Büchern "No Logo" und "Die Schock-Strategie" hat die 44-jährige Kanadierin das zeitgenössische Unbehagen an Freihandel, Neoliberalismus und Konzernmacht auf den Punkt gebracht und soziale Bewegungen von Seattle bis Ecuador theoretisch unterfüttert. Man kann sich die Mutter eines dreijährigen Sohnes allerdings beim besten Willen nicht mit Megafon und Guy-Fawkes-Maske vorstellen, Klein wirkt zurückhaltend, spricht leise und bedacht, argumentiert nicht mit schlichten Parolen, sondern mit einer endlosen Fülle an Fakten - die sich freilich dann doch zu einem Slogan verdichten: "Kapitalismus vs. Klima". So lautet der Titel ihres neuen Buches, das im englischen Original noch etwas dringlicher "This Decides Everything" heißt und vollends dringlich argumentiert: Wenn wir so weitermachen, wird die Welt zugrunde gehen. Wenn wir die Klimakatastrophe abwenden wollen, müssen wir jetzt handeln. Und zwar radikal.
Radikal seltsam auch die Umstände, unter denen das profil-Gespräch mit der Kapitalismuskritikerin stattfindet: Die Autorin empfängt zum Interview in einem Fünfsternehotel am Berliner Tiergarten, vor der Türe parken Autos, die bei jedem Anstarten ein schönes Stück Regenwald entlauben, auch im Inneren wird sichtlich nicht nachhaltig gewirtschaftet. "Ich war noch nie in einem derart schicken Hotel", sagt sie wie zur Entschuldigung, weil sie natürlich weiß, dass ihr das als Scheinheiligkeit ausgelegt werden wird: "Ich komme mir vor wie auf einem Filmset ." Der Film heißt: Naomi Klein verändert die Welt. Ton ab.
profil: Frau Klein, wir müssen kurz über Frankfurt reden. Naomi Klein: Nur zu.
profil: Sie haben dort soeben bei den Blockupy-Protesten zur Eröffnung des neuen EZB-Gebäudes gesprochen. Ihr Vortrag ging allerdings im Chaos unter. Klein: Ich persönlich habe nichts von dem mitgekriegt, was wir später im Fernsehen gesehen haben. Ich reise ja mit meinem Dreijährigen, also hatte ich auch nicht vor, auf die Barrikaden zu gehen. Es sollte eigentlich auch keine Konfrontation geben. Aber einige Leute haben offenbar eine andere Entscheidung getroffen. Die friedliche Demo selbst war wirklich aufregend, groß und politisch wichtig. Wirklich schade, dass das in den Medienberichten so untergegangen ist.
profil: Sie haben bei der Veranstaltung nur am Rande von der EZB gesprochen, dafür sehr ausführlich vom Klimawandel. Was hat das Thema in Frankfurt verloren? Klein: Die Verbindungen zwischen Austeritätspolitik und Klimawandel sind offensichtlich: Die Krisenregierungen Südeuropas sparen bei erneuerbaren Energien, reaktivieren billige Kohlkraftwerke und bohren überall, wo es nur irgendwie geht, nach Öl und Gas. Sie erhöhen die Öffi-Tarife, privatisieren Eisenbahnunternehmen. All das beeinflusst das Klima. Aber wir sind derart mit ökonomischen Notfällen beschäftigt, dass wir das Klima darüber schlicht vergessen.
Das Komplizierte am Klimawandel ist, dass er nicht plötzlich passiert.
profil: Weil wir uns nur um die Natur scheren, wenn uns ein Wirbelsturm das Haus abdeckt? Klein: Es gab in den letzten Jahren nun wirklich keinen Mangel an klimabedingten Katastrophen. Hurrikan Sandy hat im Jahr 2012 New York verwüstet, die Wall Street überflutet und CNN den Strom abgedreht - und nicht einmal das hat als Weckruf gereicht. Etwas hindert uns offenbar daran, aktiv zu werden.
profil: Möglicherweise die Tatsache, dass der Mensch eine ziemlich anpassungsfähige Spezies ist? Klein: Das Komplizierte am Klimawandel ist, dass er nicht plötzlich passiert. Er vollzieht sich eben nicht als Schock, sondern als Zeitlupendrama, als seltsames Wetterphänomen hier, als statistisches Phänomen da. Schmelzende Gletscher betreffen niemandes tägliches Leben. Und selbst Katastrophen wie Sandy sind naturgemäß regional begrenzt.
profil: Eine der großen Fragen, die Sie in "Die Entscheidung" wieder und wieder stellen, lautet: Was ist nur los mit uns? Warum schaufeln wir fröhlich unser eigenes Grab? Klein: Ich weiß nicht, wie fröhlich wir wirklich sind. Wir sind schlicht mit zu vielen anderen Krisen beschäftigt. Kapitalismus ist eine krisenerzeugende Maschine. Die meisten Krisen, die er erzeugt, wirken akuter als der Klimawandel. Mein Vorschlag lautet: Wenn wir den Klimawandel ernst nehmen, wird er zu einem sehr mächtigen Argument, unser System zu verändern. Wenn wir wirklich fröhlich wären, würde ich sagen: Wir sind geliefert. Unsere einzige Chance besteht darin, dass es vielen Leuten eben nicht mehr gut geht - und dass uns der Klimawandel ein Ultimatum stellt, uns endlich zu bewegen.
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Für behutsame Korrekturen sei es inzwischen zu spät, erklärt Klein in "Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima", denn: "Unser Wirtschaftssystem und unser Planetensystem befinden sich miteinander im Krieg." Ihre Hoffnung, dass dieser Krieg nicht notwendigerweise von der Wirtschaft gewonnen werden muss, basiert auf der Lösung einer schlichten Gleichung: "Was unser Klima braucht, um nicht zu kollabieren, ist ein Rückgang des Ressourcenverbrauchs durch den Menschen; was unser Wirtschaftsmodell fordert, um nicht zu kollabieren, ist ungehinderte Expansion. Nur eines dieser Regelsysteme lässt sich verändern, und das sind nicht die Naturgesetze." In ihrem letzten Buch "Die Schock-Strategie" hatte Klein erklärt, wie neoliberale Lobbys Krisen, Kriege und Umstürze dazu nutzen, ihre Ideologie durch eine Schwächung öffentlicher Institutionen und eine erpresserische Schuldenpolitik durchzusetzen. Mit "Die Entscheidung" rückt eine andere Art von Schock ins Blickfeld -eine globale Katastrophe, die zum Niedergang des Marktkapitalismus führen kann, beziehungsweise: zu deren Verhinderung eine andere Welt möglich werden muss.
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profil: Sie beschreiben den Klimawandel als potenziell heilsamen Schock. Aber warum sollten Naturkatastrophen nicht genauso neoliberalen Interessen in die Hände spielen wie Krisen und Kriege? Klein: Ich kann mir nicht nur vorstellen, dass Klimakatastrophen zum Vorwand für neoliberale Übernahmen werden, ich habe es selbst miterlebt. Nach dem Hurrikan Kathrina wurde New Orleans mit Haut und Haaren privatisiert. Das Schulsystem wurde ein Versuchslabor für die Privatisierung öffentlicher Institutionen, unprofitable Krankenhäuser blieben geschlossen, Sozialbauten wurden in Eigentumswohnungen verwandelt - das war vielleicht das allerklassischste Beispiel für die Schock-Strategie. Genau so funktioniert unser System. Genau dafür wurde es entworfen. Ja, ich habe Angst vor Wirbelstürmen. Aber noch mehr Angst habe ich vor uns und wie wir mit Wirbelstürmen umgehen.
Obama ist eben ein Kind seiner Zeit - ein neoliberaler Politiker. Er hat auch nie etwas anderes behauptet.
profil: Eine andere Welt schien freilich möglich: Es war Anfang 2009, Barack Obama trat sein Amt als US-Präsident an, die Finanzindustrie lag im Sterben, die Autoindustrie auch, und die öffentliche Hand investierte Milliarden. Und nichts hat sich verändert. Was ist schiefgegangen? Klein: Es ist immer noch ziemlich schwierig für mich, daran zu denken und nicht darüber zu verzweifeln. Aber ich hasse Obama nicht, ich glaube nicht, dass er böse ist oder ein besonders untalentierter Politiker. Obama ist eben ein Kind seiner Zeit - ein neoliberaler Politiker. Er hat auch nie etwas anderes behauptet. Ich glaube, dass er schlicht in Panik geriet, als er die Gelegenheit serviert bekam, die Automobilindustrie zu kontrollieren, die Banken zu kontrollieren. Er wollte das nicht auf sich nehmen. Er wollte die Gelegenheit nicht nutzen, genau das zu tun, wofür er gewählt worden war - die echte Wirtschaft zu stärken und die spekulative zu verkleinern.
profil: Was haben Sie aus dieser Erfahrung gelernt? Klein: Dass die Veränderung nie von oben kommen wird, sondern unten anfangen muss, dass von unten her deutlich gemacht werden muss, wie eine gerechte Abkehr von fossilen Brennstoffen aussehen kann. Es gibt an der Schnittmenge von Anti-Austeritäts-Aktivisten, Arbeiterbewegung und Klimabewegung ein echtes Potenzial für neue Visionen von einem gerechteren Gesellschaftssystem, das die ökonomische Krise und die Klimakrise beenden kann.
profil: Die meisten Positivbeispiele, die Sie beschreiben, stammen allerdings aus ländlichen Gebieten, wo Menschen eng mit ihrer Umwelt verbunden sind und deswegen radikaler für deren Schutz eintreten. Wie bringen Sie Stadtbewohner dazu, sich um die Umwelt zu scheren? Klein: Das ist natürlich eine Herausforderung. Aber nehmen Sie Hamburg - die Bevölkerung dort hat entschieden, ihre Energieversorgung wieder in die öffentliche Hand zu nehmen. Auch Leute in Städten interessieren sich für erneuerbare Energien - wenn es mit Themen verbunden ist, die ihnen ebenfalls wichtig sind: Demokratie, Selbstorganisation, lokale Wirtschaftsförderung. Und es gibt tausend Möglichkeiten, uns auch in der Stadt daran zu erinnern, dass wir keineswegs von der Natur getrennt sind. Ich denke, dass auch Stadtgärten oder Bauernmärkte in dieser Hinsicht sinnvoll sind.
profil: Sie finden den grünen Bobo-Konsumenten also nicht lächerlich? Klein: Nein, ich bin selber eine grüne Konsumentin. Ich kaufe am Bauernmarkt ein. Ich unterstütze Stadtgarten-Initiativen. Ich überschätze das natürlich nicht. Das wird nicht die Lösung sein, aber es führt uns vor, wie Natur funktioniert.
Die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung ist kein Wunschtraum von mir, sondern eine schlichte Tatsache. Wir haben keine nicht-radikalen Optionen mehr.
profil: Sie fordern einen radikalen Wechsel, nämlich ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Andererseits sind die erfolgreichsten grünen Initiativen gerade in moderaten, sozialdemokratisch gefärbten Demokratien entstanden, in Skandinavien, in Deutschland, in Österreich. Wie sieht Ihre Strategie nun aus: die Moderaten stärken? Die Radikalen anfeuern? Klein: Dieses Buch war für mich das schwierigste, weil es mich zu derart radikalen Schlussfolgerungen geführt hat. Wenn Sie meine älteren Bücher lesen, werden Sie merken, dass ich zwar als feuerspuckende Radikale dargestellt worden bin, aber eigentlich recht moderat argumentiere - von links werde ich auch gern als angepasste Sozialdemokratin beschimpft. Die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung ist kein Wunschtraum von mir, sondern eine schlichte Tatsache. Wir haben keine nicht-radikalen Optionen mehr.
profil: Um mit Margaret Thatcher zu sprechen: Es gibt keine Alternative? Klein: Es gibt natürlich alle möglichen Alternativen. Aber es gibt kein Szenario, in dem wir einfach so weitermachen. Auch wenn wir nur ein bisschen langsamer in die falsche Richtung gehen, landen wir bei radikalen Veränderungen, bei seriellen Schocks, einem Stakkato von Katastrophen. Wenn wir in den 1990er-Jahren etwas mehr getan und die Emissionen um ein paar Prozent pro Jahr verringert hätten, dann müssten wir jetzt nicht so radikal handeln. Wenn man aber 25 Jahre nichts tut und das Problem nur verschlimmert, muss man irgendwann anders damit umgehen. In der grünen Bewegung gibt es viele Leute, die seit 25 Jahren am Klimaschutz arbeiten und immer noch argumentieren wie damals.
profil: Für eine Politik der kleinen Schritte. Klein: Genau. Aber es ist eben nicht mehr 1992. Es gibt eine Strafe fürs Prokrastinieren. Wenn man etwas verschläft, muss man am Ende drastischer gegensteuern.
profil: Nun könnte man natürlich argumentieren: Die unsichtbare Hand des freien Marktes wird schon noch eingreifen, wenn die Zeit reif ist. Irgendwann wird Klimaschutz ein Geschäft sein, und dann wird sich alles zum Positiven ändern. Klein: Vielleicht wird der Markt irgendwann in Richtung Klimaschutz schwenken. Aber darauf können wir in unserer Situation leider nicht warten. Die Frage ist nicht, ob man mit grünen Produkten Geld verdienen kann. Natürlich kann man das. Die Frage ist vielmehr, ob man damit die Emissionen um acht bis zehn Prozent pro Jahr reduzieren kann. Und das kann man nicht. Wir können unsere Zukunft nicht dem Markt überlassen.
profil: Klimagipfel scheitern genau daran allerdings auch sehr konsequent. Sie schreiben, welche Enttäuschung die UN-Klimakonferenz von Kopenhagen 2009 für Sie bedeutet hat. Haben Sie noch Hoffnung auf den kommenden Gipfel in Paris? Klein: Ich habe das Gefühl, dass Bewegung in die Sache gekommen ist. Wir wissen zwar, dass auf offizieller Ebene nicht viel passieren wird. Wir haben ja recht genaue Vorstellungen, mit welchen Vorschlägen die EU kommen wird, die USA, China. Das wird alles nicht dazu beitragen, die Erderwärmung auf zwei Grad zu beschränken. Aber zugleich bin ich überrascht, wie schnell sich die Dinge gerade entwickeln. In Deutschland schreitet die Energiewende voran, Obama redet inzwischen jede Woche über den Klimawandel. Aber was mir am meisten Hoffnung gibt, ist die Tatsache, dass der Ölpreis innerhalb von drei Monaten auf die Hälfte gefallen ist. Fossile Energieträger waren jahrzehntelang unfassbar profitabel. Das hat die Energiekonzerne so reich und mächtig gemacht. Und plötzlich ist ein Teil davon defizitär. Und schon ist die Teersandindustrie in Kanada in der Krise. Nicht wegen der Klimabewegung. Sondern wegen des Ölpreisverfalls.
profil: Der Markt hat es gerichtet! Klein: An dieser Front vielleicht. Meine Hoffnung für Paris ist, dass man unter diesen Umständen eine Übereinkunft findet, bestimmte fossile Reserven einfach nicht mehr anzutasten: Keine Bohrungen in der Arktis. Kein weiterer Teersandabbau. Das wäre schon ein tolles Ergebnis. Die Welt wird es aber leider auch nicht retten.
Naomi Klein: Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima. S. Fischer Verlag, 700 S., 27,80 EUR.
Naomi Klein, 44
Die kanadische Journalistin und Autorin wurde mit ihren Weltbestsellern "No Logo" (2000) und "Die Schock-Strategie" (2007) zu einer der bekanntesten Stimmen der Anti-Globalisierungsbewegung. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Filmemacher Avi Lewis, und ihrem dreijährigen Sohn in Toronto.