Ein Selbstversuch: Alle 40 Song-Contest-Kandidaten ohne Pause

Ein Selbstversuch: Alle 40 Song-Contest-Kandidaten ohne Pause

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Eduard Romanyuta will meine Liebe. Nein, Moment, es geht um ein Mädchen. Aber es scheint kompliziert zu sein: Eduard liegt in Ketten, zumindest zeigt ihn das Video zu „I Want Your Love“ im Knast. Schließlich gibt es auch noch Explosionen, Sex im Auto und Hubschrauberverfolgungsjagden. Aber auch im richtigen Leben sind die Dinge kompliziert. Romanyuta stammt eigentlich aus der Ukraine, die aber heuer aus verständlichen Gründen nicht am Song Contest teilnimmt. Schon drei Mal versuchte der heute 22-Jährige, sein Land beim Song Contest zu vertreten, scheiterte aber immer in der nationalen Vorausscheidung. Also hat er sich diesmal eben in der moldawischen Vorausscheidung durchgesetzt, freilich unter vehementem Schiebungsverdacht seitens seiner Mitbewerber. Der Mann hat offenbar eine Vision. Er zeigt uns, wie Europa zusammenwachsen kann: mit 200 SIM-Karten zum Sich-selbst-Wählen und einem Song aus dem Studiomistkübel von Britney Spears.

Exakt drei Minuten und sieben Sekunden dauert mein Experiment nun, und schon fallen die Erkenntnisse vom Himmel wie explodierende Hubschrauber. Wird es in diesem Tempo weitergehen? Ist der Eurovision Song Contest aufschlussreicher, als ihm landläufig zugestanden wird? Das Experiment geht übrigens so: Sämtliche teilnehmenden Künstler des Eurovision Song Contest werden auf dem offiziellen YouTube-Kanal des Eurovision Song Contest anhand ihrer Videos begutachtet, und zwar ohne Pause, streng hintereinander in der Folge ihres Auftretens. Dabei wird beobachtet: was da läuft, wie es klingt und aussieht, wie es sich anfühlt und was man daraus lernen kann. 40 Lieder, jeweils gut drei Minuten lang – macht netto zwei Stunden Musik. Halb so schlimm?

Ein heilloses Kuddelmuddel aus Kumpelei und alter Feindschaft, trotzigem Dagegen-aus-Prinzip und weltfremdem Lass-uns-Freunde-sein

Nun ist Zeit aber leider relativ. Das lässt sich schon beim zweiten Stück lernen. „Face the Shadow“ von der armenischen Band Genealogy beginnt wie eine klassische Song-Contest-Ballade (operettenhafte Dynamik, schlechtes Englisch, Klaviergeklimper), um dann ansatzlos in eine klassische Frühstücksradio-Powerballade zu münden (dramatische E-Gitarre, Grande Finale), und fühlt sich so lang an wie eine klassische Wagneroper. Ursprünglich hätte der Song übrigens „Don’t Deny“ heißen sollen, aber das wollte man den Türken angeblich nicht zumuten, die heuer ja schon wieder schmollen und keinen Sänger nach Wien geschickt haben.

Das wiederum muss man nicht unbedingt lernen, das wusste man schon irgendwie: Der Song Contest ist politisch, zumindest in jener Form, in der Politik vom TV-Publikum verstanden wird, nämlich als heilloses Kuddelmuddel aus Kumpelei und alter Feindschaft, trotzigem Dagegen-aus-Prinzip und weltfremdem Lass-uns-Freunde-sein. In Brüssel weiß man es vermutlich besser, und der belgische Teilnehmer Loic Nottet macht auch alles richtig, nämlich unverbindlich: Er sieht aus wie der ältere Bruder von Justin Bieber, lässt sich von Bass und Fingerschnipsen begleiten und zeigt, dass man als Teilnehmer der Castingshow „The Voice“ offenbar in ganz Europa die gleichen Phrasierungen lernt. „We gonna rapapap tonight.“ Danke, aber für richtig guten Rapapap muss man den Kopf frei haben, und das haben Genealogy vor ein paar Minuten leider total verunmöglicht. Merke: Die Nachbarschaft ist beim Song Contest nicht ganz unerheblich.

Wir bleiben in der Gegend, Trijntje Oosterhuis packt die Sheryl-Crow-Gitarre aus („Walk Along“) und hat wie ihr Vorgänger das Problem, dass tolle Namen beim Song Contest keine Punkte bringen. Aber möglicherweise ja eindringliche Refrains („Why? Whyeyeyeyey? Whyeyeyeyey?“). Das Experiment läuft keine zehn Minuten, und schon schleichen sich die ersten nationalistischen Reflexe ein: Das Lied wird nach 30 Sekunden für Käse gehalten. Merke: Der Mensch ist gern gemein und kann seine innere Sau beim Song Contest so richtig rauslassen, und zwar viel konzentrierter als beispielsweise bei einer Fußball-WM.

Wo bleibt eigentlich der Schuldenschnitt, wenn man ihn braucht?

Das liegt unter anderem daran, dass Finnland so selten an Fußball-Weltmeisterschaften teilnimmt. Dass das Land mit dem Punk-Quartett Pertti Kurikan Nimipäivät eindeutig die coolsten Teilnehmer ins Rennen schickt, merkt man schon an der Tatsache, dass die Band die Drei-Minuten-Grenze nicht, wie ausnahmslos alle anderen Teilnehmer, als Schmerzgrenze begreift, sondern eine schlichte Eineinhalb-Minuten-Nummer vorträgt, mit der eigentlich alles gesagt ist: „Aina mun pitää“, heißt angeblich so viel wie „Ich muss immer“. Ich muss inzwischen übrigens immer daran denken, dass es schon einen Grund hat, warum nicht alle 40 Teilnehmer gleichzeitig auf das Fernsehpublikum losgelassen, sondern auf zwei Semifinals aufgeteilt werden. Pertti Kurikan Nimipäivät werden den Contest übrigens, trotz ihrer uneinholbaren Überlegenheit in den Kategorien Bühnenpräsenz und Coolness, nicht gewinnen, weil die Kategorie Toleranz (die Bandmitglieder leiden am Down-Syndrom oder anderen Entwicklungsstörungen) schon im Vorjahr gestochen hat, und irgendwann muss Europa schließlich zur Normalität zurückfinden.

Leider sieht diese Normalität Maria Elena Kyriakou sehr ähnlich, die für Griechenland startet und in bester Céline-Dion-Tradition (dramatisches Hauchen, langgezogene Silben, verhuschtes Klavier) „One Last Breath“ einmahnt. Ist sicher nicht politisch gemeint. Und Griechenland spart eh schon. Aber dass sie ausgerechnet beim Song Contest damit anfangen müssen … Wo bleibt eigentlich der Schuldenschnitt, wenn man ihn braucht?

Und dann kommt sie. Die Überraschung. Zumindest für alle, die sich nicht großartig vorinformiert haben. Und wer macht so was auch, außer vielleicht Andi Knoll? Jedenfalls: Elina Born und Stig Rästa, Estland, „Goodbye to Yesterday“, erstes Mitwippen, große Erleichterung, endlich so etwas wie zeitgemäße Musik, konkret ein eingängiges, retro-schunkeliges Duett mit Countrygitarre und Posaune, nur der Titel ist eine Täuschung, es ist eher ein Tribut an Gestern, nämlich an die Vorjahres-Zweiten The Common Linnets. Aber, wie gesagt: Der Besonderheitsbonus wird in diesem Jahr nicht nochmal funktionieren, insofern: Top-Hit. Die Buchmacher haben sich übrigens bestens vorinformiert, Quote 1:5.

Man wird echt dankbar mit der Zeit. Insofern: Siegpotenzial

Vorab anhand bloßer Songs irgendwelche Siegchancen auszurechnen, widerspricht dem Geist des Song Contest total, man muss das so deutlich sagen. Es geht hier ja nur sehr oberflächlich um Musik, es geht um das Zusammenwirken von Musik, Stimmung und so etwas Ähnlichem wie Politik, wobei sich dieses Zusammenwirken nur in der Live-Show wirklich herstellt, weil es ein ganzes Kollektiv braucht, das sich ihm hingibt, und nicht nur einen einzelnen Journalisten. Dramatischer Zwischenverdacht: Vielleicht handelt es sich bei diesem ganzen Versuch um vergebliche Liebesmüh?

Man könnte sich natürlich bei Daniel Kajmakoski aus Mazedonien erkundigen, der kennt sich mit verlorener Liebe aus, weshalb sein Lied auch „Autumn Leaves“ heißt. Herbstlaub. Der Sommer ist vorbei, das erste Halbfinale noch lange nicht. „My heart is beating like a million drums.“ Meines: nicht. Eine Zweitverwertung des Songs im ORF-Sportprogramm scheint trotzdem nicht ausgeschlossen (Stimmungsbilder vor Langlaufrennen), und um die nächste Kurve biegt eh schon Bojana Stamenov aus Serbien und behauptet „Beauty Never Lies“, was natürlich eine tolle Ansage ist, vor allem mit dem Zusatz: „Finally I can say, I am different and it’s okay.“ Stamenov wird auch gern als „serbische Adele“ bezeichnet, was offenbar als Qualitätsbeweis gemeint ist. Und dann reißt sie einen mit einem Tusch aus dem Dämmern, der Song geht ansatzlos in furiose Euro-Disco über. Man wird echt dankbar mit der Zeit. Insofern: Siegpotenzial.

Das gilt nicht für Ungarn beziehungsweise Boggie, ein Duo, das mit „Wars for Nothing“ antritt, einer Art Folk-Ballade, der es vor allem an so etwas wie Glaubwürdigkeit oder wenigstens Schwung mangelt, die aber dafür ein sehr tolles Video hat, in dem Boggie in einer Fußgängerzone auftreten, sehr glaubwürdig tun und durch die Kraft der Musik und ihrer Botschaft alle umstehenden Passanten mitsamt ihren Smartphones mitreißen. Nur ein Passant filmt lieber den Himmel. Man kann ihn irgendwie verstehen. Leider wird beim eigentlichen Song Contest auch niemand das Video sehen, das die weißrussischen Starter Uzari & Maimuna für ihren Song „Time“ drehen ließen. Man verpasst unter anderem: Ohrenschützer aus grün verchromten Strohhalmen, Geigenspielerin in Sanduhr (unterer Kegel), rote Schlangen (auf der Geige). Was man hört: Pathos in all seinen Formen (Stampfen, Geigen, Klatschen, Knödeln). Wird nicht gewinnen, aber zweifellos in Erinnerung bleiben. Merke: Europa ist offenbar echt verschiedener, als man so gemeinhin annimmt.

Und ganz große Frage: Ist am Ende gar der Song Contest schuld an den weltweit sinkenden Aufmerksamkeitsspannen?

Vor allem, wenn man auch noch Russland hineinpackt. Polina Gagarina hat den möglicherweise undankbarsten Job übernommen, der in Wien verfügbar war (Ausnahme: Andi Knoll) und vertritt die Bösen vom Vorjahr. Und natürlich wird man sie heuer ganz gemein missverstehen, schon die erste Zeile klingt nach „We are the worst people“ (im Original: „We are the world’s people“). Aber vielleicht feilt Gagarina noch an ihrer Aussprache. Und der Refrain wäre ja eindeutig: „A Million Voices“. Sprich: Vielfalt, Toleranz, alles gut. Gut, ganz im professionellen Sinn, ist übrigens auch das Lied an sich, an dem hörbar zwischen fünf und 15 Top-Produzenten gefeilt haben. Konsequenter kann man ein Song-Contest-Lied nicht auf Sieg trimmen. Aufstieg ins Finale trotzdem ausgeschlossen.

YouTube zeigt mir in der Randspalte plötzlich Werbung für das neue „DJ-Kicks“-Album von Actress. Große Versuchung! Und ganz große Frage: Ist am Ende gar der Song Contest schuld an den weltweit sinkenden Aufmerksamkeitsspannen? Und wo bleibt Facebook? Dänemark macht gleich darauf lustigerweise auf Anti Social Media. So nennen sich vier Mädchenschwärme, denen es mühelos gelingt, 20 gute, eigentlich sogar echt erfrischende Sekunden Retro-Pop mit nur zwei Takten Schalala-Refrain kaputtzuknüppeln. Möglicherweise ist die Musik aber in Dänemark einfach schon in den späten 1970er-Jahren stehengeblieben. Aber auch in Albanien (Elhaida Dani, „I’m Alive“, Kategorie: tausend Mal gehört, tausend Mal weggehört). Und in Rumänien (Voltaj, „De la capat“, Kategorie: Autowerbespotmusik).

Und plötzlich ist Krieg. Das liegt an Georgien beziehungsweise Nina Sublatti, deren dramatisch verhallte Power-Ballade „Warrior“ unter anderem mit enormen Falken, verstrahlten Wölfen und schillernden Kriegerinnenkorsagen illustriert wird, die freilich allesamt gegen Frau Sublattis spektakuläre Tätowierungen abfallen, mit denen sich zweifellos jede Schlacht gewinnen ließe. Aber wir sind zum Glück nicht ernsthaft in Gefahr, sondern nur am Ende des ersten Halbfinaldurchgangs beziehungsweise kurz vor Litauen. Im Video zu „This Time“ von Monika Linkytė und Vaidas Baumila werden in bester Social-Media-Manier bildschöne Agenturstatisten dabei gefilmt, wie sie den Song zum angeblich ersten Mal hören. Ihre Reaktionen schwanken zwischen Lachen, Händchenhalten, Schmusen und Auswendigmitsingen, was einen schönen Kontrast abgibt zu all der professionellen Verlogenheit, mit der einen dieser Bewerb sonst so anstrahlt. Vielleicht haben die Statisten aber auch nur getrunken.

Zwischenfrage: War Song Contest früher nicht aufregender? Irgendwie lustiger? Oder zumindest seltsamer?

Apropos: endlich Irland! Erfolgreichste Song-Contest-Nation aller Zeiten. Westlichster Teilnehmer. Die Benchmark. Molly Sterling bemüht für „Playing With Numbers“ denn auch ganz nach Schema ein dezentes Klavier und zarte Phrasierungen, Liebeskummer und dramatisches Knödeln, was den Gedanken nahelegt, dass sie uns nur veräppeln will. Musizieren nach Zahlen? Genau. 18 von 40. Nicht ausgeschlossen, dass das Beste noch kommt. Die Chancen werden natürlich geringer.

Die Chancen, dass Anita Simoncini und Michele Perniola aus San Marino den Song Contest gewinnen, beziffern die Buchmacher aktuell mit null. Dabei geben sie alles: wilde Synkopen, Streicher, mutige Tempo- und Genrewechsel, Weltfriedensbotschaft und dazu im Video auch noch Sternschnuppen, leuchtende Handys und Golfspieler. Merke: „If we all light a candle, we can build a chain of light.“ San Marino muss ein lustiges Land sein. Und immerhin begütert genug, um sich Ralph Siegel als Produzenten leisten zu können. Oder Siegel hat seine Ansprüche hinuntergeschraubt.

Aber auch wenn wir alle eine Kerze anzünden, wird sie jedenfalls vor Schreck ausgehen, sollte Knez (bürgerlich: Nenad Knežević) auch in Wien das Sakko anziehen, das er im Video zu „Adio“ trägt, dem ersten ernsthaft folkloristischen Beitrag im Bewerb und dem einzigen aus Montenegro. Gut für die Kerzen: Knez wird das Sakko jedenfalls nur ein Mal tragen – Finale ausgeschlossen. Gilt auch für: Amber aus Malta mit „Warrior“ (Leitmotiv!) sowie Morland und Debrah Scarlett aus Norwegen mit „A Monster Like Me“.

Zwischenfrage: War Song Contest früher nicht aufregender? Irgendwie lustiger? Oder zumindest seltsamer? Womöglich muss man Ralph Siegel doch als einen guten Geist aus der schönen alten Zeit ansehen. Aber will man das wirklich? Und warum hat Leonor Andrade (Portugal, „Ha um mar que nos separa“) so seltsam abstehende Haare? Elektrische Ladung oder irgendeine andere Form von Energie eher unwahrscheinlich. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt: „Hope Never Dies“ (Marta Jandová und Václav Noid Bárta, Tschechien), aber das klingt dann leider auch nur wie Musik für einen Fantasyfilm. Im Video verirren sich Marta und Václav in einem Spiegelkabinett, im Lied zwischen Schwulst und Phrasen. Die Hoffnung ist echt im Eimer. Aber immerhin: nur noch vier Nummern bis Schweden, das ja angeblich in diesem Jahr so dermaßen großartig ist, dass zumindest die Buchmacher jeder anderslautende Sieger echt schockieren würde.

Verglichen mit nichts ist wenig immerhin mehr. Was soll jetzt noch kommen?

Nun liegt Schweden allerdings, von Tschechien aus gesehen, hinter Israel (Nadav Guedj: „Golden Boy“; hat schon mal was von Justin Timberlake gehört, leider nicht das Richtige), Lettland (Aminata: „Love Injected“; tolle Sex-Metapher!), Aserbeidschan (Elnur Hüseynov: „Hour of the Wolf“; Kategorie: ORF-Sportfilmmusik, für die Zeitlupenszene kurz vor dem Finale) und Island (María Ólafsdóttir: „Unbroken“, Kategorie: beim Hören schon wieder vergessen). Aber das ist ja zum Glück nicht so weit, besonders wenn man es schon so eilig hat wie wir heute.

Hätten wir andererseits nicht haben müssen. Mans Zelmerlöws „Heroes“ macht nämlich auch nicht viel anderes als die anderen. Immerhin macht er es ein bisschen anders, dreht nicht bei der erstbesten Gelegenheit in Richtung Refrain ab und hält auch den „flotten“ Teil des Lieds, in dem man die Hände in die Luft reißen darf, ein bisschen zurück. Aber verglichen mit nichts ist wenig immerhin mehr. Was soll jetzt noch kommen?

Ach ja, richtig: die Schweiz. Mélanie René, „Time to Shine“. Es handelt sich offenbar um eine Waldbewohnerin mit Federschmuck und Faible für TripHop und Panflöte, also eine recht durchschnittliche Eurovisions-Kandidatin, die aber bei erstbester Gelegenheit in Richtung Refrain abbiegt, um Giannis Karagiannis aus Zypern Platz zu machen, der wiederum einen wichtigen Gedanken wälzt, den man an dieser Stelle (31 von 40) durchaus nachvollziehen kann: „One Thing I Should Have Done“. Ausschalten zum Beispiel und hinausgehen. Es ist übrigens sehr sommerlich am Tag dieses Experiments. Menschen sitzen im Park, schauen auf Song-Contest-Plakate und wissen wahrscheinlich nicht einmal, was ihnen droht. Karagiannis’ Lied stellt sich dann aber als echtes Highlight heraus: Eine unaufgeregte Stimme singt ein unaufregendes Lied, das von Cat Stevens oder Mr. Big sein könnte, und wird ohne dramatischen Effekt nur von einer gezupften Gitarre begleitet. Und leistet sich gegen Ende sogar eine kurze A-cappella-Passage. Gänsehaut. Allen Ernstes. Vielleicht sollte ich ja wirklich in die Sonne gehen.

Wer zuletzt lacht, heißt mit großer Wahrscheinlichkeit Andi Knoll

Ferner liefen: Slowenien (Maraaya: „Here for You“, Kategorie: Amy Winehouse auf Breakbeat), Polen (Monika Kuszyńska: „In the Name of Love“, Kategorie: noch vor dem Hören vergessen) sowie die sogenannten „Big Five“ plus zwei. Dazu muss man wissen, dass Leistung in der Eurovision nur bedingt zählt. Wer zahlt, schafft an und kommt mit jedem Schas ins Finale. Konkret gilt das für die fünf größten Beitragszahler zur European Broadcasting Union, die für das Finale gesetzt sind und in diesem Vorversuch einen weiteren entscheidenden Vorteil haben: Man ist nach 33 Halbfinalisten wirklich schon ein bisschen willenlos, und das schließt auch Widerwillen mit ein. Zunächst aber sieht die offizielle Playlist noch zwei Ehrengäste vor, nämlich jenen aus Australien sowie den Titelverteidiger, also uns. Ersterer, ein gewisser Guy Sebastian, darf mit „Tonight Again“ zeigen, dass es auch ganz anders ginge, nämlich zum Beispiel sehr ansprechend poppig-soulig und, ja, geradezu mitreißend. Aber down under ist natürlich leicht locker sein, hierzulande, also in Österreich, eher nicht. The Makemakes verzichten zwar auf den bewerbsüblichen Balladenkram, aber leider nicht auf den belanglosesten Softrock seit Litauen. Man kann irgendwie nachvollziehen, dass sie in der ORF-Vorausscheidung ihr Klavier angezündet haben. Lagerfeuerstimmung war trotzdem schon mal mehr.

Aufregung aber auch, obwohl nun, endlich, die großen Fünf bevorstehen. Wobei Lisa Angell aus Frankreich eher vergeblich darum bittet, sie nicht gleich wieder zu vergessen („N’oubliez pas“), worauf Ann Sophie aus Deutschland „Black Smoke“ (und eine ordentliche Portion verdünnter Adelehaftigkeit) über die Tatsache breitet, dass sie eigentlich gar nicht als Starterin vorgesehen war, aber der vorgesehene Starter sich leider selbst aus dem Rennen nahm.

Aus unerfindlichen Gründen erreichen die italienischen Operettensänger Il Volo mit „Grande Amore“ eine Wettquote von 1:3,75. Im Video wird erotisch getöpfert, vor dem Bildschirm macht sich Appetit auf Spaghetti Carbonara breit, idealerweise eingenommen unter Plastikfischernetzen und Al-Bano-Beschallung. Felicità! Leider gibt es vorweg noch „Amenecer“, vorgetragen von der spanischen Balladensängerin Edurne, aber in diesem Stadium können weder dramatische Vibratos noch Videos von spanischen Kriegern und goldenen Tigern ihre gewohnte Wirkung (Fluchtreflex) entfalten. Letzteres bleibt dem letzten, dem britischen Teilnehmer vorbehalten: Electro Velvet mit „Still in Love with You“. Das Stück fällt völlig aus der Reihe und stammt aus dem momentan sehr beliebten Genre Electro-Swing, das gern so tut, als sei die Gegenwart (Elektro-Beat) ganz toll und lustig und spaßbetont, wenn man sie nur in einen etwas altmodischen Kontext setzt (Swing-Jazz).

Und vielleicht liegt genau darin das Geheimnis des Song Contest: dass er, bei allem dreifach gesättigten Schmalz, aller inhaltslosen Dramatik, aller grinsenden Jenseitigkeit doch insofern ehrlich ist, als er nicht darüber hinwegtäuscht, dass das alles überhaupt nicht lustig ist, wenn man es auch nur halbwegs ernst nimmt. Es handelt sich um eine grundehrliche Veranstaltung, die zwar nichts mit dem normalen Leben zu tun hat, aber genau so funktioniert: meistens langweilig, manchmal melodramatisch, für kurze Augenblicke mitreißend, bis man merkt, dass alles nur ein Schmäh war. Und wer zuletzt lacht, heißt mit großer Wahrscheinlichkeit Andi Knoll.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.