Hart, aber ehrlich

Fadi Merza: vom Schlosserlehrling zum Thaibox-Weltmeister

Porträt. Vom Schlosserlehrling zum Thaibox-Weltmeister

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Gleich der erste Schlag trifft die Plastikmatte mit einer Wucht, die Fragen aufwirft: Wie viele solche Tritte würde ein ausgewachsener Baum aushalten? Oder ein Laternenpfahl? Oder Fadi Merzas Trainer Marco Fidanza, der die besagte Plastikmatte unter den linken Arm geklemmt trägt und seltsamerweise immer noch aufrecht steht und - noch seltsamer - auf weiteren Schlägen besteht. Rechts. Links. Links. Weiter, weiter. Fadi Merza schnauft und tritt, sieben mal drei Minuten lang, in den halbminütigen Pausen schwitzt Merza wie aus Kübeln, lächelt gequält und schimpft nur halb im Scherz: "Marco nervt mich! Der wartet ja nur, bis ich richtig müde bin, und will dann immer mehr, mehr, mehr.“ Fidanzia lächelt gutmütig und sagt: "Mehr, mehr, mehr.“ Eine Stunde später, beim Zirkeltraining, wird Merza immer noch schwitzen und keuchen und der Meinung sein, heute schon genug Liegestütze gemacht zu haben. Fidanzia wird ihm entschieden widersprechen.

Schließlich will Fadi Merza, 35, noch einmal Mittelgewichtsweltmeister im Thaiboxen werden. Am 23. November soll er sich im Wiener Budocenter jenen Titel zurückholen, den er im Mai verloren hatte, nachdem ihm im Kampf gegen den italienischen Champion Fernando Calzetta beide Kreuzbänder gerissen waren. Zeit für eine philosophische Frage: Warum tut man sich so etwas eigentlich an? Was ist das Schöne am Thaiboxen, einer Sportart, in der Kreuzbänder reißen, Füße auf Nasen krachen und Knie auf Kiefer? "Na ja, für Außenstehende wirkt das natürlich brutal. Aber genau das hat mich an dieser Sportart immer schon fasziniert: Sie ist hart, aber ehrlich“, sagt Merza: "Ihre Härte ist gleichzeitig ihre Fairness. Da messen sich zwei ebenbürtige Gegner nach klaren Regeln im Ring und am Ende steigt der als Sieger heraus, der im Training mehr geschwitzt hat. Bei uns gibt es keine Show wie im Boxen, da wird nicht schon bei der Pressekonferenz herumgerempelt und gestänkert. In den 15 Minuten im Ring schenkt man sich nichts, da versucht man, dem anderen möglichst wehzutun. Aber hinterher geht man gemeinsam einen trinken. Thaiboxen ist eine fernöstliche Kampfkunst. Da spielt Respekt vor dem Gegner eine große Rolle.“

Merza weiß aus persönlicher Anschauung, wovon er spricht. Er weiß, dass Thaiboxen ein edler Sport ist, ein Sport der Könige. Beziehungsweise: des Königs von Thailand. Vor drei Jahren qualifizierte sich Merza für den King’s Cup in Bangkok, ein Turnier, das mit dem ATP Masters im Tennis oder einer Champions-League-Endrunde vergleichbar, aber eigentlich viel wichtiger ist: Die besten acht Kämpfer der Welt messen sich in einem eintägigen Turnier zu Ehren des thailändischen Königs Bhumibol. Um den Ring vor dem Königspalast tummeln sich mehrere hunderttausend Zuschauer, Millionen verfolgen das Spektakel im Fernsehen. "Das ist echt der Wahnsinn. Ich kriege noch immer eine Gänsehaut, wenn ich nur davon erzähle.“ Merza gewann damals, im Dezember 2010, zwar seinen ersten Kampf, wurde aber anschließend vom Ringarzt aus dem Turnier genommen, weil er sich einen Trommelfellriss zugezogen hatte. "Das war schon schmerzhaft. Aber dieser eine Kampf allein war ein Wahnsinn. Diese Erinnerung kann mir keiner nehmen.“

Hier und heute freilich scheint diese Erinnerung doch eine Spur weiter entfernt als drei Jahre und 8000 Kilometer. In Österreich ist Thaiboxen eine Randsportart mit eher mauem Image. Merza trainiert in einem Kampfsportstudio in Wien Meidling, in einem Viertel, das möglicherweise an der Schwelle zur Hipness steht, aber aktuell eben doch noch eine Gegend ist, in der man sein Rad nicht über Nacht anketten möchte. Im Gym stehen in einer Vitrine ein paar Pokale und Boxchamp-Gürtel, an der Bar ein paar zukünftige Boxchamps in kurzen Hosen und mit noch kürzeren Haaren. Im Obergeschoss kreischen Achtjährige beim Kindertraining, im Hintergrund läuft HipHop. Merza schlägt vor, zum Interview in eine nahegelegene Burger-King-Filiale zu übersiedeln. Da hätte man seine Ruhe. Und Merza braucht Ruhe für seine Geschichte. Sie beginnt filmreif und hat ein seltsames Happy End.

Sehr bescheidene Verhältnisse
"Meine Eltern sind Ende der 1980er-Jahre aus Syrien nach Österreich gekommen. Sie wollten uns eine bessere Zukunft aufbauen. Nach ein paar Jahren sind wir Kinder dann nachgekommen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich in den ersten paar Tagen in Wien auf der Straße gestanden bin und kein Wort verstanden habe. Da habe ich entsetzlich geweint und mich gefragt: Was mache ich da? Was haben meine Eltern mit mir gemacht?“ Fadi, der elfjährige Junge aus Syrien, stand damals in Ottakring, und die bessere Zukunft, die sich seine Eltern ausgemalt hatten, war noch nicht sichtbar. "Das waren schon sehr bescheidene Verhältnisse, und auch nicht unbedingt die kultivierteste Gegend, um als junger Bub aufzuwachsen. Da bist du immer wieder in Konflikte hineingeraten. Auch deshalb ist mein Interesse am Kampfsport erwacht.“

Erster Nasenbeinbruch
Für eine Mitgliedschaft in einem Kampfsportclub reichte das Taschengeld nie im Leben, also vertiefte sich Merza ins Studium einschlägiger Jean-Claude-Van-Damme-Filme und bearbeitete einen selbstgebastelten Sandsack. "Aber ich will auch nicht sagen, dass ich es extrem schwer hatte. Wenn man so jung in ein fremdes Land kommt, wird man ins kalte Wasser geschmissen, aber man lernt doch recht schnell schwimmen. Nach ein paar Monaten mit Deutschkurs und Hauptschule hat die Welt schon anders ausgeschaut.“ Und mit seinem ersten Lohn als Schlosserlehrling (400 Schilling) meldete sich der 16-Jährige in einer Kampfsportschule an. Schon ein halbes Jahr später bestritt er seinen ersten Thaibox-Kampf. Klassische Boxerfilm-Szene: "Ein Veranstalter ist ins Gym gekommen und hat nach einem Ersatz für einen ausgefallenen Kämpfer gesucht. Mein Trainer hat zwar gemeint, ich soll noch ein bisschen warten. Aber ich habe es wissen wollen.“ Das Ergebnis, vor 1000 tobenden Fans im Wiener Budocenter: eine klare Niederlage und ein erster Nasenbeinbruch (von insgesamt drei bis dato). "Ich hab fürchterliche Schläge bekommen, aber ich wusste sofort: Das will ich weiter machen.“

Er machte also weiter. Aktuell steht Merzas Kampfstatistik bei knapp 160 Kämpfen, auf die Gesellenprüfung hat er dem Sport zuliebe verzichtet. Er bereut es bis heute nicht. Drei bis vier Kämpfe will er noch machen, aber auch ein Champion muss irgendwann ans Aufhören denken. "Leicht fällt mir das nicht. Ich bin jetzt seit 19 Jahren dabei, Thaiboxen ist ein Teil meines Lebens. Aber ich bin 35, und die Heilungsprozesse dauern schon wesentlich länger als früher. Wir sind halt keine Golfspieler.“

„Da rein, da raus, fertig”
Zurück im Kampfsportstudio, das Kindertraining ist gerade vorbei, die Achtjährigen toben über speckig-rote Bodenmatten am Champion vorbei, die Kenner unter ihnen grüßen fröhlich: "Tschüss Fadi!“ Der Champion grüßt zurück. Wie ist das eigentlich, wenn man in der ganzen Stadt als Thaibox-Profi erkannt wird? Wird man oft provoziert, von wegen, dem Champion zeig’ ich’s jetzt aber? "Früher war das öfter der Fall. Aber man muss schauen, dass man solchen Situationen aus dem Weg geht. Thaiboxen ist eine Sportart, die nicht auf die Straße gehört. Du weißt, was du kannst, und du weißt, was passieren würde, wenn das zum Einsatz käme. Das will man nicht. Sonst säße ich jetzt auch nicht hier, sondern ganz woanders. Am besten ignoriert man solche Provokationen. Da rein, da raus, fertig.“

„Peinlichster Promi” des Landes
Exakt dieselbe Phrase wird Merza später im Gespräch noch einmal verwenden, in einem ganz anderen, aber irgendwie auch ähnlichen Zusammenhang. Es wird dabei um die Tiefschläge gehen, die ihm die österreichische Boulevardpresse regelmäßig versetzt. Erst vor ein paar Wochen wurde Merza vom Magazin "News“ zum "peinlichsten Promi“ des Landes gekürt, was ihn zwar fürchterlich aufregt, aber andererseits: da rein, da raus. Merza, das muss man wissen, verfügt nicht nur über ein Talent für beinharte Fußtritte, sondern auch über eine zweite erstaunliche Begabung: Er amüsiert sich tatsächlich auf sogenannten "Society-Events“.

Seit ungefähr zwei Jahren tanzt Fadi Merza - meist in Begleitung seiner Frau Ines - mit großem Einsatz über das Seitenblicke-Gesellschaftsparkett, besucht Boutiqueneröffnungen und Buchvorstellungen, Charity-Galas und Weintaufen und lässt sich ohne Hemmungen mit Schillers, Lugners und Edifingers fotografieren - und findet das allen Ernstes auch noch lustig. "Ich bin jung, meine Frau auch, und man unternimmt halt gern was, macht hin und wieder einfach gern Party.“ Nun könnte man wohl auch anderswo Party machen, aber Merza hat eben doch ein Anliegen: "Ich nutze das als Plattform, um meinen Sport in der Öffentlichkeit zu etablieren. Mein großer Wunsch ist, der Gesellschaft beizubringen, dass Thaiboxer keine Schlägertypen sind, sondern disziplinierte Sportler.“

Arabisch-Deutscher Übersetzer
Sportler freilich, die in Österreich leider auch als Weltmeister nicht von ihrem Beruf leben können. Sponsorengelder und Kampfgagen decken allenfalls die Trainingskosten. Darum arbeitet Merza seit acht Jahren als Übersetzer für das Innenministerium: Arabisch-Deutsch in Asylangelegenheiten und Polizeisachen. "Eine wirklich spannende Arbeit, die ich liebe. Aber was man da täglich erlebt, ist schon auch oft ziemlich heavy.“ Und prägend: Merza sieht die österreichische Asylpolitik recht pragmatisch. "Ich bekomme eben mit, wie viele Leute nach Österreich kommen und ihre Asylrechte missbrauchen. Irgendwann geht das Fass über.“ Freiheitliche Wahlerfolge schockieren Merza nicht mehr, er kann sie irgendwie verstehen: "Wenn man in eine andere Kultur kommt, dann muss man sich anpassen. Und wenn man sich anpasst und an die Regeln hält, wird man hier eh grundsätzlich mit offenen Armen angenommen.“

„Einschläge und Explosionen”
Seit einigen Monaten wird Merzas Pragmatik allerdings auf eine schwere Probe gestellt. Er selbst war zwar seit 22 Jahren nicht mehr in seiner alten Heimat, hat aber Verwandtschaft in Syrien. Es besteht Grund zur Sorge. "Wenn wir telefonieren, hören wir im Hintergrund immer wieder Einschläge und Explosionen.“ Ob mit dem jüngst genehmigten Flüchtlingskontingent auch Merzas Onkel und Tanten nach Österreich kommen können, steht noch nicht fest. Merza hofft und betet. Der Thaiboxer ist praktizierender Christ. Vor jedem Kampf besucht er eine Kirche und zündet eine Kerze an. "Das ist mir wirklich sehr wichtig.“

Vor der Religion kommt aber immer noch die Qual. Schnurspringen, Aufwärmen, Dehnen, sieben Runden Ringtraining, je 200 Situps, Liegestütz, Strecksprünge, dann wieder Schnurspringen. Das Ganze sechsmal die Woche. Erst wenn Fadi Merza ganz kaputt ist, ist sein Trainer Marco Fidanza zufrieden. Er weiß: Thaiboxen ist hart, aber ehrlich. Wer sich mehr quält, gewinnt. Davon kann, wer will, auch etwas fürs Leben lernen.

Fürs Leben danach auch? Darauf kann sich Merza jetzt gerade leider gar nicht konzentrieren, erst einmal muss der WM-Titel zurückgeholt werden. Irgendwann im nächsten Jahr wird aber Schluss sein mit der Profikarriere. Dann will Merza eine eigene Thaibox-Schule eröffnen, in der er vor allem mit Jugendlichen arbeiten möchte. "Ich bin damals als einer von 100.000 Ausländern nach Österreich gekommen. Der Sport war eine Riesenchance für mich. Diese Chance will ich weitergeben.“

Sonst noch Wünsche? Ja. Ein Baby mit Ines. Und noch etwas: "Manchmal wünsche ich mir, eine normale Nase zu haben. Vielleicht lasse ich mir die richten. Weil manchmal stehe ich schon vor dem Spiegel und denke mir: Bist du gelähmt, was hast du da für ein Gerät!“ Aber ehrlich.

Fotos: Florian Rainer

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.