Daniel Kehlmann im profil-Interview

Interview: „Am liebsten würde ich das Buch in die Ecke schmeißen“

Über seinen Sensations- erfolg & Literaturgroupies

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profil: Sie scheinen im Besitz des wertvollsten Erfolgsrezepts der Literaturgeschichte zu sein. Lüften Sie das Geheimnis, wie man einen Bestseller schreibt?
Kehlmann: Es gibt kein Geheimnis. Der Erfolg wird in diesem Ausmaß wahrscheinlich unwiederholbar bleiben, ich bin aber auch nicht darauf aus, diesen Bestseller dann wieder zu übertreffen. „Die Vermessung der Welt“ muss etwas getroffen haben, das in der Luft liegt, das mit der Zeit zu tun hat. Sonst kann ich mir nicht erklären, wie ein dezidiert literarisches Buch voll von historischen und literarischen Anspielungen und mit in indirekter Rede geschriebenen Dialogen zwanzig Wochen lang Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste belegen kann. Ich kann das wirklich nicht gut analysieren. Für mich ist es wie ein Lottogewinn. Man nimmt das hin, man freut sich und fragt lieber nicht zu viel – allein schon, weil man Angst hat aufzuwachen.
profil: „Die Vermessung der Welt“ verkaufte sich als Hardcover bislang allein im deutschsprachigen Raum über eine halbe Million Mal. Wie kommt es, dass ein Buch mit vielen versteckten Qualitäten so viel Erfolg hat? Die „Vermessung“ ist beispielsweise ein historischer Roman, in dem nur einmal, gleich im ersten Satz, ein Datum genannt wird.
Kehlmann: Von vielen Lesern werden diese verborgenen Qualitäten natürlich übersehen. Was mich aber besonders freut: Das Massen- und Einschaltquotendenken der Fernsehanstalten und der Medienkonzerne stimmt so nicht. Was ein bisschen intelligenter ist und ein bisschen mehr Niveau aufweist, wird in so vielen Medien von Leuten zensuriert, die meinen, das verstehe das breite Publikum ohnehin nicht. Es sind vielleicht nicht Millionen, aber doch einige Hunderttausende, die durchaus dazu fähig sind, intelligente Bücher und Zeitschriften zu lesen und geistreiche Fernsehsendungen zu sehen. Ich habe mit meinem Vater (dem unlängst verstorbenen Regisseur Michael Kehlmann, Anm.) darüber oft gesprochen. Er meinte: Es gibt ein großes Publikum für Niveau. Ich habe mir dann immer gedacht: Na ja, hoffentlich hat er Recht, aber es ist ein frommer Wunsch. Wie ich jetzt sehe, lag er richtig.
profil: Viele Beobachter sind verwundert, dass gerade Sie einen solchen kommerziellen Erfolg erzielen konnten.
Kehlmann: Ich teile die Verwunderung und betrachte diese Tatsache zugleich als erfreuliches Symptom. Ich erfahre unter deutschen Schriftstellerkollegen keineswegs viel Neid und Missgunst. Viele freuen sich mit mir, dass es noch ein großes Publikum für literarische Bücher gibt.
profil: „Deutsche Romanautoren werden Hoffnungsträger“, bemerkte jüngst das Branchenblatt „Buchreport“. Für das „Handelsblatt“ sind Sie der „Beleg“ für diese These. Eine große Bürde?
Kehlmann: Damit kann man nur umgehen, indem man es nicht allzu ernst nimmt. Ich bin natürlich kein Hoffnungsträger. Denn das würde implizieren, dass ich auch in Zukunft ständig Dinge schreibe, die so verkäuflich sind, sowohl was den Markt als auch was das Auslandslizenzgeschäft betrifft. Das wird natürlich nicht der Fall sein. Ich sehe die „Vermessung“ als Buch, das mein ganzes Werk von jetzt an quersubventionieren wird.
profil: Die „Vermessung“ ist seit neun Monaten im Handel. Ist über den Roman mittlerweile alles gesagt?
Kehlmann: Als Autor versteckt man sehr viele Kleinigkeiten in einem Roman: Anspielungen, Bezüge und Verbindungen. Davon ist, zumindest was die publizierten Reaktionen betrifft, noch vieles nicht entdeckt. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich so eine große Zuneigung zu diesem Buch habe. In der „Vermessung“ ist mir das Spiel mit versteckten Motiven, mit dem Wiederaufnehmen von Melodien und Bildern am besten gelungen. Gerade wenn ein Buch so sehr als Phänomen besprochen wird, wird die Rezeption eine sehr ungenaue. Ich will mich darüber aber nicht beschweren, das liegt in der Natur der Sache.
profil: In jüngster Zeit mehren sich jene Stimmen, die monieren, dass die Qualität Ihres Romans keineswegs für den Erfolg verantwortlich gemacht werden könne. Kränkt Sie das?
Kehlmann: Es gibt die schöne Regel: Ab einem gewissen Grad des Erfolgs werden nicht mehr Bücher rezensiert, sondern der Ruf, den man hat. Insofern mache ich mir keine Sorgen. Die allgemeine Beliebtheit ist sehr schön und macht große Freude, dauert aber nie lang. Warten Sie auf mein nächstes Buch. Egal, wie gut das wird, es ist unmöglich, dass dann nicht sehr viele Leute enttäuscht sein werden. Es werden dann viele den Wunsch haben, meine Reputation zurechtzustutzen.
profil: Sie sind ein ausgezeichneter Kenner der Literaturgeschichte und daher bestens vertraut mit dem Phänomen Jakob Wassermann. Der 1934 verstorbene Autor war zu seiner Zeit ein Bestsellerautor – heute ist er nahezu vergessen. Wird man Ihre Bücher in dreißig Jahren noch lesen?
Kehlmann: Man muss das differenziert sehen. Diese Sorgen habe ich mir eher gemacht, als meine Novelle „Der fernste Ort“ praktisch ungelesen und erfolglos unterging. Die Gefahr, dass man vergessen wird, ist natürlich viel größer, wenn man überhaupt nie wahrgenommen wurde. Der Erfolg zu Lebzeiten ist natürlich keine Garantie dafür, dass das Werk überlebt, aber er verbessert die Chancen deutlich. Außerdem: Wenn man sich über ein Jakob-Wassermann-Schicksal Sorgen macht, sind das Sorgen auf einem sehr hohen Niveau.
profil: Ähnelt Ihr Leben nach der „Vermessung“ noch jenem davor?
Kehlmann: Im Grunde ja. Man muss auf dem Teppich bleiben. Ich habe natürlich ganz gut verdient mit dem Buch. Das heißt aber nicht, dass ich mir nun einen Sportwagen kaufen werde. Ich sehe dieses Geld als Absicherung, um ohne Abhängigkeiten weitere Bücher schreiben zu können, nicht als Möglichkeit, mir einen vorher undenkbaren Luxus zu ermöglichen.
profil: Sie haben sich überhaupt keine Lustbarkeit gegönnt?
Kehlmann: Ich übersiedle jetzt in eine deutlich größere Wohnung. Ich habe mir gedacht, ein paar Sachen muss ich mir doch leisten, sonst wäre es stillos.
profil: Sie haben einmal gesagt, Ihr geheimes Schreibthema sei das „zunehmende Chaos im Menschenleben“. Bringt der Erfolg nicht noch mehr Unordnung in Ihre Welt?
Kehlmann: All das, was mir jetzt zustößt an verwirrenden, abstrusen, schönen, erschreckenden Dingen, ist potenziell Stoff für ein Buch – kein autobiografisches, sondern eines, in dem man diese Erlebnisse transformieren und gestalten kann. Das ist das Geheimnis, das Schöne am Dasein als Schriftsteller: Man kann viel von dem, was einen sonst vielleicht umwerfen würde, bewältigen, indem man es als potenziellen Stoff ansieht. Erfolg ist ein kurzfristiges Phänomen. Wir leben zum Glück in einer Gesellschaft, in der ein berühmter Schriftsteller nicht wirklich berühmt ist. Ein Schriftsteller ist niemals in dem Sinn berühmt, wie ein Schauspieler berühmt ist.
profil: Werden Sie auf der Straße erkannt?
Kehlmann: Nicht so oft, dass es das Leben schwierig machen würde. Es passiert gerade so gut verteilt, dass es noch Spaß macht.
profil: Kann man als Literaturstar überhaupt noch der einsame, in sich gekehrte Hinterhofschriftsteller sein?
Kehlmann: Durch Erfolg wird man in eine gewisse Extrovertiertheit getrieben. Wichtig ist dann das Zurückkehren in die Introvertiertheit, die zu einem Schriftstellerdasein gehört, in die Ruhe, um wieder konzentriert schreiben zu können. Die eigentliche Herausforderung ist nicht, sich keinesfalls zu verändern. Diese Angst hat auch etwas Verkrampftes und Unsicheres. Man ist ja auch vorher nicht so toll gewesen, dass es unbedingt schrecklich sein muss, wenn man sich verändert. Es ist ganz lustig, ein Medienstar zu sein, es ist aber nicht der Grund, warum man Bücher schreibt. Letztlich ist das nicht das Ziel, sondern eine Ablenkung.
profil: Der Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre schilderte seine Lesereisen als anhaltenden Rausch mit Groupies ohne Ende. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gesammelt?
Kehlmann: Tendenziell kann eine Lesereise in dieser Hinsicht sehr erfreulich sein. Ich will das nicht verneinen, aber all die Zuneigung, die einem entgegenschlägt, ist und bleibt letztlich Zerstreuung. Viele Popliteraten wollten ab einem gewissen Punkt nicht mehr Schriftsteller sein, sondern Medienstars. Bis sie gemerkt haben, dass es doch nicht so gut läuft wie bei Harald Schmidt.
profil: Sie waren in jüngster Zeit auch im Fernsehen präsent.
Kehlmann: Ich habe diese Grundsatzentscheidung für mich getroffen: Für die Vermarktung des Buches mache ich einige solche Dinge. Außerdem lebt man als Schriftsteller künstlerisch davon, dass man Erfahrungen macht. Die ungeheuer verwirrende Erfahrung, live in einer Fernsehsendung zu sein, bleibt den meisten Menschen verschlossen. Ich dachte, ich bin es mir schuldig, das zu erleben, denn auch das kann potenziell Stoff sein. Vor Jahren war ich in einer Kulturtalkshow, in der es um hässliche Architektur in Deutschland ging. Der Schlagersänger Roland Kaiser war auch dabei. Ich habe einige abfällige Bemerkungen über die Hässlichkeit deutscher Städte gemacht, daraufhin erklärte Roland Kaiser im Namen von Deutschland, dass er es nicht zulassen kann, dass dieses wunderbare Land beschimpft werde. Er bekam daraufhin einen riesigen Applaus. Das war so unwirklich, ein reiner Genuss.
profil: Können Sie Gauß und Humboldt, Ihre beiden Protagonisten aus der „Vermessung“, überhaupt noch leiden, nach über 80 absolvierten Lesungen?
Kehlmann: Die beiden Figuren: ja. Die Prosa nicht so. Man muss das trennen: Ich mag das Buch immer noch sehr, ich empfinde es als mein künstlerisch gelungenstes, mit Abstand sogar. Aber gleichzeitig führt das ständige Vorlesen, die Jukebox-artige Wiederholung zu Abneigung. Wenn ich auf die Bühne trete und wieder dieselben Sätze zu lesen anfange, überkommt mich manchmal heftiger Unwillen. Am liebsten würde ich das Buch dann in die Ecke schmeißen! Das ist wohl ein natürlicher Reflex. Würde man jeden Satz jedes Mal genießen, hätte man wirklich ein Problem.
profil: Die „Vermessung“ wird gekauft. Wird sie aber auch gelesen, vor allem bis zu Ende gelesen?
Kehlmann: Das Buch wird sehr genau rezipiert. Manche Lesungen gleichen, um einen albernen Vergleich zu bringen, einem Simon-and-Garfunkel-Reunion-Konzert: Bei bestimmten Lieblingsstellen lachen oder klatschen die Zuhörer, sobald sie merken, auf welche Stelle es hinauslaufen wird. So etwas gehört natürlich zu den schönsten Dingen, die man als Autor erleben kann.
profil: Vor zwei Wochen bereisten Sie mit dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier als Sondergast Südamerika. Was bespricht man mit einem Außenminister? Die aktuelle politische Lage?
Kehlmann: Auch die, ja. Wir haben auch über Literatur und Albert Einstein gesprochen, er ist ein sehr interessierter, belesener Mensch. Manche deutsche Politiker haben einen Radius an Interessen und Wissen, den man bei österreichischen, um es vorsichtig zu sagen, nur in seltenen Ausnahmefällen antreffen würde.
profil: Auf Einladung eines Magazins waren Sie kürzlich auch auf Reportagereise an Bord einer historischen Luxusjacht. Sammeln Sie neuen Romanstoff in der Karibik?
Kehlmann: Während der Schiffsreise sind wir einmal in einen Sturm geraten, Windstärke neun. Es war verboten, an Deck zu gehen. Ich bin dann trotzdem hinaus. Die Wellen waren gewaltig, wir haben sogar Mayday-Signale eingefangen von in der Nähe versinkenden Schiffen. Das Schriftstellerdasein ist nicht immer übel, dachte ich mir da. Ein neuer Roman muss deshalb aber nicht auf einer Jacht oder im Flugzeug eines Ministers spielen. All das sind Dinge, die man verwenden kann, indem man sie transformiert. Allein das Erlebnis eines Ministerbesuches, bei dem man von gepanzerten Autos an der Gangway erwartet und durch abgesperrte Straßen durch die Stadt geleitet wird! In Chile werden die Abgrenzungen perfekt eingehalten, und die Autos fahren gegeneinander versetzt, damit das Schussfeld auf den Minister nie freigegeben ist. In Buenos Aires, wo die Zustände schon um einiges anarchischer sind, drängen sich Taxifahrer in die Kolonne mit den Staatsgästen. In Rio wurden wir von schwer bewaffneten Jeeps erwartet. Es gibt dort diese Autobahn zwischen dem Flughafen und der Straße, die bei Nacht praktisch überhaupt nicht mehr befahren wird wegen der vielen Überfälle. Es gab eine riesige Eskorte, der Minister bekam sein schusssicheres Auto, die Wirtschaftsdelegation, die Sondergäste und die Diplomaten wurden in einen Bus gesetzt. Dann fuhr der Geleitschutz ohne uns ab, weil unser Fahrer eingeschlafen war. Schließlich bin ich die angeblich gefährlichste Stadtautobahn der Welt in einem Bus mit 30 millionenschweren deutschen Industriellen nach Mitternacht entlanggefahren, ganz ohne Bewachung. Wie immer in solchen Situationen ist nichts passiert. Wenn einmal 30 Millionäre unterwegs sind, passiert nie was.
profil: Kommen Sie überhaupt noch zum Schreiben?
Kehlmann: Ich weiß ziemlich genau, wie mein neues Buch aussehen wird, habe aber noch nicht mit dem Schreiben begonnen. Ich bin noch im Stadium des Nachdenkens und Komponierens, das geht nebenher. Über das neue Buch sage ich aber nichts, da bin ich abergläubisch.
profil: Tauchen nach so einem Erfolg nicht automatisch Schreibhemmungen auf?
Kehlmann: Einen Roman zu schreiben ist immer ein unmögliches Unterfangen, bei dem man wahnsinnig unter Druck gerät. Viele wünschen sich, dass man so etwas wie die „Vermessung“ nochmals macht. Insofern muss man sich darüber klar werden, dass Rückschläge und Enttäuschungen auf keinen Fall ausbleiben werden.
profil: Sie leben seit Ihrem sechsten Lebensjahr in Wien. Derzeit sind Sie in der Stadt selten anzutreffen. Empfinden Sie keine Sehnsucht nach der hiesigen Literaturszene?
Kehlmann: Im Wiener Literaturbetrieb, das habe ich aus dritter und vierter Hand, bin ich mittlerweile sehr unbeliebt. Ich merke, dass es in Deutschland und Österreich eine unterschiedliche Art gibt, mit Erfolg umzugehen. In Wien erlebe ich einen gewissen, automatisch einsetzenden Missgunstreflex, der so in Deutschland überhaupt nicht existiert. Ich will mich darüber nicht beschweren, da haben andere schlimmere Erfahrungen gemacht. In Wien gehörte ich nie so richtig dazu. Ich bin damit nicht schlecht gefahren, ich werde es auch weiterhin so halten.
profil: Schreiben österreichische Zeitungen über die „Vermessung“, heißt es: der „österreichische Autor Daniel Kehlmann“, in Deutschland werden Sie konsequent als „deutscher Schriftsteller“ apostrophiert. Schreiben Sie österreichische oder deutsche Literatur?
Kehlmann: Wenn man meine Bücher als österreichische Literatur bezeichnet, dann ist die „Vermessung“, als Roman über zwei historische Norddeutsche, natürlich ein Skandal. Es gibt in dem ganzen Roman einen einzigen Absatz, der in Österreich spielt. Ich bin sehr geprägt von Karl Kraus und auch Leo Perutz, aber die österreichische und deutsche Nachkriegsliteratur war für meine persönliche literarische Entwicklung nie von großer Bedeutung, wichtiger waren nord- und südamerikanische Autoren. Ich schreibe auf Deutsch und bin daher ein deutschsprachiger Schriftsteller. Ich besitze einen österreichischen Pass und lebe in Wien. Die „Vermessung“ ist sehr weit weg von all dem, was man in den letzten Jahren als österreichische Literatur begriffen hat – das hat sich auch in den relativ niedrigen Verkäufen in Österreich niedergeschlagen. Ich habe sogar in Holland mehr Bücher verkauft. Das ist aber auch der Grund, warum ich noch eine Weile in Wien bleiben werde. Ich empfinde es als angenehm, in einer Stadt zu leben, in der man nicht Lokalmatador ist – und sich so am Rand halten kann.
profil: Sie gönnen sich auch den Luxus, Thomas Bernhard nicht zu mögen.
Kehlmann: Ich mochte Thomas Bernhard nie, das habe ich immer schon gesagt. Ich weiß auch nicht, wie sakrosankt Bernhard wirklich ist und ob man damit noch wirklich Leute verärgern kann. Für mich ist Literatur die Kunst des genauen Hinschauens, die Kunst der Überraschung und der Beschreibung, die versucht, einen neuen Blick auf Dinge zu werfen. Bernhard steht für das Gegenteil: Sein Werk besteht aus sich selbst reproduzierender Sprache, die immer weltloser wird, nicht mehr hinschaut und immer weniger Überraschungen bereithält. Bernhards Stellung als hoch geförderter Autor, der zugleich den Nimbus des Verfolgten hat, hat etwas sehr Österreichisches. In der österreichischen Nachkriegsliteratur gibt es diese seltsame Konstellation, die dann in der Politik Jörg Haider perfektioniert hat: Regierung und Opposition in einer Person zu vereinen.
profil: Mit 22 veröffentlichten Sie Ihr Debüt, lange Zeit wurden Sie als „Wunderkind“ bezeichnet. Ist „Die Vermessung der Welt“ nun Ihr Meisterstück?
Kehlmann: In gewisser Weise wird man als Künstler nie erwachsen. Aber wenn ich mit 31, rein biografisch gesehen, noch nicht erwachsen bin, wann soll ich’s dann sein? Im Grunde bin ich jetzt in dem Alter, in dem ich jene Leistungen erbringen muss, die mich als Schriftsteller definieren und ausmachen werden. Zum Glück war in der Rezeption der „Vermessung“ vom „Wunderkind“ kaum mehr die Rede. Ich fühle mich seit einer Weile schon zu alt dafür.
profil: Der US-Romancier Jonathan Franzen absolvierte unlängst einen Gastauftritt in der Serie „Die Simpsons“, einer Ihrer erklärten TV-Lieblingssendungen. Wie würde sich Ihr Wunschauftritt in der Anarcho-Trickserie gestalten?
Kehlmann: Ich arbeite durch hemmungslose Schmeichelei ja auf so etwas hin. In der nächsten Woche wird im „Spiegel“ mein „Simpsons“-Lobessay erscheinen – noch ein Versuch, von den Autoren der Serie endlich wahrgenommen zu werden. Aber im Ernst: Bei den Gastauftritten ist es immer sehr wichtig, dass die Prominenten eine richtig schlechte Figur machen, albern wirken und decouvriert werden. Der Medienmogul Rupert Murdoch trat etwa einmal als das personifizierte Böse, als der pure Plutokrat auf, aber er hat die Rolle selbst gesprochen. In diesem Sinne möchte ich, wenn ich rein theoretisch in den „Simpsons“ vorkäme – wohin ich es natürlich nie bringen kann, weil da müsste ich in ganz anderen Dimensionen Bestseller schreiben –, wenn ich das also schaffen würde, wäre meine absolute Wunschrolle folgende: nervös, neurotisch, peinlich und unsouverän. Das wäre doch der coolste „Simpsons“-Auftritt, den man sich wünschen kann.

Interview: Wolfgang Paterno