Späte Zündung: Museen und Galerien entdecken vergessene Künstlerinnen neu
Margot Pilz hat zum Gespräch geladen. Am Ort ihrer aktuellen Ausstellung im Wiener Museum auf Abruf erzählt sie über ihre Fotografien, Computerkunst, Videos und Skulpturen. Mit dem kurzen Rock und ihrem aufgewecktem Lachen wirkt sie mädchenhaft. Ihr Smartphone hält sie in der Hand, bereit, Fotos zu suchen oder Anrufe zu tätigen. Die Konzeptkünstlerin gehört allerdings nicht zur Generation der Digital Natives. Sie feiert heuer ihren 80. Geburtstag. Nun, im fortgeschrittenen Alter, erlebt sie die Wiederentdeckung ihrer visionären Konzept- und Medienkunst, das meiste davon aus den 1970er- und 1980er-Jahren.
Pilz zählt zu den vielen Künstlerinnen, die im 20. Jahrhundert ihr Werk entwickelten und erst seit ein paar Jahren späte Erfolge feiern. In vielen großen Institutionen stößt man dieser Tage auf kreative Frauen fortgeschrittenen Alters, die sich bisweilen leicht verwundert eines nie gekannten Ruhms erfreuen. 100-Jährige treten, überrascht vom aktuellen Hype, ihren Siegeszug durch die Museen und Galerien an; bereits Verstorbenen wird der ihnen gebührende Platz eingeräumt. Die Geschichte der Kunst, die bislang vergleichsweise wenige weibliche Positionen hochkommen ließ (in Österreich Maria Lassnig oder VALIE EXPORT), wird gerade neu geschrieben.
Bei manchen allerdings kommen Ruhm und Ehre zu spät.
Eine, die von einem Tag auf den anderen zum Kunststar wurde, ist die kubanisch-amerikanische Malerin Carmen Herrera. Die heute 100-Jährige verkaufte mit 89 erstmals ein Kunstwerk. Nun sind ihre kraftvollen Bilder im Besitz des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) und werden von der renommierten Londoner Lisson Gallery verkauft. Kollegin Etel Adnan, die auf ein nomadisches, aufregendes Leben zwischen Beirut, Paris, New York und Kalifornien zurückblickt, schon zuvor als Schriftstellerin arbeitete und demnächst 91 wird, beeindruckte 2012 bei der Kasseler documenta mit starken Gemälden zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Rein zufällig hatte sie documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev in ihrer Beiruter Galerie entdeckt. Nun wird sie zu Einzelausstellungen im Museum der Moderne in Salzburg oder im Zürcher Haus Konstruktiv (ihre Schau dort läuft noch bis 31. Jänner) geladen; Starkurator Hans-Ulrich Obrist hält sie gar für eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart.
Euphorisches Lob wurde auch den gestisch-abstrakten Bildern der 76-jährigen Wienerin Martha Jungwirth zuteil, nämlich durch den deutschen Maler Albert Oehlen. Es folgten internationale Berichterstattung, eine große Ausstellung in der Kunsthalle Krems sowie die Zusammenarbeit mit der renommierten Wiener Galerie Krinzinger. Auch ihre Kollegin Renate Bertlmann, Jahrgang 1943, erlebt eine späte Karriere: Ihre Werke bestücken mittlerweile Ausstellungen zwischen London (Tate Modern) und Linz (Lentos).
Bei manchen allerdings kommen Ruhm und Ehre zu spät. So starb etwa die Wienerin Birgit Jürgenssen bereits 2003, mit 54 Jahren. Die große Ausstellung ihrer surreal-feministischen Arbeiten im Wiener Kunstforum und den Ankauf durch das MoMA erlebte sie nicht mehr. Carol Rama, seit 2006 an Demenz erkrankt und im Vorjahr mit 97 Jahren verstorben, konnte immerhin noch den Goldenen Löwen der Biennale Venedig in Empfang nehmen, der ihr 2003 für ihr facettenreiches Werk zwischen erotischer Zeichnung und geometrisch-abstrakter Malerei zuerkannt wurde. Seit dem Vorjahr zeigen große Häuser Europas, darunter das Musée d'Art moderne de la ville de Paris und das MACBA in Barcelona, ihre Werke. Und Hilma af Klints (1862-1944) frühe abstrakte Gemälde beeindruckten 2013, fast 70 Jahre nach ihrem Tod, das internationale Kunstpublikum bei der Biennale Venedig sowie in drei bedeutenden Museen.
Die Werke der Künstlerinnen sind provokativ und radikal, poetisch und ironisch. Sie hinterfragen eindimensionale Rollenzuweisungen als Mutter, Haus-und Ehefrau.
Die Neu- und Wiederentdeckung weiblichen Kunstschaffens zieht freilich Korrekturen des Kanons nach sich. Das beeindruckendste Beispiel gibt wohl Hilma af Klint ab. Mit ihrem Œuvre erscheint plötzlich die Geschichte der abstrakten Malerei in neuem Licht. Ihr erstes abstraktes Bild entstand schon 1906; erst Jahre später verbannten männliche Kollegen wie Wassily Kandinsky, Piet Mondrian und František Kupka das Gegenständliche von der Bildfläche. "Die Kunstgeschichte muss neu geschrieben werden", forderte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" angesichts von Klints überraschenden Schöpfungen. An Carmen Herrera kommt man nicht vorbei, wenn man über Op-Art spricht: Ehe dieser Stil überhaupt existierte, nahm sie dessen Formensprache bereits vorweg. Und Carol Rama geht locker als Pionierin der Arte Povera durch. In ihren Assemblagen und Skulpturen verwendete sie, ebenso wie ihre weitaus berühmteren Mitstreiter, "arme" Materialien, etwa Fahrradreifen.
Während solche Beispiele die Geschichte bisher vorhandener Strömungen umschreiben, werden anderswo gleich ganz neue Begrifflichkeiten geprägt. Gabriele Schor, Leiterin der Kunstsammlung des Energiekonzerns Verbund, erfand vor wenigen Jahren den Begriff "Feministische Avantgarde" für Künstlerinnen, die vorwiegend in den 1970er-Jahren emanzipatorisch arbeiteten. "Die Werke der Künstlerinnen sind provokativ und radikal, poetisch und ironisch. Sie hinterfragen eindimensionale Rollenzuweisungen als Mutter, Haus-und Ehefrau. Sie entlarven das Diktat der Schönheit und durchbrechen die Mauer des Schweigens, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht", schreibt sie in einem kürzlich von ihr publizierten Katalog zum Thema. Im Gespräch mit profil sagt Schor: "Diese Pionierinnen beschäftigten sich mit ähnlichen Themen. Sie formierten eine Bewegung. Die Feministische Avantgarde muss in unserem kulturellen Gedächtnis präsent sein und gehört zum Teil des Kanons."
Die Ausstellungen der feministischen Künstlerinnen, die Schor quer durch Europa schickt, feiern beträchtliche Erfolge. Die Kunstkritik lobt die Radikalität der bisher unbekannten Frauen. Überhaupt erfreuen sich die Spätzünderinnen medialer Beliebtheit. Kein Wunder: Die Geschichten von den lange unerkannt vor sich hin werkelnden Künstlerinnen, die im späten Alter entdeckt werden, lassen sich gut erzählen; neben ihrem Œuvre haben viele davon zudem spektakuläre Biografien vorzuweisen.
Mit surreal-feministischen Zeichnungen und Skulpturen konnte man sich damals schwer positionieren.
Man kann diese Entwicklung positiv bewerten. Man kann aber auch ihre Vorgeschichte beleuchten, die sich weitaus weniger erfreulich darstellt. Denn nur wer jahrzehntelang zu Unrecht ignoriert wurde, kann im hohen Alter oder nach dem Tod wiederentdeckt werden.
Die Gründe dafür, warum vielen Künstlerinnen ihre Meriten verwehrt wurden, scheinen auf der Hand zu liegen. Schließlich war es für Frauen grundsätzlich früher noch viel schwerer, Karriere zu machen, als heute -vor allem, wenn sie Ehefrauen waren oder, wie Margot Pilz, Mütter wurden. Martha Jungwirth war lange Zeit auf eine Rolle festgelegt: Sie war mit dem damaligen Leiter des 20er-Hauses verheiratet und galt in der Wiener Szene häufig nur als Direktorengattin, die sich über diese Funktion hinaus auch "ein bisschen künstlerisch betätigt".
Doch nicht nur die nach wie vor aktuelle strukturelle Benachteiligung im Kunstbetrieb - bis heute bespielte beispielsweise noch nie eine Frau alleine den Österreich-Pavillon auf der Biennale Venedig - trägt Schuld an der jahrzehntelangen Ignoranz. Manchmal waren die Künstlerinnen mit ihren Arbeiten einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. So verfügte Hilma af Klint testamentarisch, dass ihre Werke erst 20 Jahre nach ihrem Tod ausgestellt werden dürften: Sie fürchtete das Unverständnis des Publikums. Carmen Herreras geometrisch-kühle Bilder taugten lange Zeit ebenso wenig für den Kunstmarkt. Als sie ihre wesentliche künstlerische Entwicklung durchlebte, feierten die abstrakten Expressionisten die große malerische Geste. Birgit Jürgenssen erging es ähnlich: In ihren Anfängen bestimmten noch die Protagonisten des Wiener Aktionismus das Geschehen, in den 1980er-Jahren dominierte die Malerei der "Neuen Wilden" - mit surreal-feministischen Zeichnungen und Skulpturen konnte man sich damals schwer positionieren.
Glauben Sie, dass wir wirklich wiederentdeckt werden - oder ist es nur ein Funken?
Die Arbeiten von feministischen Künstlerinnen zielten darüber hinaus auf Themen, mit denen die männlichen Kuratoren, Direktoren und Galeristen kaum etwas anfangen konnten. So mancher zeigte sich schwer irritiert von Renate Bertlmanns erotischen Skulpturen - keine gute Voraussetzung. Sammlungsleiterin Schor: "Wenn man persönlich nie die Notwendigkeit verspürte, sich gesellschaftspolitisch zu emanzipieren, kann es sein, dass man weniger Zugang zur subtilen Ironie dieser Künstlerinnen findet. Wenn etwa Jürgenssen eine Männerfigur als 'Waschlappen' auswindet, veranschaulicht sie eine sprachliche Pointe - über die Frauen vermutlich intuitiver schmunzeln können als Männer."
Ihren neuen Erfolgen begegnen die Künstlerinnen vorsichtig bis ironisch. "Wenn du auf den Bus wartest, wird er kommen. Ich habe 98 Jahre auf den Bus gewartet", meinte Herrera kürzlich lapidar. Und Margot Pilz fragt zweifelnd: "Glauben Sie, dass wir wirklich wiederentdeckt werden - oder ist es nur ein Funken?"
Demnächst präsentiert Gabriele Schor einen großen Katalog mit Arbeiten Bertlmanns und zeigt ihre Arbeiten. Im Herbst will ihr Londoner Galerist auf der Frieze, einer der international wichtigsten Kunstmessen, ihre Werke als Soloschau präsentieren . Nächstes Jahr zeigt das Wiener Mumok die "Feministische Avantgarde". Mit dem Whitney Museum widmet das wichtigste Museum für US-Kunst demnächst Carmen Herrera eine große Retrospektive. Die Funken scheinen ein Feuer entfacht zu haben.
INFOBOX
Ab 25. Februar zeigt die Sammlung Verbund die Arbeiten von Renate Bertlmann (Am Hof 6a, 1010 Wien)