Christian Rainer: Vom Terror droht wenig Gefahr

Zeit für Wahrheit. Die Zukunft Europas hängt nicht an ein paar IS-Kämpfern. Sondern an den Millionen.

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Der österreichische Presserat hat die „Kronen Zeitung“ für die Veröffentlichung eines Fotos der toten Flüchtlinge im Lastwagen an der Ostautobahn verurteilt. Ich halte die Entscheidung für vertretbar, bin aber anderer Meinung. Ähnlich – nicht ganz so eindeutig – wie bei dem Foto des angeschwemmten Buben am Strand – der Presserat hielt den Abdruck in profil für „angemessen“ – überwiegt für mich das öffentliche Interesse: So wie es sinnvoll ist, die Bevölkerung mit Bilderkraft über das Sterben von Bootsflüchtlingen zu informieren, ist es statthaft, die Folgen des Schlepperwesens drastisch zu dokumentieren.

Dass die Grenze zwischen Sensationslust und Sinnstiftung schmal ist, zeigt die Entscheidung des deutschen Presserats über die Publikation ebenjenes Fotos des Lastwagens: Anders als das österreichische Gremium wiesen die Deutschen jüngst alle Beschwerden ab – die Redaktionen hätten damit die „schreckliche Realität dokumentiert, ohne die abgebildeten Menschen zu entwürdigen“.

Am vergangenen Freitag dann wieder Ärger über die „Krone“. Das Blatt titelte: „IS-Kämpfer als Flüchtlinge getarnt“. Das ist eine reißerische Schlagzeile, die Ressentiments gegen Flüchtlinge befeuert. Aber hätte man diesen Vorgang in einem Salzburger Transitquartier – bei dem übrigens andere Flüchtlinge entscheidende Hinweise gegeben hatten – verschweigen sollen oder als Einspalter verstecken? Ich meine nicht.

Die zumutbare Wahrheit – das Mantra der Stunde. Hier sind Politiker und Medien und andere Eliten (Wer sind die? Kunst? Die Wirtschaft noch immer nicht.) in der Pflicht.

Wer da meint, eine Veränderung der Wahrheiten über die Monate zu erkennen oder eine Krümmung der Meinungen, der hat recht und auch nicht: Es liegt in der Natur von Wahrheiten, dass sie eine Funktion der Zeit sind und sich entsprechend wandeln. So spannt sich auch ein Wahrheitsbogen über das Jahr 2015. Es war wahr, dass im Vorsommer bedingungslose Hilfe für Flüchtlinge die einzig richtige Haltung darstellte. Daher bewegte sich Viktor Orbán in der Unwahrheit. Hätten wir uns nicht darüber erregt, dass Flüchtlinge in Zelten schlafen, wären wir unseren Werten untreu gewesen.

Warum empfinden wir die Unterbringung in Zelten anders als im Juni nun für temporär angemessen? Weil sich die Umstände geändert haben, aber auch das Ganze.

Doch die Wahrheit darf sich mit den Umständen ändern. Inzwischen ist eine halbe Million Heimatsuchende durch Österreich gezogen, an die 100.000 wollen Heimat neu hier finden. Das erfordert anderes Denken und Handeln. Menschenwürdig, ja, aber mit einem Blick auf das Ganze statt nur auf den Einzelnen. Falls Sie die Menschenwürde für nicht verhandelbar halten, frage ich: Warum empfinden wir die Unterbringung in Zelten anders als im Juni nun für temporär angemessen? Weil sich die Umstände geändert haben, aber auch das Ganze. Diese Umstände, der Massenexodus, auch der IS-Terror in Europa waren nicht voraussehbar. Dafür einen Faymann, eine Mikl-Leitner verantwortlich zu machen, ist lächerlich, außer man hält ganz dumpf auch eine Merkel und einen Juncker für Idioten.

Und selbst wenn: Wäre die Wahrheit eine absolute, wenn man die Entwicklung vorausgesehen hätte? Nein, wäre sie nicht, unser Handeln hätte sich dennoch zunächst an Schicksalen orientieren müssen, nicht an darüber harrenden Strategien. Step by step. Ein Zelt ist nicht immer ein Zelt.

Wohin geht die Reise, wohin spannt sich die Wahrheit? Wird uns der Terror beherrschen oder das Meer an Flüchtlingen? Oder werden „IS-Kämpfer als Flüchtlinge getarnt“ die Welten von Kriegern und Opfern verschmelzen?

Ich denke, die Zukunft Europas hängt nicht an ein paar IS-Kämpfern; sie hängt an Millionen Fremden. Wir werden uns an das Terrorrisiko gewöhnen; statistisch betrachtet ist es für den Einzelnen minimal in Relation zu anderen Gefahren. Der IS wird irgendwann vertrocknen wie Al Kaida, IRA, RAF. Andere Wahnsinnige werden folgen. Solange sie über keine Massenvernichtungswaffen verfügen, nicht über eine schmutzige Bombe, werden die Menschen mit ihnen leben und gelegentlich auch sterben.

Die Asylwerber aber bleiben. Gerade hier daher Wahrheiten: Wenn wir die Kriterien für den Zuzug nicht verschärfen, wird der Anteil an Menschen mit Asylstatus hier wie in Deutschland in zehn Jahren zehn Prozent der Bevölkerung betragen. Das ist zu viel, ein zu schnelles Wachstum für eine Gesellschaft (fünf Prozent sind vielleicht erträglich). Und es braucht einen – ja – strengeren Umgang mit zukünftigen Bürgern: Das Verharren in einer archaischen Wertewelt ist kein Menschenrecht.

Wir müssen das neue Bild vom Europäer managen, sonst managt es uns.