Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Von wegen Demokratisierung

Von wegen Demokratisierung

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Wieder einmal hatte exakt niemand vorausgesehen, was geschehen wird. Weder Politiker im Westen und vor Ort noch deren Geheimdienste, noch Wissenschafter, noch Journalisten hatten auch nur einen Hauch von Vorahnung, dass binnen weniger Wochen die Regime in Tunis und in Kairo stürzen würden. Das ist allenfalls bei Tunesien zu entschuldigen. Bei Ägypten, dem wichtigsten Verbündeten der USA und damit der NATO in jener Weltgegend, ist das unverständlich. Erst recht perplex macht der Grad der Unwissenheit, bedenkt man, dass offensichtlich auch Israel (und in der Folge wiederum die USA) keine Ahnung davon hatte, was passieren würde: Der hochprofessionelle israelische Auslandsgeheimdienst Mossad und die beste Armee weit und breit waren nicht darauf vorbereitet, dass der einzige lokale Garant für die Sicherheit des Landes plötzlich verloren gehen könnte.

Das ist unglaublich, aber nicht überraschend, wenn man Parallelen in der Vergangenheit sucht. Die größte Fehlkalkulation der Weltgeschichte, zumindest aber des Informationszeitalters, liegt erst 20 Jahre zurück: Niemand hatte den Zerfall der Sowjetunion vorausgesehen. Darauf weist der polnische Journalist Ryszard Kapuscinski in seinem Buch „Imperium“ hin. Demnach hatte sich „unmittelbar vor dem Zerfall der UdSSR unter westlichen, vor allem amerikanischen Politologen die Theorie breitgemacht, die UdSSR repräsentiere ein Modell des stabilsten und dauerhaftesten Systems der Welt“. „The New York Review of Books“ ­wiederum schrieb 1992, es habe unter den US-Experten „keinen einzigen“ gegeben, der den Zerfall der Sowjetunion vohergesehen hätte.

Eine landläufige Erklärung für die Unvorhersehbarkeit von Revolutionen und Sezessionen ist, dass es sich um demokratische Prozesse – besser: um Prozesse mit dem Ziel der Demokratisierung – handle. Aufgrund des amorphen Charakters solcher Entwicklungen seien sie schwerlich zu diagnostizieren oder gar in ein Zeitkorsett zu pressen. Ganz anders stehe es um die Prognostizierbarkeit, wenn einzelne Personen den Gang der Dinge entscheiden. Hätte also Michail Gorbatschow die Auflösung der Sowjetunion von langer Hand geplant, dann wäre das nicht unentdeckt geblieben; der Druck unterschiedlicher Völker im Riesenreich hingegen musste eine Überraschung bleiben.

Ich halte derartige Erklärungsmodelle für naiv, sie greifen viel zu kurz, übersehen die wahren Funktionsmechanismen von Macht und führen zu völlig falschen Folgerungen für die Zukunft. Eine solche Sichtweise würde, auf Österreich übertragen, etwa den reichlich unsinnigen Schluss nahelegen, dass die Diskussion um die Wehrpflicht vom Druck der Straße angefacht wurde, was im Übrigen durch Umfragedaten und die Berichte der „Kronen Zeitung“ gut belegt sei. Dass ein wahlkämpfender Michael Häupl, das Gezänke von SPÖ und ÖVP sowie die „Krone“ höchstselbst hinter der ganzen Angelegenheit stehen, während die Betroffenen bloße Zaungäste bleiben, ginge da völlig verloren.

In diesem Sinne ist es reichlich blauäugig zu glauben, die Geschehnisse in Ägypten und anderen islamischen Staaten würden vom Streben der Bevölkerung nach Demokratie bestimmt. Wäre es anders, dann hätten die diversen ausländischen Beobachter durch Kontakt in die klar abgezirkelten Oppositionskreise viel eher vorab von den Umwälzungen erfahren. Es erscheint ja schon unsicher (und entspringt vielfach Wunschdenken), dass sich jene Hunderttausende Menschen in Kairo am Tahrirplatz versammelten, weil sie endlich in einer lupenreinen Westminster-Demokratie ­leben wollen. Beim überwiegenden Großteil der Demonstranten dürfte vielmehr ökonomische Unzufriedenheit plus ein Konvolut an individuellen Beweggründen den Ausschlag gegeben haben.
Gänzlich abseitig ist freilich der Gedanke, die Menschenmassen hätten den Rücktritt des Präsidenten und freie Wahlen erzwungen. In Wahrheit haben komplexe Machtnetzwerke entschieden, dass dem Spuk nicht schon am Tag eins ein Ende gesetzt wurde, dass die Soldaten sich auf die Seite „des Volkes“ stellten, dass Mubarak verjagt wurde. Diese Netzwerke unterscheiden sich von allseits bekannten Machtkonstellationen bloß durch die überragende Bedeutung des Militärs. Aber auch innerhalb des ägyptischen Offizierskorps wurden die Abwägungen wohl nicht nach Staatsräson, sondern auf Basis individueller Karriereplanungen und in der Hoffnung auf größtmögliche finanzielle Vorteile getroffen. Davon abgesehen, haben Industrielle, Medienunternehmer, der islamische Klerus, ­konkurrierende Clans und jede Menge Geld den Ausgang dieser so genannten Revolution bestimmt.

Für die Zukunft heißt das allerdings: Wenn die Eliten und nicht das Volk die Geschehnisse dieser Tage steuern, warum sollten diese Eliten dem Volk nun die Macht zur Steuerung übergeben? Sie werden nicht. Und das unterscheidet die tektonischen Verschiebungen in der islamischen Welt nicht von vielen „Revolutionen“ der Vergangenheit, sei es in der Sowjetunion, in Südamerika, Fernost oder anderswo.

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