Kolumne

Alles Mittelschicht

Über die rätselhafte Verwechslung von Erwerbseinkommen und Kapitalerträgen.

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Für meine letzte Kolumne bin ich auf X, vormals Twitter, heftig durch die Gegend gewatscht worden. Mein Vergehen: Ich habe mich anerkennend über Marlene Engelhorn geäußert, die mit einem Großteil ihres Vermögens für ein gerechteres Steuersystem eintritt, und war verwundert, weil Erb:innen, die nicht nur nichts zum Gemeinwohl beitragen, sondern dieses womöglich beeinträchtigen (zum Beispiel durch den Ankauf und Betrieb von umweltschädigenden riesigen Jachten), mit allgemeinem Wohlwollen betrachtet werden. Nichtsnutzige Erb:innen habe ich sie genannt, weil sie – als Erb:innen – von keinem Nutzen für die Gesellschaft, also die Mitmenschen sind.

Na servas! Mehr habe ich nicht gebraucht. Nichtsnutzig! Erb:innen! Wo bleibt da der Respekt vor der Menschenwürde? Und: Darf man seinen Kindern nichts mehr vererben? Und: Milliardäre sind schließlich durch Fleiß und Leistung zu ihren Milliarden gekommen, sollen sie dafür bestraft werden?

Auch wenn man in Betracht zieht, dass sich auf Social Media Trolle und Bots herumtreiben, ist nicht anzunehmen, dass all diese Reaktionen von Fake Accounts kamen. Und die Vermutung, dass lauter Angehörige der Hochfinanz protestiert haben, ist ebenfalls wenig wahrscheinlich. Daher frage ich mich entgeistert: Was bewegt durchschnittlich wohlhabende Mitmenschen, sich schützend vor Milliardenvermögen zu werfen und darauf zu bestehen, dass die Superreichen mit Abgaben light durchs Leben kommen?

Halten Sie sich selber für superreich, sobald sie eine Eigentumswohnung und womöglich ein Ferienhäuschen besitzen? Glauben sie, dass sie ihren Kindern einmal Milliarden hinterlassen werden? (Niemand will ja Erbschaften unter einer Million besteuern.)

Vor allem aber: Können sie nicht zwischen Erwerbseinkommen und Kapitalerträgen unterscheiden? Milliardenvermögen kommen doch nicht zustande, weil ein strebsamer Angestellter täglich Überstunden macht, sondern weil sich Kapital unter günstigen Rahmenbedingungen ohne jede Arbeitsleistung des oder der Vermögenden vermehrt. Der viel zitierte Tellerwäscher wird nicht durch Tellerwaschen zum Millionär, sondern dadurch, dass er, statt weiter Teller zu waschen, geschickt als Geschäftsmann agiert.

Die Klassengesellschaft von ehedem gibt es angeblich nicht mehr. Alle rechnen sich mittlerweile der Mittelschicht zu. Die einen, um sich sozial aufzuwerten, die anderen, um sich materiell abzuwerten. Denn auch die Superreichen behaupten gern, eigentlich seien sie doch nur genügsame Angehörige des Mittelstandes, bescheiden, sparsam, geradezu ärmlich gegen diejenigen, die noch reicher sind. Deswegen: Nur kein Neid!

Kurz gesagt: Die einen geben sich dem Selbstbetrug hin, die anderen wollen die einen hinters Licht führen, um deren Unwillen zu vermeiden. Am Ende sitzen alle, alle angeblich im selben Boot.

Na gut, könnte man sagen, auch recht, haben wir halt auf diesem Weg eine egalitäre Gesellschaft erreicht. Aber tatsächlich ist diese Egalität bloß Behauptung, nicht Realität. Falls wir alle im selben Boot sitzen, dann jedenfalls nicht unter den gleichen Bedingungen: Viele müssen rudern, ein paar lassen rudern.

Die selbst ernannten Mittelschichtler spüren ihn eh, den Unterschied. Deswegen sind sie unzufrieden, zornig und klagen darüber, dass sie die Steuerlast für den ganzen Staat tragen müssen. Aber statt ihren Unmut gegen die horrend ungleiche Besteuerung von Arbeit und Kapital zu richten, richten sie ihn gegen den Staat, genauer: gegen den Sozialstaat und seine politischen Repräsentant:innen.

Gerechtigkeit heißt in ihren Augen offenbar nicht, dass auch Superreiche verpflichtet sein sollen, einen Beitrag zur öffentlichen Ausstattung des Landes und zur Aufrechterhaltung seiner Infrastruktur zu leisten, sondern Gerechtigkeit heißt dann Einsparungen im Sozialbereich, im Gesundheitssystem und im Bildungssystem. Bloß kein Neid auf Milliardäre, stattdessen Neid auf alle, die Arbeitslosengeld kriegen. Kürzen! Wegnehmen!

Was für eine merkwürdige Welt, in der es manchen besser geht, sobald es nur den Schlechtergestellten noch schlechter geht.

Ein wichtiges Wort in der Debatte ist das Wort „Verpflichtung“. Die Reichen sind doch eh freiwillig freigiebig, heißt es mit Verweis auf großzügige Spenden einzelner Mäzene. Ja, und? Können Arbeitnehmer:innen sich’s aussuchen, ob sie Lohnsteuer „spenden“ wollen? Können sie, je nach Tageslaune, die Höhe ihrer „Steuerspende“ bestimmen und was damit finanziert werden soll – ein Krankenhaus oder doch lieber ein Sportplatz?

Wer unter Freiwilligkeit Freiheit versteht, sollte gut nachdenken, wie es sich frei von sozialer Absicherung, frei von solidarischen Sicherheitsnetzen (Stichwort: Krankenkassen) leben würde.

Und am Schluss das fromme Wort zum Sonntag: Man braucht doch keine Milliarden für ein glückliches Leben! Na klar. Aber warum sollen sich das immer nur diejenigen ohne Geld vor Augen halten? Wenn es stimmt, dann können die Superreichen doch leichten Herzens was abgeben, und niemand muss den Weltuntergang beschwören, wenn die Worte Vermögens- oder Erbschaftssteuer fallen!