Robert Treichler: Bin Laden lebt

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Wir hatten die allerbesten Absichten. Wir, der Westen. Wir wussten, was wir zu verteidigen hatten und dass es nicht leicht sein würde. Wir sahen uns von einem Terrorismus bedroht, den wir nicht gekannt hatten. Wir nahmen uns vor, zusammenzustehen, uns nicht einschüchtern und nicht spalten zu lassen. Unsere Politiker begannen viele Sätze mit dem Wort „wir“.

Zwei Monate nach den Anschlägen des 11. September 2001 sagte der damalige US-Präsident George W. Bush in einer Rede: „Wir respektieren Menschen aller Glaubensrichtungen und heißen die freie Ausübung von Religion willkommen. Unser Feind möchte allen diktieren, was sie zu denken und anzubeten haben – auch anderen Muslimen.“ Und an die Adresse der Muslime in den USA richtete er folgende Botschaft: „Tausende von Muslimen nennen sich stolz Amerikaner, und sie wissen, was ich weiß: dass der islamische Glaube auf Frieden, Liebe und Mitgefühl aufbaut.“

Diese Worte eines republikanischen US-Präsidenten liegen mehr als 15 Jahre zurück. Wie sieht es heute aus? Heute sagt Donald Trump, der Mann, der als Kandidat der Republikaner ins Weiße Haus einziehen möchte: „Wenn ich gewählt bin, werde ich die Einwanderung aus den Teilen der Welt, die eine erwiesene Geschichte des Terrorismus gegen die USA, Europa oder unsere Verbündeten haben, aussetzen.“ Er hat diesen Vorschlag nach dem Massaker in einer Homosexuellen-Disco in Orlando, Florida, bei dem am Sonntag vergangener Woche ein amerikanischer Staatsbürger afghanischer Abstammung 49 Menschen tötete, wiederholt.

Europa ist nicht besser. Rechtspopulistische Parteien, die vor Muslimen und Flüchtlingen warnen, haben immer stärkeren Zulauf. Die Einstellung zu muslimischen Mitbürgern verschlechtert sich: Laut einer Umfrage betrachtet etwa die Hälfte der Franzosen den Islam als Bedrohung für die nationale Identität.

Der Terror hat unsere westliche Gesellschaft mürbe gemacht. Die Einwanderung von mehr als einer Million Flüchtlingen wird von vielen als zusätzliche – unerträgliche – Belastung gesehen.

Osama Bin Laden, der Pate des modernen islamistischen Terrors, hatte zu Beginn des Millenniums eine Frontstellung zwischen dem Westen und dem Islam herbeigesehnt. Er wurde 2011 von einem US-Kommando getötet, aber sein teuflischer Plan hatte nie mehr Chance auf Realisierung als heute. Seine Nachfolger haben in Syrien und im Irak einen Quasi-Staat gegründet, den sie „Kalifat“ nennen. Sie haben die propagandistischen Methoden weiterentwickelt. Bin Laden hatte noch Videobotschaften aufgezeichnet und dem arabischen TV-Sender Al Jazeera zuspielen lassen. Heute verfügt die Terrormiliz „Islamischer Staat“ über eigene Kanäle im Internet, und der Attentäter, der vergangenen Montag nahe Paris ein Polizistenehepaar erstach, ging während der Tat mit seinem Facebook-Account in den „Live“-Modus.

Der Terror hat unsere westliche Gesellschaft mürbe gemacht. Die Einwanderung von mehr als einer Million Flüchtlingen wird von vielen als zusätzliche – unerträgliche – Belastung gesehen. Die Gemengelage produziert Nationalismus, Rassismus, Abschottungsideen aller Art – Brexit und dergleichen. Die Europäische Union als Raum für eine offene Gesellschaft ist in Gefahr. Pluralismus, Religionsfreiheit gelten immer weniger. Bin Laden feiert posthum Triumphe.

Was können wir tun?

Die politischen Attacken auf Trump und seinesgleichen müssen deutlicher werden. Hillary Clinton und US-Präsident Barack Obama haben zuletzt die richtigen Worte gefunden. Es ist falsch, zu glauben, dass ein schärferer Diskurs nichts bringt. Rassismus, Verantwortungslosigkeit und gefährliche Dummheit als solche zu benennen, erleichtert den Bürgern die Entscheidung, auf welcher Seite sie stehen wollen. Der Kampf gegen Extremismus und Terror ist eine politisch hochkomplexe Angelegenheit, und Donald Trump ist auf diesem Terrain jemand, der noch nicht gelernt hat, sich die Schuhbänder zu binden.

Die Muslime wiederum haben die verdammte Pflicht, in der Koalition der Besonnenen ihren Part zu spielen.

Die westliche Welt braucht mehr denn je eine Koalition der Besonnenen, angeführt von Politikern, die der Vernunft eine Stimme geben. Sie müssen klarmachen, wie das Konzept aussieht: Die Mehrheitsgesellschaft hat die verdammte Pflicht, Muslime in allen Bereichen des Lebens zu integrieren. Jeder Akt der Diskriminierung nützt den Extremisten.

Die Muslime wiederum haben die verdammte Pflicht, in der Koalition der Besonnenen ihren Part zu spielen: Sie müssen den extremistischen Tendenzen innerhalb ihrer Religion die Legitimation nehmen, öffentlich ebenso wie im privaten Umgang. Sie müssen sich gedanklich von den illiberalen Praktiken lösen, die der Islam – wie auch andere Religionen – hervorgebracht hat. Sie sollen dabei aber nicht ihre Religion denunzieren, sondern die Extremisten – im fernen Kalifat und in ihrem eigenen Umfeld.

Deshalb brauchen wir niemanden so dringend zur Terrorbekämpfung wie die Muslime. Unsere Muslime. Das war der Plan nach dem 11. September, und das ist bis heute der beste Plan, den es gibt. Wir müssen dafür sorgen, dass das möglichst viele Menschen verstehen. Um Zeit zu sparen, sollten wir nicht bei Donald Trump beginnen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur