Kolumne

Die Schmerzbefreiung

Es gibt immer mehr Leute, deren Sozialkompetenz aus dem Sanitärfachhandel stammt. Das muss nicht sein. Merke: Der Klügere gibt nicht nach.

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Kennen Sie das? Jemand schreibt Ihnen ein Mail, weil er ganz dringend, superwichtig, was braucht. Weil Sie für diese Welt falsch sozialisiert wurden, halten Sie das wirklich für wichtig und machen sich sofort an die Arbeit. Ihre Eltern oder Lehrer oder sonst wer hat Ihnen eingeredet, dass man, wenn Leute was fragen, Hilfe brauchen oder eine Auskunft, behilflich ist. Man holt sich, was man braucht, und fertig. Danke, habe ich verstanden, bis zum nächsten Mal – das können Sie vergessen. Gute Umgangsformen gelten dort, wo ständig über Empathie und Werte geredet wird, als Schwäche, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit als reaktionär. Das ist nicht nur bei den Jungen so. Schon vor der Coronapandemie nahm, sagen wir es, wie es ist, das Gesindel breiten öffentlichen Raum ein. Heute scheint es diesen Raum komplett übernommen zu haben. Unverbindlichkeit gilt als Tugend. Unzuverlässigkeit als cool. Handschlagqualität ist lächerlich.

Das Muster ist immer gleich, nur mal zum Beispiel eine Kollegin, die gaaaaanz dringend einen Podcast mit dir machen will und dich um „supereilige“ Termine fragt. Man kramt sich die letzten Dreiviertelstunden im Jahr zusammen, um nie wieder was zu hören – und auf die vierte Nachfrage, zugegebenermaßen schon etwas ungehalten, hört man dann: „Sorry, geht sich grad nicht aus.“ Oder der Jungdynamiker, der vorgibt, ein Gespräch zu deinem neuen Buch machen zu wollen, tatsächlich aber für sein neues Projekt für irgendeinen Marketingblödsinn werben möchte – was er am Schluss beiläufig erwähnt.

Hier wird klar, woher das Wort Haltung kommt. Von Halt! Ende. Aus. Schluss. Basta. Auch bekannt als: Pass auf, Burschi!

Und jetzt nicht sagen: Hilft ja nix. Ja, sicher, die Schmerzbefreiten verfügen über eine so niedrige soziale Hemmschwelle, dass Kritik an ihnen abperlt wie Wasser auf frischem Lack. So wird man zweimal Opfer, und die Täter tun, als ob nichts wäre. Soll man also solche Frechheiten „nicht einmal ignorieren“? Nein. Eben nicht. Haltung zeigen gegen die Frechen und Dummen ist erste Bürgerpflicht, und alle Bürgerinnen sind mitgemeint. Die Erosion des Anständigen ist weit fortgeschritten. Das liegt auch an uns. Neinsagen ist wichtig. Nicht nur für unser eigenes Seelenheil. Sondern auch für die Guten. Ja, die gibt es. Und man kann sie einfach erkennen.

Es sind die Leute, die noch „danke“, „bitte“, „gerne“ sagen können. Leute, die soziale Umgangsformen nicht für Zeitverschwendung halten. Leute, die Beziehungen nicht nur nach den Gesichtspunkten der Effizienz und des Nutzens gestalten und deshalb so reden wie die ganzen Nutzenoptimierer – ganz so, als ob man das als halbwegs normaler Mensch nicht merken würde.

Die Beispiele oben ließen sich mit Schlagwörtern wie „unprofessionell“ oder „überfordert“ abtun. Das stimm sicher auch, aber reicht uns das? Warum ist es längst zur akzeptierten Ausrede geworden, wenn Leute ihren Job, zu dem korrekte soziale Umgangsformen – „bitte“, „danke“, grüßen, kommunizieren – gehören, nicht können? Kann es sein, dass die Nichtskönnenden Nichtskönnende in Schutz nehmen? Und dass daraus jene Abwärtsspirale des Mittelmaßes wird, bei dem die D-Liga immer nur E-Liga anheuert, damit sie ihr nicht gefährlich werden kann, bis man schließlich beim Z angelangt ist, dem allerletzten Buchstaben im Alphabet?

Haltung sagt Halt!

Langsam wird klar, dass Bedrohungen von extremen Gruppen– nicht nur in der Politik – deshalb so weit gekommen sind und Demokratie und Gemeinwohl bedrohen, weil wir nix sagen. Wir halten dicht, schämen uns oder haben einfach Angst, dass wir, wenn wir Ungerechtigkeiten anprangern, einen Schaden erleiden. Wenn wir uns über miese und unzuverlässige Chefs, Kollegen und Geschäftspartner beschweren – was kommt als Nächstes? Diese Angst, diese Sorge der Höflichen, ist die Grundlage des Geschäftsmodells der Schmerzbefreiten. Ihre Charakterschwäche wird so umgedeutet, dass der Charakter überhaupt zur Schwäche wird. Zur Zivilcourage gehört nicht nur die sehr sichere Unterzeichnung einer Internet-Petition vom Sofa aus und die Teilnahme an nachmittäglichen Demonstrationszügen mit vielen tausend Teilnehmern und Polizisten. Zur Zivilcourage gehört es auch, sich selbst zu exponieren, wenn es nötig ist, damit das Gift der Unverbindlichkeit und Heuchelei als solches erkannt wird. Deine Rede sei ja ja, nein nein, so steht es sinngemäß im Matthäus-Evangelium.

Deshalb ist es richtig, Falsches falsch zu nennen und Fälscher mit Namen und Adresse. Es ist richtig, zu klagen, wo Fakes produziert werden, Widerworte zu geben, wenn uns jemand ein X für ein U vormacht. Den Schmerzbefreiten müssen Schmerzen bereitet werden. Merke: Der Klügere gibt nicht nach. Sonst regieren wirklich nur mehr Idioten die Welt.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.