Eine neue EU-Richtlinie bedroht investigative Journalisten und Whistleblower
Antoine Deltour, ein 28-jähriger Buchhalter, wartet auf den Ausgang seines Strafverfahrens. Der Franzose muss im schlimmsten Fall mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren und einer Geldbuße von über einer Million Euro rechnen. Sein früherer Arbeitgeber Price Waterhouse Coopers (PWC) hat ihn bei der Luxemburger Justiz wegen Diebstahls und Verrats von Unternehmensgeheimnissen angezeigt. Deltour hatte in der PWC-Zentrale im Großherzogtum steuerschonende Praktiken von multinationalen Konzernen in Luxemburg, darunter Amazon, Fiat, Disney und Deutsche Bank, aufgedeckt und mit "LuxLeaks“ eine EU-weite Debatte über Steuervermeidung losgetreten.
Wenn die neue EU-Richtlinie zum Schutz von Unternehmensgeheimnissen wie geplant noch heuer beschlossen werden sollte, wird die Arbeit für Whistleblower wie Deltour, aber auch für investigativ tätige Journalisten, schwieriger werden. In Österreich könnten sich Unternehmen bald auf diese EU-Regelung berufen, um eine Veröffentlichung von Missständen und internen Dokumenten zu verhindern. Nicht umsonst heißt die Richtlinie intern "Secret Affairs“.
Die EU-Regelung, die derzeit im Europäischen Parlament debattiert wird, wirkt nur auf den ersten Blick harmlos. Es geht um den Schutz von Unternehmensgeheimnissen unterhalb der Schwelle von Patenten: Das reicht von der Rezeptur von Lebensmitteln über Details der Produktion bis zu internen Dokumenten jeder Art. Die EU-Kommission hatte schon 2013 einen Wettbewerbsnachteil für europäische Konzerne und kleinere Betriebe gewittert, da jedes EU-Land unterschiedlichen Schutz etwa vor Betriebsspionage vorsah.
Wie intensiv sich europäische Unternehmen für eine einheitliche Regelung einsetzten, belegt die Intensität der Lobby-Arbeit. Koordiniert von der PR-Agentur Hill & Knowlton, forderten multinationale Konzerne wie Alston, DuPont, General Electric, Michelin, Intel und Nestlé Beistand von Brüssel ein. Ziel: "Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung“. Beim Industrie-Dachverband Business Europe in Brüssel wird betont, dass die Richtlinie den in Europa mangelhaften Schutz von geistigem Eigentum verbessern und die EU dadurch "innovationsfähiger“ werden solle.
Die EU-Kommission legte den ersten Vorschlag der Regelung bereits 2013 vor. Die für den Binnenmarkt zuständigen EU-Minister, darunter Österreichs Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner, gaben im Vorjahr grünes Licht für die neue Richtlinie. Auch Sozialminister Rudolf Hundstorfer und das Bundeskanzleramt sahen keinen Grund, Einwände zu erheben.
"Die Pressefreiheit und der Schutz von Whistleblowern werden mehrfach in der Richtlinie erwähnt“, heißt es im Wirtschaftsministerium. Ziel der EU-Richtlinie sei es, in Europa unternehmerisches Know-how, das nicht patentiert oder markenrechtlich abgesichert ist, in Zukunft besser schützen zu können, auch vor Produktpiraterie. Damit solle auch der Innovationsstandort Europa besser abgesichert werden. Im Artikel 4 der Richtlinie sei zudem verankert, dass die Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses "zum Zwecke der rechtmäßigen Wahrnehmung des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit“ weiterhin erlaubt sei.
Doch trotz mehrfachen Verweises in der Richtlinie auf die Pressefreiheit wird genau diese von ihr bedroht. Denn investigativer Journalismus wird deutlich erschwert. So gut wie alle internen Dokumente werden künftig als "Firmengeheimnis“ unter Schutz gestellt. Und aus diesen darf - so sieht es die Richtlinie vor - nur noch unter strengen Auflagen zitiert werden. So dürfen etwa von Whistleblowern erhaltene Informationen nur noch verwendet werden, wenn sie einen Missstand im öffentlichen Interesse betreffen und dieser nur durch Veröffentlichung von Unternehmensgeheimnissen aufgedeckt werden kann.
Journalisten werden also künftig - wenn sie keine Klagen riskieren wollen - zunächst checken müssen, ob die Unterlagen "im allgemeinem Interesse“ sind.
Fraglich bleibt zudem, ob Netzwerke wie das International Consortium of investigative Journalists künftig fragliche Steuerkonstruktionen von Konzernen - wie zuletzt bei LuxLeaks und Swissleaks - aufzeigen dürfen oder millionenschwere Klagen befürchten müssen.
Schwerwiegende Folgen
Für investigativ tätige Medien wie profil hätte all dies schwerwiegende Folgen. Über Korruptionsfälle wie jene rund um die Telekom Austria, den Skandal um die Hypo Alpe-Adria, die Causen Grasser und Meinl könnte jedenfalls künftig nicht mehr so wie bisher berichtet werden. Das 2003 von profil aufgedeckte "Projekt Minerva“ (der Plan, die Voest-Alpine AG an Frank Stronachs Magna-Konzern zu verkaufen), wäre wohl geheim geblieben. Die Information basierte auf einem "Firmengeheimnis“ - einem internen Konzept der Industrieholding ÖIAG. Auch auf gerichtsanhängige Fälle hat die Richtlinie Auswirkungen: Denn um Unternehmensgeheimnissen zu wahren, sollen künftig heikle Informationen vor Gericht geschützt, also geheim gehalten werden.
Dabei ist investigativer Journalismus in der EU schon jetzt durch 28 unterschiedliche nationale Regelungen im Medienrecht erschwert. So ist zum Beispiel das Zitieren aus Gerichtsakten in Deutschland verboten, aber in Österreich erlaubt. Da profil in der Hypo-Alpe-Adria-Affäre aus Gerichtsunterlagen zitiert hatte, kam es zu einem Strafverfahren der deutschen Justizbehörden gegen die profil-Journalisten Ulla Kramar-Schmid und Michael Nikbakhsh, das erst nach Protesten eingestellt wurde.
Diese Unterschiede in den nationalen Rechtssystemen werden durch die neue Richtlinie aber nicht beseitigt werden. Wohl aber enthält die geplante Regelung Empfehlungen für nationale Justizbehörden, etwa zur Strafverfolgung von Angestellten, die interne Informationen gesetzeswidrig weitergeben.
Debatte über den Schutz von Unternehmensgeheimnissen
Schon im Vorjahr brach in Frankreich eine heftige Debatte über den Schutz von Unternehmensgeheimnissen aus. Denn die französische Regierung wollte in einem Vorgriff auf die geplante EU-Regelung in einem neuen Wirtschaftsgesetz ("Loi Macron“) auch Journalisten und Whistleblower wegen Verletzung von Firmengeheimnissen unter Strafandrohung (bis zu drei Jahre Haft und 300.000 Euro Strafe) stellen. Erst ein massiver Protest von Journalistenverbänden und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) bewirkte im Dezember 2014, dass der umstrittene Gesetzesvorschlag zurückgezogen wurde.
Die Arbeit an der neuen EU-Richtlinie ging trotzdem ungestört weiter. Im Europäischen Parlament befasste sich der Justizausschuss zuletzt am Montag vergangener Woche mit der Regelung. Immerhin wurden Einwände der Medienverbände und NGOs wenigstens zum Teil berücksichtigt. "Die Informationsfreiheit, die Meinungsfreiheit sowie die Pluralität der Medien sollten durch diese Richtlinie nicht eingeschränkt werden“, heißt es im Änderungsantrag Nr 6. Doch die Veröffentlichung von "legitim“ beschafften Informationen darf nur im "öffentlichen Interesse“ geschehen. Das lässt Spielraum für Interpretation zu. Auch Hinweisgeber (Whisteblower) sollen nur dann straffrei bleiben, "sofern sie im öffentlichen Interesse“ handeln und die Preisgabe des Firmengeheimnisses "legitim“ war.
Die Direktorin des in Wien ansässigen International Press Institute (IPI), Barbara Trionfi, sieht Grund zur Besorgnis. Mitgliedsstaaten könnten die Auflagen wie "legitime Interessen“ oder "öffentliches Interesse“ zu eng auslegen, "was die Richtlinie für Missbrauch öffnen könnte. Mitgliedsstaaten sollten dem öffentlichen Interesse größtes Gewicht geben“, fordert Trionfi.
Laut Artikel 3 der Richtlinie ist die Veröffentlichung eines Unternehmensgeheimnisses dann ungesetzlich, wenn sie ohne Erlaubnis des Unternehmens und durch eine Person, die das Geheimnis "illegal erwirbt“ oder durch eine Vertrauensvereinbarung gebunden ist, erfolgt. Eine Veröffentlichung ist demnach auch dann ungesetzlich, wenn ein Journalist gar nicht weiß, ob eine Insiderinformation illegal besorgt wurde. Auch hier werden investigative Journalisten gleichsam präventiv eingeschüchtert: Eine Berufung auf den in den Grundwerten der EU verankerten Schutz von Quellen genügt nicht mehr, in Hinkunft müsste der Weg, über den ein Informant zu Dokumenten gekommen ist, wohl mehr untersucht werden als deren Inhalt.
"Die Arbeit investigativer Journalisten wird durch diese Richtlinie sicher erschwert“, erklärt Evelyn Regner, Europaabgeordnete der SPÖ und Mitglied des Justizausschusses. Sie fürchtet gleichfalls um die Arbeit von Betriebsräten: "Darf ein Betriebsrat künftig die Belegschaft über geplante Personalkürzungen informieren, oder fallen Informationen darüber auch unter das Firmengeheimnis?“
Die grüne Europa-Abgeordnete Ulrike Lunacek warnt davor, dass "unter dem Titel, Geschäftsgeheimnisse zu sichern oder Firmenspionage zu verhindern, Informationen von allgemeinem Interesse wie Umweltschäden oder soziale Verwerfungen geheim gehalten werden oder die Weitergabe solcher Informationen durch Whistleblower, Journalisten und NGOs unter Strafe gestellt wird“. Die EU-Kommission habe es mit dem Schutz von Unternehmensgeheimnissen offenbar eiliger als mit der Aufdeckung von Missständen. "Der von der EU-Kommission seit Jahren versprochene Schutz von Whistleblowern ist noch immer nicht präsentiert worden“, klagt Lunacek.
NGOs sorgen sich über Einschränkungen von Informationen im Bereich von Umwelt, Gesundheit oder Nahrungsmittelsicherheit. Gleich 36 zivile Vereinigungen protestierten Ende 2014 in Amsterdam gegen die neue Richtlinie.
Der Begriff "Firmengeheimnis“ sei viel zu breit angelegt. Unternehmen könnten praktisch jeden klagen, der interne Informationen weitergibt. Konzerne könnten Studien über ihre Produkte verheimlichen, selbst wenn daran öffentliches Interesse bestehe. "Dürfen Firmen künftig Informationen über schädliche Inhaltsstoffe oder negative Auswirkungen ihrer Produkte auf die Umwelt mit Hinweis auf Firmengeheimnisse verweigern?“, heißt es in einem Bericht der NGO Corporate Europe Observatory. Die Pflicht zur Geheimhaltung könnte sogar die an sich gewünschte Mobilität von Arbeitnehmern einschränken: "Aus Angst vor Klagen wegen Geheimnisverrats könnte ein Arbeitnehmer darauf verzichten, einen neuen Job in derselben Branche anzunehmen.“
Der Präsident der österreichischen Journalistengewerkschaft, Franz C. Bauer, lässt die Richtlinie gerade von Juristen prüfen. Sein erster Befund: "Bei extensiver Interpretation kann man diese Richtlinie durchaus als Maulkorb für investigative Journalisten verstehen. Das ist demokratiegefährdend und schränkt die Meinungsfreiheit ein.“
In der EU-Kommission wird auf profil-Anfrage betont, dass der Richtlinienvorschlag keinesfalls in nationales Strafrecht eingreife. Der Schutz der Pressefreiheit wie auch der Whistleblower sei gewährleistet. Es gehe darum, die derzeit unterschiedlichen nationalen Regelungen für Verletzung von Firmengeheimnissen zu harmonisieren und Schaden von europäischen Unternehmen abzuwenden. Bürger und NGOs hätten auch weiterhin ein Anrecht auf relevante Informationen.
Die Richtlinie wird nach einem vor dem Sommer geplanten Beschluss im EU-Parlament im sogenannten Trilogverfahren noch einmal dem Ministerrat zugeleitet. Das wäre dann die letzte Chance, die Richtlinie in Bezug auf die Pressefreiheit zu überarbeiten.
Eine Erklärung von Dunja Mijatovic, OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit:
I have concerns about the current proposal of a ‘Directive on the protection of undisclosed know-how and business information (trade secrets) against their unlawful acquisition, use and disclosure’ as it could have a serious impact on media freedom. Some of the provisions do not sufficiently prevent the introduction of excessive restrictions to freedom of expression and freedom of the media by the EU Member States. More particularly the text does not define the legitimate exercise of the right to freedom of expression and information and does not provide a clear notion of public interest in order to properly protect investigative journalism which involves the acquisition, use or disclosure of business information.