Gastkommentar von Michael Köhlmeier: "So kann es nicht weitergehen!"
Ein Nachbar - wenig älter als ich, als Kinder und Jugendliche haben wir auf der Wiese am Bahndamm miteinander Fußball gespielt, eng waren wir nie, aber wir haben uns immer gut leiden können. Wenn wir uns heute treffen, politisieren wir. Er ist ein Schwarzer. Das ist in Vorarlberg nicht ungewöhnlich. Vor einigen Tagen redeten wir wieder einmal über den Zaun seines Grundstücks hinweg. "Jetzt reicht's", sagte er. "Wenn jetzt Wahlen wären, würde ich blau wählen. So weit bin ich." Ich fragte: "Was ist passiert, he?" Er sagte: "So kann es nicht weitergehen!" Ich fragte: "Ist etwas mit dir oder mit deiner Frau oder den Kindern?" Nichts ist. Alles ist gut. Bestens sogar. Er hat eine liebe Frau, die gern lacht, alle mögen sie. Er bezieht eine satte Pension, sein Sohn hat es gut getroffen, seine Tochter hat es gut getroffen, die Enkel sind prächtig. Dennoch meint er, es könne so nicht weitergehen. Er hat eine Wut. Ich rede mit ihm eine Stunde lang über den Zaun hinweg, er weiß nicht, warum er eine Wut hat, aber die Wut wird nicht weniger durch meine Worte. Am Ende sagt er: "Ja, schon, aber trotzdem."
Ein großer Teil jener, denke ich beim Heimgehen, die in den Siebzigern sozialistisch gewählt haben, weil sie den Kreisky wollten, die haben mit den Idealen der Sozialdemokraten wenig oder gar nichts am Hut gehabt. Kreisky habe freie, frohe Farben gebracht nach den grauen Jahrzehnten zuvor, so hieß es. Farbe oder nicht Farbe - er hat einfach etwas anderes gebracht.
Das Andere - das steht nicht unter Definitionspflicht. Im Gegenteil. Um interessant, um sexy zu sein, darf es nicht allzu viel preisgeben, es muss genügend weißen Platz lassen, auf den sich projizieren lässt. Was projizieren? Hoffnungen genauso wie Rachegelüste.
Der Bürger wünscht sich Verlässlichkeit, und er kriegt Verlässlichkeit, und Verlässlichkeit heißt, das Morgen wird gleich sein wie das Heute.
Es ist verdammt nochmal wie Fernsehen! - Von guten Serien will man viel, aber wenn man zu viel davon kriegt, dann "reicht's", dann "muss sich etwas ändern". Die Langeweile, diese heimtückische kleine Schwester der Depression, saugt aus allem die Substanz heraus. Übrig bleibt die Hülle, und diese Hülle ist von unerträglicher Leichtigkeit. Wenn ich Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" lese, geschrieben zwischen 1915 und 1918, dann bekomme ich den Eindruck, der wahrhaftige Urgrund für den Ersten Weltkrieg war die Langeweile. "Endlich!" So habe Mann - innerlich - ausgerufen, als im August 1914 die Trommelwirbel durch die Straßen hallten. Viele Zeitgenossen erinnern Ähnliches. Die durch und durch sanfte Edith Stein, Assistentin von Husserl, später Nonne, noch später heilig gesprochen, erzählt in ihren Lebenserinnerungen von der großen Erlösungsstimmung, die sie und ihre Freunde in den ersten Kriegstagen ergriffen hatte. Nicht, dass sie an Sieg oder Vaterland oder Kaiser dabei gedacht hätte, sondern nur: Es kommt etwas anderes.
Der Bürger wünscht sich Verlässlichkeit, und er kriegt Verlässlichkeit, und Verlässlichkeit heißt, das Morgen wird gleich sein wie das Heute. Und schließlich verwandelt sich die Verlässlichkeit mit quasi naturgesetzlicher Verlässlichkeit in Langeweile: weil das Morgen gleich ist wie das Heute.
Mein Freund hinter dem Gartenzaun hält wenig von Strache, er traut ihm weder den großen Erneuerer noch den großen Diktator zu, das Einzige, was er ihm zutraut, ist, dass er etwas anderes macht. Er soll ja nicht gleich alles anders machen, nur etwas. Eigentlich soll er alles so lassen, wie es ist, nur von der Empfindung, dass immer alles gleich ist und alles schon so lange gleich ist, von dieser unerträglichen Empfindung, von der soll er uns erlösen! Und das traut ihm mein Nachbar zu. Dass aus dieser, inzwischen von den Burschenschaften ideologisch durchnässten FPÖ mit verlässlicher Regelmäßigkeit Naziblasen aufsteigen, dazu sagt er nur: "Meine Güte, das sind halt ein paar Nerrsche."(Vorarlbergisch für: Verrückte) Er findet das unappetitlich, ja natürlich. Aber auch das Unappetitliche ist in der Lage, die von der Langeweile ausgesaugte Hülle zu füllen. Und wenn diese Hülle mit Gülle gefüllt wird.
Nie habe er gedacht, dass es ihm jemals so gut gehen wird, wie es ihm heute gehe. Das hat mir mein Nachbar erst vor ein paar Jahren erklärt. Da war ich derjenige gewesen, der den Teufel an die Wand gemalt hatte. Das war am Beginn der Finanzkrise gewesen. Ich hatte gejammert, es werde alles den Bach hinuntergehen, das Geld verreckt uns, rief ich, ich werde alles, was noch auf der Bank liegt, für Gitarren und Verstärker ausgeben, dann könnte ich mich und meine Frau wenigstens noch mit Tanzmusik über Wasser halten, drohte ich ihm. Da war er es gewesen, der mir vorrechnete: "Als wir zwei, he, du und ich, Fußball gespielt haben, oben beim Damm, hast du dir da träumen lassen, dass es dir jemals auch nur annähernd so gut gehen wird, wie es dir heute geht?" Natürlich nicht.
Aber dann werden seine Wähler einsehen, dass nicht alles, was anders ist, auch besser ist. Wie es die Kärntner eingesehen haben.
Aber damals war es aufwärts gegangen. Mit quasi naturgesetzlicher Verlässlichkeit würde das kommende Jahr besser sein als dieses. Und so würde es weitergehen. Der Vektor zeigte nach oben. Daraus lernen wir: Der Konjunktiv macht mehr Laune als der Indikativ. Eine noch so vage Hoffnung gibt dem Herzen mehr Substanz zurück als jede Realität. Zufrieden bin ich, wenn ich glauben darf, dass mehr kommt, ganz gleich, auf welchem Niveau ich mich befinde. Und wenn ich schließlich so viel habe, wie ich mir in meiner Jugend nie erträumte? Darf dann endlich Stillstand sein? Gilt dann:
Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!
Nein, das gilt dann nicht. Wenn schon nicht mehr kommt, dann soll wenigstens etwas anderes kommen.
Der Zyniker feixt: Dann lasst doch den Strache und seine Konsorten an die Macht! Gut, sie werden Wien ruinieren und ausplündern, wie es Haider und seine Konsorten mit Kärnten gemacht haben. Aber dann werden seine Wähler einsehen, dass nicht alles, was anders ist, auch besser ist. Wie es die Kärntner eingesehen haben. - Na, gut eine so wunderbare Stadt wie Wien zu opfern, nur damit noch deutlicher sichtbar wird, was ohnehin sichtbar ist?
Unterschätzt die Langeweile nicht! Wer in den Sternenhimmel schaut und mit der Schulter zuckt und sagt: Was weiter? -, der wird das Dasein immer unerträglich und immer unerträglicher finden. Im Ersten Weltkrieg war tatsächlich eine Welt untergegangen!
Jetzt wackelt mir nicht gleich mit dem Zeigefinger, das weiß ich auch: Wir haben heute ganz andere Bedingungen. Ja, ja. Aber die Sprengkraft der Langeweile hat sich nicht gemindert. Mein Nachbar sagt. "Manchmal würde ich gern " Was würde er gern? Er spricht es nicht einmal aus. Weil, wenn es in Worte gefasst ist, sieht man ihm das Ungeheuerliche an. Es darf nicht nackt sein. Für das Ungeheuerliche braucht man erstens eine moralisch vertretbare Begründung, das heißt: Ich brauche einen Sündenbock, den ich mir so böse zurichte, dass ich an ihm mit Recht und mit moralischer Befriedigung das Ungeheuerliche vollziehen darf, am besten, ich spreche ihm das eigentliche Menschsein ab. (FPÖ-Mann Christian Höbart: "Das sind Erd-und Höhlenmenschen.") Zweitens brauche ich, weil ich das Ungeheuerliche nicht selber tun will, jemanden, der es stellvertretend für mich tut. Ich finde, es ist bereits ein guter Schritt zum Ungeheuerlichen hin getan, einen Zaun aus Nato-Draht um Österreich zu ziehen. Ich bin dafür, vorher aber ein zwanzig Zentimeter langes Stück an jeden Haushalt zu verschicken. Damit man diesen Zaun auch daheim angreifen kann.
Michael Köhlmeier, 65, veröffentlichte seit seinem Erzähldebüt 1982 zahlreiche Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Drehbücher, Essaybände und Radiofeatures. Zuletzt erschienen der Roman "Zwei Herren am Strand"(2014) sowie die Erzählung "Das Lied von den Riesen". Köhlmeier ist mit der Autorin Monika Helfer verheiratet und lebt und arbeitet in Hohenems und Wien.