Mindestsicherung: Der notorische Schmarotzerverdacht
So gut wie jeder kennt Horrorgeschichten, vom Hörensagen, aus Facebook, von der FPÖ: Stets spielen kerngesunde Faulpelze die Hauptrolle, bevorzugt Migranten, die in Saus und Braus leben, hartnäckig jede Arbeit verweigern - und das dank Mindestsicherung auch können. "Riesenwirbel um üppiges Mindestsicherungsgeld an Wiener Familie mit ausländischen Wurzeln“ wütete die "Kronen-Zeitung“ vor zwei Wochen.
Seit ihrer Einführung vor fünf Jahren gilt die Mindestsicherung als Hängematte für Schlawiner, die es sich auf Kosten der Steuerzahler gemütlich machen. "Hier kann etwas nicht stimmen“, witterte ÖVP-Vizekanzler Michael Spindelegger im Nationalratswahlkampf 2013 im rot-grün regierten Wien, wo mehr als die Hälfte der Mindestsicherungsbezieher leben, ein Sozialschmarotzerparadies. Zwei Jahre später entdeckt ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner im anrollenden Wien-Wahlkampf das Thema wieder und trommelt für "strengere Kontrollen“: "Der Anreiz zum Arbeiten ist kaum mehr da.“
Aus den Zahlen, die zum sozialen Netz Mindestsicherung vorliegen (siehe Grafik), lassen sich mehrere Befunde destillieren: Manches an der Kritik ist heillos überzogen, manches schlicht blanker Unsinn - und manches stimmt.
Vermeintlich komfortable Hängematte
Wahnsinnig komfortabel ist die Hängematte jedenfalls nicht: Eine Person bekommt derzeit maximal 827,82 Euro netto Mindestsicherung pro Monat - zwölf Mal pro Jahr wohlgemerkt. "Das liegt unter der Armutsschwelle“, moniert Hedwig Lutz, Sozialexpertin des Wirtschaftsforschungsinstitutes und führt als Beleg gegen die Hängemattentheorie auch an: Wer Mindestsicherung beantragt, muss belegen, dass nicht mehr als 4139,13 Euro an Erspartem oder Besitz vorhanden sind. Wohnung oder Auto müssen verkauft werden, außer ein - kleines - Auto ist für den Weg zur Arbeit unverzichtbar.
Für Jugendliche kann die Mindestsicherung allerdings vergleichsweise viel Geld darstellen: Lehrlinge bekommen in den meisten Berufen deutlich weniger, Köche etwa 590 Euro, Frisöre rund 400 Euro. Daher überlegt man im Sozialministerium, Jungen Sach- statt Geldleistungen anzubieten, etwa Ausbildungsangebote.
Prinzipiell ist die Mindestsicherung kein Fall für Müßiggänger: Bei der Leistung, die 2010 die alte Sozialhilfe ablöste, handelt es sich um keine bedingungslose Grundsicherung. Jeder Bezieher muss dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, Jobverweigerern drohen Sanktionen. So weit die Theorie. Praktiker wie Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmarktservice, machen allerdings "Inaktivitätsfallen“ aus und rechnen vor: Ein Ehepaar mit drei Kleinkindern kann mit Mindestsicherung und Familienzuschlägen auf 1800 Euro kommen - mehr, als viele Ungelernte verdienen. Wie viele derartige Fälle es gibt, kann nur vermutet werden.
Das erzeugt Unbehagen, etwa bei Thomas Rajakovics. Als die Mindestsicherung 2008 verhandelt wurde, werkte er für die Caritas, heute ist er ÖVP-Gemeinderat in Graz und Pressesprecher von Bürgermeister Siegfried Nagl. "Jeder, der arbeitet, muss das Gefühl haben, dass er mehr davon hat als von der Mindestsicherung“, sagt er und fordert, dass Mindestsicherungsbezieher gemeinnützige Arbeit leisten, etwa im Pflegebereich. Noch dringlicher will er Genaues zur Mindestsicherung wissen: In Graz existieren bisher keine Statistiken, wer warum Mindestsicherung bezieht. Derart verbreitetes Nicht-Wissen schürt Missbrauchsdebatten, weil Vorwürfe seriös weder beleg- noch widerlegbar sind.
Wirtschaftskrise und Rekordarbeistlosigkeit
Gewiss ist nur: Die Kosten steigen rasant an, sie belaufen sich auf das Doppelte der alten Sozialhilfe - österreichweit im Vorjahr 600 Millionen Euro. Das liegt fraglos auch an Wirtschaftskrise und Rekordarbeitslosigkeit. Dennoch halten selbst Mindestsicherungs-Fans den Abstand zu den niedrigsten Löhnen für zu gering. Ihr Vorschlag: Höhere Gehälter.
Erwin Buchinger ist einer von ihnen. Der Ex-Sozialminister gilt als Vater der Mindestsicherung, er hat sie in der Regierung Gusenbauer-Molterer in zähen Verhandlungen durchgesetzt - und als "Sprungbrett in den Arbeitsmarkt“ beworben. Das erwies sich als Illusion. Buchinger sieht zwei Hauptgründe dafür: "Wir haben damals die Mindestsicherung mit Mindestlohnpolitik gekoppelt. Das fehlt derzeit leider - genau wie der Fokus auf Vollbeschäftigung. Die Integration in den Arbeitsmarkt wurde vernachlässigt.“
Bleibt die Frage, ob das rot-grüne Wien beide Augen zudrückt. Wien ist, so viel ist unbestritten, Mindestsicherungs-Metropole. 160.152 Menschen bekamen hier im Vorjahr die Sozialleistung - österreichweit waren es 238.000. Sozialstadträtin Sonja Wehsely hat dafür zwei einfache Erklärungen: Erstens ziehen Städte Menschen mit Problemen an. Zweitens: "Am Land trauen sich viele nicht, auf die Gemeinde zu gehen und Mindestsicherung zu beantragen.“ Auch in der Stadt Salzburg sei die Rate der Mindestsicherungsbezieher pro Kopf vier Mal so hoch wie am Land; in Graz oder Innsbruck detto.
Bildungsdefizite
Dazu kommen Bildungsdefizite: Nur in Vorarlberg ist der Anteil der Bevölkerung mit maximal Pflichtschulabschluss höher als in Wien (23 Prozent) - und diese Gruppe ist typische Klientel: Das Gros der Mindestsicherungsbezieher ist über die Pflichtschule nicht hinausgekommen und vererbt Armut - 52.326 der Bezieher sind Kinder. Selbst wenn schlecht Ausgebildete arbeiten, sind sie oft auf Mindestsicherung angewiesen: 90 Prozent der Wiener Empfänger bekommen sie zu ihrem Job, ihrer Pension oder ihrer Arbeitslosenunterstützung dazu, weil das Geld nicht reicht. Diese sogenannten "Zuzahler“ sind der Grund, warum der durchschnittliche Mindestsicherungsbezieher 300 Euro pro Monat bezahlt bekommt.
Auch die Zahl der anerkannten Asylwerber, die von der Mindestsicherung leben, steigt. 18.500 syrische Flüchtlinge bekamen allein in den ersten Monaten 2015 in Wien Mindestsicherung - im ganzen Jahr 2013 waren es 11.000 gewesen. "80 Prozent aller anerkannten Flüchtlinge zieht es nach Wien“, analysiert Wehsely. Ohne Deutschkenntnisse wird es kaum Jobs für sie geben - deswegen hält sie Sprachkurse für essenziell. Genau wie Integrationsminister Sebastian Kurz.
Macht die Mindestsicherung Österreich zum "Schlaraffenland“ für Zuwanderer? Sozialexpertin Lutz sagt dazu: "Asylwerber dürfen nicht arbeiten. Da kann man ihnen schwer vorwerfen, dass sie sofort nach ihrer Anerkennung keinen Arbeitsplatz haben.“ Eindeutig ist allerdings: 28 Prozent der Nicht-Österreicher stecken im Niedriglohnsegment fest und verdienen monatlich weniger als 800 Euro brutto. Also unter der Mindestsicherung.
Bei allen Schwächen: Die Mindestsicherung gibt es seit fünf Jahren. Die berühmte Transparenzdatenbank, die gleichzeitig beschlossen wurde und gleichzeitig hätte kommen sollen - sie existiert bis heute nicht.
Zahlen:
83.000 Mindestsicherungsbezieher wurden seit 2010 auf einen Arbeitsplatz vermittelt
30% der Mindestsicherungsbezieher haben Migrationshintergrund
300 € bekommt der statistisch durchschnittliche Mindestsicherungsbezieher
20% der Mindestsicherungsbezieher sind Alleinerziehende
827,82 Euro Netto beträgt derzeit die maximale Mindestsicherung pro Person
18.500 syrische Flüchtlinge bekamen allein in den ersten Monaten 2015 in Wien Mindestsicherung - im ganzen Jahr 2013 waren es 11.000
8,2 Monate lang wird statistisch durchschnittlich Mindestsicherung bezogen
600 Millionen Euro kostet die Mindestsicherung pro Jahr
238.000 Menschen bekamen im Lauf des Jahres 2014 in Österreich Mindestsicherung - 160.152 davon in Wien
52.326 davon sind minderjährige Kinder
80% der Mindestsicherungsbezieher haben gar keinen Bildungsabschluss oder maximal Pflichtschulabschluss
4139,13 € - mehr darf niemand besitzen, der Mindestsicherung beantragt. Schmuck, Erspartes, Wohnung, Auto - alles, was diesen Betrag übersteigt, muss veräußert werden