Nationalrätin Helene Jarmer: "Das ist ein Skandal"
Der etwas melodramatische Verleihtitel "Die Sprache des Herzens tut Jean-Pierre Améris neuem Film - im französischen Original schlicht: "Marie Heurtin - tatsächlich nicht ganz Unrecht. Aber es geht nun einmal um Herzzerreißendes, nämlich um die wahre Geschichte der Titelheldin, die 1885 taubblind zur Welt kam und erst als Zehnjährige in einem Kloster langsam einen Draht zur Welt fand. Der unter anderem am Festival von Locarno preisgekrönte Film startet in Österreich am 1. Jänner und bildet einen schönen Anlass, um mit der grünen Nationalrätin Helene Jarmer einmal über die Situation von gehörlosen Menschen in Österreich zu sprechen - und über die Barrieren, an die sie immer noch stoßen.
profil: Offenbar war es für den Verleih von "Die Sprache des Herzens gar nicht so einfach, eine barrierefreie, also für gehörlose Menschen untertitelte Fassung in die heimischen Kinos zu bekommen. Mangelt es an Verständnis für die Bedürfnisse gehörloser Menschen?
Helene Jarmer: Mich überrascht das nicht. Allgemein bleibt Barrierefreiheit in unserer Gesellschaft leider ein Fernziel. Im beruflichen Umfeld funktioniert es oft schon ganz gut, und auch die Bewusstseinsbildung war in den vergangenen 20 Jahren erfolgreich. Aber Barrierefreiheit ist, vor allem auch im Freizeitbereich, keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: Sie bleibt die Ausnahme. Mich überraschen Situationen, in denen es keine Barrieren gibt.
profil: Kürzlich wurde ein Antrag einer Kärntner Schülerin, Prüfungen in Gebärdensprache abzulegen, abgelehnt. Das Argument lautete: Unterrichtssprache könne nur eine Muttersprache sein.
Jarmer: Gebärdensprache ist Muttersprache. In der Linguistik herrscht darüber kein Zweifel. Es ist schon komisch: 2005 wurde Gebärdensprache als Amtssprache in den Verfassungsrang erhoben. Jetzt haben wir bald 2015. Und in den Schulen gibt es nach wie vor keinen Unterricht in Gebärdensprache.
profil: Bildungsabschlüsse von gehörlosen Menschen liegen in Österreich entsprechend weit unter dem Durchschnitt. Gibt es international bessere Beispiele?
Jarmer: Die skandinavischen Länder sind hier Vorreiter. Dort gibt es ein Recht auf Unterricht in Gebärdensprache und auch eine Verpflichtung für das Lehrpersonal, Gebärdensprache auf hohem Niveau zu erwerben. In Österreich gibt es in der Lehrerausbildung diesbezüglich leider ein großes Defizit. Für den Unterricht an Gehörlosenschulen reicht die Teilnahmebestätigung an einem Schnell-Kurs, der oft auch erst nach mehrjähriger Berufspraxis absolviert wird. Und die Schüler sollen halt irgendwie zurechtkommen. Das ist ein Skandal.
profil: Mit welchen Argumenten werden Maßnahmen zur Integration von gehörlosen Menschen verhindert?
Jarmer: Die Gesellschaft ist nicht gebärdensprachig. Die gehörlosen Menschen sollen sich anpassen. Gebärdensprache ist keine richtige Sprache. Durch Gebärdensprache wird die Lautsprachenkompetenz verringert. Dazu kann ich nur sagen: Das Wichtigste ist nicht das Sprechen, sondern die Sprachkompetenz. Es gibt Leute, die ohne Gebärdensprache aufwachsen und auch in der Schule gute Erfolge haben, aber dadurch, dass sie so viel Zeit fürs Lernen aufwenden müssen, sozial völlig hinterherhinken. Und sehr viele Gehörlose, die als Kind keine Gebärdensprache erlernt haben, sind auch lautsprachlich nicht besonders kompetent. Diese Leute sind für den Arbeitsmarkt ein großes Problem, weil kaum vermittelbar.
profil: Ist das Handwerk immer noch die klassische Gehörlosenbranche?
Jarmer: Ja, wobei die Lebenssituation für Handwerker früher doch wesentlich besser war. Wo floriert Handwerk denn noch? Hilfstätigkeiten boomen bei gehörlosen Personen, aber angesehene Berufe wie Schuster, Schneider oder Tischler gibt es kaum noch. Der Arbeitsmarkt ist wirklich ein hartes Pflaster.
profil: Die große Nachricht zum Thema Gebärdensprache war in diesem Jahr der verhinderte Gebärdensprachen-Dolmetsch beim Begräbnis von Nelson Mandela. Haben Sie sich darüber eigentlich sehr geärgert?
Jarmer: Das war kein Dolmetsch, er hatte tatsächlich keine Ahnung von Gebärdensprache. Aber ganz ehrlich: Wegen dieser Aktion wurde weltweit über den Beruf geredet. Das war gut und wichtig. Insofern war es die letzte Tat Nelson Mandelas, auf die Gebärdensprache und ihre Bedeutung hinzuweisen.