ÖVP: Konservativer Widerstand gegen Mitterlehners liberalen Kurs
Wilhelm Molterer reiste aus Luxemburg an. Othmar Karas kam aus Brüssel, Hannes Missethon aus der Steiermark. Weniger weit hatten es die Wienerinnen Ingrid Korosec und Maria Rauch-Kallat. Auch Reinhold Lopatka fand sich ein. Ferry Maier sagte wegen eines Auslandstermins ab. Ein paar Gäste blieben nur bis zu Vorspeise und rauschten nach den Horsduvres in den Musikverein ums Eck zum Philharmonikerball. Auch so blieb es eine bunte Runde, die da Donnerstag vergangener Woche im Wiener Palais Todesco gegenüber der Staatsoper zusammentraf: ÖVP-Generalsekretär Gernot Blümel hatte seine 15 noch lebenden Vorgänger zum Gedankenaustausch ins frühere Hauptquartier der Volkspartei geladen. Immerhin acht ehemalige Generalsekretäre kamen, darunter auch Herbert Kohlmaier. Als der 80-Jährige in den 1970er-Jahren die Parteizentrale leitete, war der 33-jährige Blümel noch gar nicht geboren.
Wie sieht eine moderne Volkspartei aus?
Blümels direkte Vorgänger Johannes Rauch (Generalsekretär unter Michael Spindelegger) und Fritz Kaltenegger (unter Josef Pröll) fanden keine Zeit. Dabei hätte Blümel mit beiden eine zentrale Frage erörtern können: Wie sollte eine moderne Volkspartei im 21. Jahrhundert sein? Eher nach den Vorstellungen Spindeleggers? Oder so, wie sie Pröll sah?
Blümels Boss, Reinhold Mitterlehner, überholt seinen Vorvorgänger Pröll derzeit links. Der 16. Bundesobmann der ÖVP verpasst seiner Partei eine gesellschaftspolitische Schockkur. Den Aufbruch in die Moderne können nicht alle nachvollziehen. Im konservativen Lager formiert sich Widerstand.
Einige Abgeordnete wunderten sich über die Wortwahl des Chefs bei dessen Grundsatzreferat vor dem ÖVP-Parlamentsklub, der sich vergangene Woche zur Neujahrsklausur ins oststeirische Pöllauberg begeben hatte. Reinhold Mitterlehner im Originalton: Die Gesellschaft? Multi-Kulti. Der Islam? Ein Teil unserer Gesellschaft. Ein Mandatar: Inhaltlich hat er ja recht. Aber natürlich hätte man das auch softer formulieren können.
Stenzel ortete "Wählervertreibung"
Die Zeiten, als schwarze Spitzenrepräsentanten über den Islam öffentlich stänkerten, sind vorüber. Im Sommer 2013 hatte die damalige Bezirksvorsteherin der Wiener Innenstadt, Ursula Stenzel, ihrer Partei vorgeworfen, zu liberal zu sein und mit der Nominierung des Muslims Asdin El Habbassi für den Nationalrat Wählervertreibung zu betreiben. Mittlerweile ist der 28-jährige Halleiner bereits zum Landesobmann des schwarzen Arbeitnehmerbunds (ÖAAB) in Salzburg aufgestiegen. Die Offenheit, von der El Habbassi persönlich profitierte, verweigerte er freilich vergangene Woche. Mit drei weiteren ÖVP-Abgeordneten stimmte er gegen das neue Fortpflanzungsmedizin-Gesetz, das künstliche Befruchtung für lesbische Paare, Eizellenspenden, Samenspenden Dritter bei der In-vitro-Fertilisation und eingeschränkt Präimplantationsdiagnostik ermöglicht.
Das neue Gesetz war von konservativen Kreisen inner- und außerhalb der Volkspartei hintertrieben worden. ÖVP-Abgeordnete wurden mit Protestmails bombardiert. Vor allem der einflussreiche Cartellverband versuchte, Druck auf seine prominenten Mitglieder Reinhold Mitterlehner, Gernot Blümel, Justizminister Wolfgang Brandstetter, Klubobmann Reinhold Lopatka und Seniorenbund-Präsident Andreas Khol auszuüben. In der Tiefenstruktur der Partei organisierte Gudrun Kugler, Consulterin und Leiterin einer katholischen Heiratsvermittlung, Widerstand. Kugler hatte wiewohl parteilos bei den Landtagswahlen 2005 für die Wiener ÖVP kandidiert. Ihr Ehemann war einst Pressesprecher der stramm rechtsgläubigen Laienorganisation Opus Dei. Als scharfe Kritikerin der Neuregelung gilt auch Stephanie Merckens, die 2008 bei der Nationalratswahl auf der ÖVP-Liste stand. Die Juristin ist Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt und Lebensschutz-Referentin im Institut für Ehe und Familie der österreichischen Bischofskonferenz.
Von der Amtskirche hat sich die ÖVP mit ihrer Zustimmung zum Fortpflanzungsmedizin-Gesetz weiter entfremdet. Vergeblich hatte Peter Schipka, Generalsekretär der Bischofskonferenz, bei Diskussionen im ÖVP-Parlamentsklub versucht, die schwarzen Abgeordneten umzustimmen. Unter anderen zeigte auch der frühere Nationalratspräsident Andreas Khol den Würdenträgern Grenzen auf: Wir haben ein korrektes Verhältnis zu den Bischöfen. Die christliche Soziallehre ist eine unserer wichtigsten Quellen. Aber die Entscheidung trifft nicht die Kirche, sondern die Politik. (siehe Interview).
Khol zieht mit
Andreas Khol hatte stets als Lordsiegelbewahrer konservativen Gedankenguts innerhalb der Volkspartei gegolten. Mit Reinhold Mitterlehner verband ihn in der Vergangenheit nicht allzu viel wie auch umgekehrt. Den Kurs seines neuen Obmanns trägt Khol voll mit. Bei der Klubklausur hatte Mitterlehner seine Partei aufgefordert, den bisherigen Zugang, es könnte sich beim Abschluss einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft vor dem Standesamt um eine Konkurrenz zur traditionellen Familie handeln, zu überdenken. Es gehe um Gleichberechtigung und nicht um Über- oder Unterordnung. Zur wirklichen Zäsur ist freilich auch Mitterlehner nicht bereit. Eine Öffnung der Ehe für Homosexuelle nach dem Vorbild von Frankreich oder Spanien wird es nicht geben.
Manchen in der Partei gehen Mitterlehners pragmatische Ansätze schon zu weit. Zum einen aus ideologischen Motiven: So will die Chefin des ÖVP-Frauenbunds, Dorothea Schittenhelm, homosexuellen Paaren das Adoptionsrecht für Wahlkinder weiter verweigern, obwohl der Verfassungsgerichtshof dieses Verbot jüngst aufhob. Zum anderen aus wahltaktischen Gründen. Ein Abgeordneter: Ich frage mich, ob wir links dazugewinnen, was wir rechts opfern.
Dass Mitterlehner in Parteisitzungen sogar im Beisein katholischer Würdenträger die Scheinmoral der Kirche beim Zölibat offen kritisiert, löst bei manchem Funktionär schwere Irritationen aus.
Mitterlehner vertritt die von ihm eingemahnten gesellschaftspolitischen Lockerungen selbst authentisch. Man kann sich den Bundesparteiobmann der ÖVP beim entspannten Flirt mit Conchita Wurst durchaus vorstellen. Michael Spindelegger gratulierte nach dem Song-Contest-Erfolg noch verdruckst dem Künstler Tom Neuwirth und seiner Figur Conchita Wurst.
Spindeleggers Vorgänger Josef Pröll hatte 2007 als Umweltminister eine eigene Perspektivengruppe installiert, um über die Neuausrichtung seiner Partei nachdenken zu lassen. Nach Prölls Abgang als Parteichef 2011 landete das Reformkonzept in den Archiven der Partei. Einige wesentliche Punkte wurden aber doch umgesetzt: etwa 2010 die eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare. Tempora mutantur: Stoppt Schüssel und ihren Mann, hatte noch vor einem Jahrzehnt Lambda getitelt, das Magazin der Homosexuellen-Initiative Hosi, die für den Widerstand des damaligen Kanzlers gegen Homo-Gleichberechtigung dessen Gattin verantwortlich machten.
Keine Kritik "bis zur ersten Wahlniederlage"
Ideologische Korrekturen kann ein neuer Obmann nur unmittelbar zu Beginn seiner Amtszeit durchsetzen, wenn ihm die Partei in ihrer Anfangseuphorie noch bedingungslos folgt. Selbst der Wirtschaftsbund unterdrückt seinen Zorn über den eigenen Obmann, der mit seinem Bekenntnis zum Rauchverbot die Wirte vor der Wirtschaftskammerwahl verstörte. Ein Vorstandsmitglied: Was Mitterlehner derzeit vorgibt, ist die Mehrheitsmeinung in der Partei. Offene Kritik gibt es nicht. Zusatz: Bis zur ersten Wahlniederlage.
Gernot Blümels Job ist es, zu garantieren, dass derartige Rückschläge ausbleiben. Bis zum Bundesparteitag im Mai soll unter der Ägide des Generalsekretärs ein neues Parteiprogramm entwickelt werden. Zu intellektuellen Befruchtungszwecken startete Blümel ein gigantisches Brainstorming. Unter dem Titel Evolution Volkspartei sammelte die ÖVP-Zentrale bei Parteimitgliedern und Sympathisanten im Herbst 3000 Ideen und 20.000 Kommentare. Auch hier brachten sich die Konservativen ein: So mahnte der Ex-Bezirksvorsteher von Wien-Wieden und frühere Klubdirektor der niederösterreichischen ÖVP, Karl Lengheimer, die ÖVP sollte sich klar zu einer christlich-humanistischen Wertordnung bekennen. Deren Wurzeln seien stärker als die vergleichsweise flachen Wurzeln einer europäischen und einer nationalen Verfassungsordnung.
"Unsere Mitglieder wollen eine Partei der Mitte"
Parteizentrale 39 Fragen, über die alle Parteimitglieder bis Ende Jänner abstimmen dürfen. Während das Ergebnis der lapidaren Frage 8 (Soll sich die ÖVP klar für den Wert ,Eigentum aussprechen und damit ebenso klar gegen eine Substanzbesteuerung z. B. in Form von Vermögenssteuern?) erwartbar ist, zeigen die bisher eingegangen 4800 Antwortbögen auch überraschende Details. So fordern knapp 4000 Parteimitglieder, dass bei Wahlen Kandidaten mit mehr Vorzugsstimmen zwingend vorzureihen sind ein Albtraum für die Mehrheit der ÖVP-Abgeordneten, die intern bereits vor einem Parlamentsklub voller Volkstribune und ohne Sachpolitiker warnen. Eine knappe Mehrheit von 2500 Parteimitgliedern fordert eine Umstellung auf ein Verhältniswahlrecht. Entflammbar bis explosiv fällt das vorläufige Ergebnis bei Frage 3 (Soll es künftig konkrete Regelungen für die Einbindung von Frauen bei Listenerstellungen der ÖVP geben, z. B. Reißverschlusssystem) aus: 2400 sind dafür, fast ebenso viele (2300) dagegen. Die ÖVP doch keine Partei der Frauenförderung? Generalsekretär Blümel: Dieses Thema ist von Beginn an sehr breit und kontroversiell diskutiert worden. Jetzt sind unsere Mitglieder mit ihrer Bewertung am Wort. Klar ist, dass die verstärkte Teilnahme von Frauen in der Politik ein wesentliches Thema ist. Insgesamt ist der Generalsekretär zufrieden: Das bisherige Ergebnis zeigt, dass wir weder eine Super-Fundi-Konservativ-Bewegung sind noch eine links-liberale Truppe, sondern eine echte Volkspartei. Unsere Mitglieder wollen eine Partei der Mitte.
Einem von Blümels Vorgängern, der es sogar zum Bundesparteiobmann brachte, geht der Evolutionsprozess nicht weit genug. Die Reformbemühungen seien zu wenig radikal, so Erhard Busek jüngst im Standard.
Es mag für Blümel ein Trost sein: Ein ÖVP-Generalsekretär, der nicht von Busek kritisiert wird, macht etwas falsch. Zum Treffen der Generalsekretäre vergangene Woche war der Ex-Parteichef nicht erschienen.
Interview mit Andreas Khol: "Natürlich sind wir ein Einwanderungsland"