Schlepper-Lkw: Neue Details zur Tragödie von Parndorf
Warum sind sie überhaupt eingestiegen? Diese Frage treibt viele Hinterbliebene der 71 Toten aus dem Schlepper-Lkw von Parndorf mehr als alle anderen um. Denn unter den Opfern waren ausgebildete Techniker, die sofort erkannt haben müssen, dass es sich bei dem Fahrzeug um einen luftdicht verschlossenen Kühltransporter handelte; eines der Opfer hatte zeitlebens unter schwerer Klaustrophobie gelitten; ein weiteres, der Geschäftsmann Abdalsalam A., war asthmakrank, zudem äußerst bedacht auf die Sicherheit seiner 17-jährigen Tochter und wohlhabend - konnte es sich daher also leisten, nicht jeden Schlepper zu akzeptieren.
Wie viele andere Angehörige kann sich Abdalsalams Tochter Farah im Gespräch mit profil nicht erklären, was ihren Vater dazu bewegt haben kann, in den Lkw einzusteigen. Wurden er und seine Familie gezwungen? Aussagen eines Mannes, der dem Tod im Kühllastwagen nur durch Zufall entging, deuten in diese Richtung: Yossef C. war ursprünglich mit seinem Bruder Abdalsalam A. unterwegs gewesen. Wäre alles nach Plan verlaufen, wäre auch er eingestiegen. Nur einem Zufall verdankt er es, dass er noch am Leben ist.
Als sie ihn in seiner kleinen Wohnung aufsuchen, spielt er ständig mit einer Pistole herum.
Die letzte Etappe hätte die einfachste der Flucht aus Syrien sein sollen. Anfang August trifft Yossef in der Türkei seinen Bruder Abdalsalam und dessen Familie. Nach der Überfahrt auf eine griechische Insel geht die Reise leicht voran. Ohne Schlepper schaffen sie es durch Mazedonien nach Belgrad, erst dort kommen sie nicht mehr alleine weiter. Ein Serbe, an den sie zunächst verwiesen werden, scheint ihnen wenig vertrauenerweckend.
Als sie ihn in seiner kleinen Wohnung aufsuchen, spielt er ständig mit einer Pistole herum - sich mit ihm einzulassen, sei zu riskant, entscheidet Abdalsalam. Daraufhin empfiehlt ihnen ein syrischer Vermittler einen Schlepper, der aufgrund seiner Herkunft den Spitznamen "Afghani" trägt. Dieser ist um einiges teurer als die anderen, hat aber den Ruf, entsprechend verlässlich zu sein. Afghani verspricht, Abdalsalam und seine Angehörigen in Pkws zu je vier Insassen nach Deutschland zu transportieren. Am 25. August ist es so weit: Die Familie wird in drei Pkw verteilt Richtung ungarische Grenze gebracht. Auf offener Strecke erhält der Fahrer des Autos, in dem Yossef sitzt, einen Anruf von Afghani - und biegt daraufhin unvermittelt in den Wald ab. Yossef muss aussteigen. Ein Fahrzeug werde ihn abholen, heißt es. Das taucht jedoch nie auf.
Nach stundenlangem, vergeblichem Warten nimmt Yossef ein Taxi zurück nach Belgrad. Von dort ruft er seinen Bruder Abdalsalam an. Der Zwischenfall hat ihn alarmiert, jetzt versucht er, seinen Bruder zum Umkehren bewegen. Um 18 Uhr telefonieren die beiden ein letztes Mal: Eine Rückkehr sei nicht möglich, sagt Abdalsalam. Er und die anderen stünden im Wald, umringt von Polizei. Bald würden Autos kommen, um sie weiter nach Deutschland zu transportieren. Es fehle ihnen aber an Wasser und Essen, Yossef möge schnell nachkommen und das Nötigste mitbringen.
Als die Türen des Laderaums aufgerissen werden und den Flüchtlingen Taschenlampen entgegenleuchten, ist der Fahrer bereits verschwunden.
Da keiner der beiden weiß, wo sich der Sammelplatz befindet, muss Yossef warten , bis er am nächsten Tag von Afghani kontaktiert wird. Seine Familie ist vermutlich bereits tot, als auch er von den Schleppern mitgenommen wird. "Wir gingen drei Stunden bis zur serbisch-ungarischen Grenze, dann noch einmal dreieinhalb Stunden. In einem verlassenen Haus im Wald haben wir die Nacht verbracht", erzählt er gegenüber profil. Er habe gefragt, wann er seine Familie wiedersehe. Die nüchterne Antwort: "In Deutschland."
Nach dem Fußmarsch über die ungarische Grenze muss Yossef mit seiner neuen Flüchtlingsgruppe wieder im Wald warten. Die Schlepper versprechen, die Reise nun mit mehreren Pkw fortzusetzen. Was schließlich anrollt, ist allerdings ein Kleinlastwagen. Die Schlepper hätten nun Waffen gezückt, berichtet Yossef: ",Schnell, schnell!', haben sie gebrüllt und uns ins Wageninnere gescheucht." Offenbar wollen die Männer verhindern, dass die Flüchtlinge zögern - die Gefahr, von der Polizei entdeckt zu werden, ist zu groß.
In diesem Moment habe er aber ohnehin kaum an die Gefahren gedacht, die eine Reise im Inneren eines Laderaums mit sich bringt, sagt Yossef: Er sieht sich bereits in Deutschland. Was sind da noch ein paar Stunden, dicht zusammengedrängt mit Dutzenden anderen Flüchtlingen im Frachtraum eines Kleinlasters? In Deutschland kommt aber auch er nicht an: Bereits nach drei Stunden Fahrt stoppt das Fahrzeug kurz hinter der österreichischen Grenze. Als die Türen des Laderaums aufgerissen werden und den Flüchtlingen Taschenlampen entgegenleuchten, ist der Fahrer bereits verschwunden.