Schlepper-Tragödie: Die letzten Tage zweier syrischer Kurden
Dienstag, 25. August 2015, 19.38 Uhr: Jihad H. und Massoud Y. melden sich via Handy von der serbisch-ungarischen Grenze bei ihren Verwandten.
"Wir gehen jetzt über die Grenze nach Ungarn und warten dort auf unseren Schlepper. Dann können wir nach Österreich.“
In Wien warten der Onkel von Massoud, Reber R., und der Cousin von Jihad H., Nizar K., auf die beiden; in Schweden sitzt Mohamed H., ein Bruder von Jihad H., auf Nadeln. Wien soll die Endstation der Flucht werden, hier wollen sie ein neues Leben anfangen. Fünf Stunden Fahrzeit trennt die beiden syrischen Kurden von ihrer neuen Heimat. Mohamed M. hat die Telefonnummer des Schleppers. Dieser hat die Abfahrt in Ungarn für Mittwoch Früh geplant. Ab Mittag wird der Lastkraftwagen mit ungarischem Kennzeichen vom Mautsystem auf der Autobahn in Budapest erfasst. Es wird Abend, Nacht.
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Viele Insassen des Lkw bleiben vielleicht namenlos, als Kollektiv jedoch unvergessen: 71 Menschen, die im Laderaum eines luftdicht verschlossenen Lkw starben.
profil zeichnet auf Basis von Gesprächen mit Verwandten die Schicksale zweier Syrer nach, die auf dem Weg in ein vermeintlich besseres Leben erstickten - nur einen Steinwurf von ihrer neuen Wahlheimat Wien entfernt.
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In Europa würde man Massoud Y. einen Individualisten nennen. Der 34-Jährige trägt langes Haar, ist stilbewusst, mit über 30 noch Single, verliebt in seine Bücher. Er ist wie die meisten syrischen Kurden Sunnit, geht aber viel öfter in die Bibliothek als in die Moschee. Sein Vater, ein kurdischer Bauarbeiter, unterstützt ihn in seinem Bildungshunger. Er drängt den Sohn weder, seine Haare zu schneiden und eine Familie zu gründen, noch mahnt er ihn zum Freitagsgebet. Er will, dass Massoud studiert, lernt, geistig wächst. Bei drei weiteren Söhnen und acht Töchtern muss sich der Vater um Enkel keine Sorgen machen. Er zahlt dem Sohn das Studium und die Miete in Damaskus. Massoud Y. studiert Agrarwissenschaften, schließt das Master-Studium ab. Nun will er den Doktortitel machen. In seiner Heimat im Nordosten Syriens ist dieses Know-how gefragt. Der Anbau von Weizen und Baumwolle prägt die Region, mit Bewässerungsanlagen wird der Ertrag in den trockenen Sommermonaten optimiert.
Massoud Y. plant, mit seinem Doktortitel aus Damaskus in seine Heimat in Nordsyrien zurückzukehren. Dann brechen 2011 die Aufstände gegen Präsident Baschar al-Assad aus. Im Häuserkampf zählt nicht mehr der Einsatz des Geistes, sondern jener des Körpers. Der Kurde muss zum ersten Mal vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehen. Der Krieg ist im Westen ausgebrochen, noch bleibt seine Heimatstadt Qamishli verschont. In der nahen Provinzhauptstadt Al Hasakah will Massoud in einer Baumwollfabrik so lange arbeiten, bis in Damaskus und auf seiner Uni wieder Ruhe einkehren. Doch die Mörderbanden der Terrormiliz IS tragen den Krieg mit ihren Jeeps und schwarzen Fahnen vor die Tore der 200.000-Einwohner-Stadt. Qamishli ist kein zweites Kobane. Die Volksverteidigungseinheit der Kurden in Nordsyrien, YPG, sichert einen Verteidigungsgürtel um die Stadt. Doch die Kopfabschneider schleusen Selbstmordattentäter nach Qamishli und zünden Autobomben.
Nur einen Kilometer liegt Qamishli von der türkischen Grenze entfernt. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es hier gar keine Grenzen. Ein zufälliger Strich auf dem Reißbrett der Diplomatie hat Qamishli dem späteren Syrien zugeschlagen. Die Grenzen zum Norden sind dicht, im Süden und Westen blockiert IS den Nachschub. Qamishli lebt von Schmuggelware, und die ist bald unerschwinglich. Der Strom fällt aus, Wasser wird knapp.
In der arabischen Republik Syrien fristen die Kurden schon lange ein Leben als Volk zweiter Klasse, das Regime unterdrückt ihre Sprache, ihre Namen, ihre Kultur. Nun kommt mit IS ein Feind hinzu, der sie nicht unterdrücken, sondern vernichten will. Gegen die jesidischen Kurden in der Region beginnt die Terrormiliz einen Genozid.
Anfang 2013 ziehen die Eltern Massouds mit ihrem Hab und Gut in den Irak, in das größte Zeltlager für syrische Flüchtlinge. Dort leben 50.000 Menschen. Die irakischen Kurden regieren seit dem Sturz Saddam Husseins weite Teile des Nordens. Von dort aus ist für den Vater der Weg ins alte Haus in Qamishli nicht komplett abgeschnitten, eine Rückkehr ins alte Leben erscheint möglich.
Ende 2014 ruft der Vater auch seinen Sohn zu sich ins irakische Camp. IS steht zu dieser Zeit 20 Kilometer vor Qamishli. Massoud soll in Europa studieren und nicht durch eine Kugel an der Front oder eine Bombe auf dem Marktplatz sterben, so will es das Oberhaupt der Familie. Der Vater pendelt nach Qamishli, verkauft die Hälfte des Hauses an einen Kriegsgewinnler. Nicht nur das Schlepperwesen, auch die Spekulation mit Kriegs-Schnäppchen blüht.
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Am Donnerstag den 27. August 2015, verbreitet sich eine Nachricht unter den syrischen Emigranten in Wien wie ein Lauffeuer: In einem schon länger auf dem Pannenstreifen der Autobahn A4 abgestellten Lkw sollen 50 Menschen gestorben sein. Flüchtlinge aus Syrien werden in dem Fahrzeug vermutet. Die Opferzahl wird später auf 71 korrigiert. Die Nachricht erreicht auch die Verwandten von Massoud Y. und Jihad H. Sie sind schwer beunruhigt. Der Bruder in Schweden wählt die serbische Nummer des Schleppers. Keiner hebt ab.
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Seinen ersten Schlepper bezahlt Massoud Y. an der irakisch-türkischen Grenze. 7000 Euro hat er vom Vater mit auf den Weg bekommen. Das muss für alle Schlepper zwischen dem Irak und Wien reichen. Am 4. August ist es so weit. Als einziges der zwölf Geschwister bricht Massoud Y. nach Europa auf. Es ist stockdunkel, auf der anderen Seite der Grenze wartet ein Pkw und bringt ihn ins nächstgelegene Dorf. Dort löst Massoud Y. ein Busticket nach Istanbul, wo er Jihad H. trifft. Der 40-Jährige ist der Mann seiner Cousine, sein ehemaliger Nachbar in Qamishli und Freund von Kindesbeinen an. Nun sind sie Weggefährten auf der Reise in ein neues Leben. Sie kommen in Istanbul für zehn Tage bei Jugendfreunden unter. Mit ihnen bricht ein Brüderpaar auf. Man kennt sich aus Qamishli.
Anders als die meisten syrischen Flüchtlinge hier in der Türkei zieht es die beiden Freunde nicht nach München, Berlin oder Hamburg, sondern nach Wien. Dort wohnen seit vier Jahren Reber R., der Onkel von Massoud Y., und Nizar K., der Cousin von Jihad H. Per Smartphone halten sie auf ihrer Flucht ständig mit den Verwandten in Wien und Schweden Kontakt. In Schweden lebt einer der Brüder von Jihad H.
Jihad hat sieben weitere Brüder und zwei Schwestern. In Syrien war er Bauarbeiter. Nun will er mit seiner Frau, Leila H. und seinen zwei Töchtern (sie sind zwei und vier Jahre alt) in Wien ein neues Leben anfangen. Leila H. ist die Cousine seines Freundes Massoud. Das Geld, das Jihad H. gespart und ausgeborgt hat, reicht vorerst nur für ihn. Die Familie muss er zurücklassen.
Europäischen Boden betreten Jihad H. und Massoud Y. am 14. August. Sie steigen auf einer griechischen Insel aus einem Schlauchboot. 1800 Euro hat der Schlepper verlangt. Sind sie auf Kos oder Lesbos? Die Hafen-Fotos von Massoud Y. lassen keinen Rückschluss darauf zu. Auf diesen Bildern wirkt er glücklich, entspannt, angekommen in Europa - nahe am Ziel. Fünf Tage warten sie im Hotel, spazieren zum Hafen und zurück. Sie haben einander viel zu erzählen, über die Lage der Kurden, ihre Träume, ihre Pläne. Das war schon in Qamishli und später in Damaskus so. Jihad arbeitete auf den Baustellen der Hauptstadt und traf den Freund am Wochenende nach der Uni im Café oder auf dem Bazar.
Die beiden verlassen Griechenland. Vom griechischen Festland geht die Reise durch Mazedonien und Serbien zügig voran. Das nächste EU-Land auf der Balkanroute der syrischen Flüchtlinge ist Ungarn. Am 25. August überqueren sie die Grenze zu Fuß. Die Abfahrt aus Ungarn ist für den darauffolgenden Morgen geplant. Am 26. August steigen sie mit 69 anderen Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan in den Kühllaster ein. 2000 Euro haben sie für diesen Höllenritt bezahlt - macht in Summe 140.000 Euro für die Schlepper.
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Am Donnerstag, den 27. August, ruft Jihads Cousin Nizar K. in Wien eine Vermissten-Hotline an, die von der Polizei eingerichtet wurde. Ein Freund aus der Community steht ihm zur Seite. Sie werden an die Wiener Gerichtsmedizin verwiesen, sie gehen hin und hinterlassen ein Foto von Massoud Y. Sie bekommen einen Termin für den nächsten Tag.
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Am Freitag versetzt ein Foto der "Kronen Zeitung“, das den geöffneten Lkw abbildet, die Angehörigen in Schockstarre. Sechs Leichen, die eng verschlungen übereinander liegen. Ein Bild wie Armageddon. Im Vordergrund: ein Opfer mit langen Haaren. Sehnen und Muskeln der Hand deuten auf einen Mann hin. Massoud Y.?
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Noch am selben Tag bittet eine Gerichtsmedizinerin Nizar K. und seinen Freund in ihr Büro und reicht ihnen Wasser; sie spricht mit gedämpfter Stimme. Die beiden nehmen das Schlimmste an. Als Nächstes sollen sie sich zur Polizei nach Eisenstadt begeben.
Auf dem Weg in die burgenländische Hauptstadt fahren auf der Gegenfahrbahn ungarische Lkw Richtung Wien - fest verriegelt, gespenstisch. Auch die Polizisten in Eisenstadt sind betont freundlich. Wissen auch sie schon mehr? Sie bitten die beiden um die Nummern der Schlepper, um Fotos, weitere Dokumente. Die Polizei sagt, sie habe Ausweise und Handys gefunden und sei nun beim Übersetzen. Auf Basis von Dokumenten allein dürfe man keine endgültige Aussage treffen. Die könnten gestohlen sein.
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Der Onkel von Massoud Y., Reber R., hat eine DNA-Probe abgegeben und wartet auf das Ergebnis. Mit den Eltern Massouds Y. im Irak telefoniert er nun fast täglich. Es gibt traurige Nachrichten. Am 30. August ist ein Bruder von Jihad H., der 32-jährige Dilgesh H., mit dem Motorrad tödlich verunglückt. Der Französischlehrer hat auf der Fahrt nach Qamishli ein entgegenkommendes Auto übersehen. Die Familie glaubt, dass die Nachricht vom Todes-Lkw und die Angst, der Bruder könnte darin gewesen sein, Dilgesh H. abgelenkt hätten. Reber R. will die traurige Gewissheit über Jihad H. und Massoud Y. noch hinauszögern. Er vertröstet die Familie und verweist auf das ausständige Ergebnis der DNA-Probe. Doch die Hoffnung schwindet mit jedem Tag.
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Am 4. September berichtet die burgenländische Polizei von einem zweiten Lkw, der auf derselben Route mit 81 Personen unterwegs gewesen sein soll, vermutlich mit derselben Abfahrtszeit. Diese 81 Flüchtlinge wären ebenfalls erstickt, hätten sie nicht eine Öffnung in der Seitentür entdeckt. Fünf Schlepper wurden in Ungarn verhaftet, berichtet die Polizei. Sie sollen hinter beiden Todesfahrten stehen.
Am Morgen des 10. September fährt Reber R. mit einem Begleiter wieder nach Eisenstadt. Die Polizei übergibt ihnen Kopien von einem Personalausweis und einem Bibliotheksausweis - beide aus dem Lkw. Jung und lebensfroh wirkt Massoud Y. auf den Bildern.
Noch am selben Abend erfährt Nizar K., dass auch der Personalausweis von seinem Cousin, Jihad H., im Lkw gefunden wurde. An ein Wunder glauben die Angehörigen in Wien nun nicht mehr. Die Todesnachricht nimmt ihren Lauf zu den Familien im Irak und in Syrien.
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Am Freitag, den 11. September, ist der Lkw wieder in den Medien. Die Obduktion hat ergeben, dass der Tod der 71 Menschen bereits in Ungarn eintrat. Der Innenraum war luftdicht verschlossen gewesen, die Kühlung nicht angeschlossen. Aus dem größten Massenmord der österreichischen Nachkriegsgeschichte wird ein Massenmord in Ungarn. Doch das ist bedeutungslos in diesem europäischen Drama.
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Die Polizei gibt die Leichen von 59 Männern, acht Frauen und vier Kindern zur Beerdigung frei. Die österreichischen Behörden werden die Särge überstellen, sobald die Leichen per DNA-Probe eindeutig identifiziert sind. Über einzelne Opfer geben sie keine Auskunft.
Massoud Y. wird in Qamishli begraben. Dort verschärft sich unterdessen die Lage. Wegen der vielen Autobomben rechnet das UN-Flüchtlingshilfswerk mit einer wachsenden Zahl an Flüchtlingen aus der Region. Jihad H., so wollen es die Angehörigen, soll am islamischen Friedhof in Wien die letzte Ruhe finden - in jener Stadt, in der er mit seiner Familie leben wollte.
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"Jihad hat sein Leben für seine Familie geopfert“, sagt Nizar K.: "Ich hoffe, dass seine Frau und die Töchter nun sicher nach Österreich dürfen.“ Reber R. nickt. Sie sitzen mit kurdischen Freunden in einer Wiener Pizzeria. Sie sind müde, ihre Blicke leer. Die Handys läuten unentwegt. Wie sie später erfahren werden, war auch das Brüderpaar aus Istanbul im Lkw.
"Haben sich unsere Freunde nicht auch für so viele Syrer geopfert, die seither leichter nach Österreich, Deutschland und Schweden ziehen können? Hat nicht erst der Schock über die Toten im Lkw der Politik einen Ruck gegeben?“
Ein schwacher Trost. Eine Woche nach dem Tod der Freunde starten in Wien Konvois privater Pkw und holen syrische Flüchtlinge in Ungarn ab. Einfach so. Ohne Geld, ohne Angst, ohne Qualen. Massoud Y. und Jihad H. wären sicher an Bord gewesen.