Wenn es dunkel wird, beziehen Obdachlose in Innsbruck ihr Nachtquartier

Straßenkampf: Österreichs Städte mobilisieren gegen Obdachlose

Straßenkampf: Österreichs Städte mobilisieren gegen Obdachlose

Drucken

Schriftgröße

Eine Hand am Lenker, in der anderen drei Pizzastücke, eingewickelt in Frischhaltefolie. So rollt eine junge Frau auf ihrem Fahrrad in der Nacht durch die Innsbrucker Altstadt, vorbei an altertümlichen Häusern mit prachtvoll verzierten Fassaden. Die Kellnerin einer Pizzeria hält nach Obdachlosen Ausschau, denen sie nach ihrer Schicht Essensreste überlässt. Den Namen des Lokals behält sie für sich. „Ich weiß nicht, ob mein Chef gut findet, was ich hier mache“, sagt sie.

Die Obdachlosen, die in der Innsbrucker Innenstadt nicht zu übersehen sind, polarisieren. Mit ihren Schlafsäcken suchen sie unter Arkaden, vor Hauseingängen und Geschäftslokalen Schutz vor Wind und Wetter. Unternehmer und Anwohnerinitiativen machen seit Wochen Druck auf die Stadt, dagegen vorzugehen – mit Erfolg.

Vergangene Woche wurde im Innsbrucker Stadtsenat ein Nächtigungsverbot in der Öffentlichkeit für die Innenstadt beschlossen. Schon länger gilt in der Tiroler Landeshauptstadt ein Alkoholverbot auf mehreren öffentlichen Plätzen, im Vorjahr wurde Betteln unter Strafe gestellt, nun folgt das Schlafverbot. Das Ziel ist stets dasselbe: Soziale Randgruppen sollen aus der touristisch hochfrequentierten Altstadt verdrängt werden. Auch in anderen österreichischen Städten wird die Gangart gegenüber Obdachlosen, Suchtkranken und Bettlern verschärft. In Salzburg steht ein Alkoholverbot auf dem Bahnhofsvorplatz zur Diskussion, in Linz ist ein Konflikt um einen Innenstadtpark entbrannt, und allerorten werden Bettelverbote verschärft. Ein Lagebericht aus zwei Kampfgebieten um den öffentlichen Raum.

*

Ein Pappkarton, ein brauner Schlafsack und eine beige Jacke. Das ist das Einzige, was Christian R. vom eisig kalten Pflaster der Innsbrucker Altstadt trennt. Die Temperatur hält bei knapp null Grad. Scheinwerferlicht strahlt auf R., der in der Einbuchtung vor einem Ladeneingang liegt – jeden Tag, seit gut einem Jahr.

Während ihm junge Nachtschwärmer mit Bierdosen und ältere Paare in Abendkleidung mitleidige, verwunderte oder verächtliche Blicke zuwerfen, liest R. auf seinem Smartphone die Facebook-Kommentare zu einem Artikel der „Tiroler Tageszeitung“ über das Schlafverbot. Viele Poster sind auf seiner Seite. Sobald die Verordnung in Kraft tritt, wird sich R. einen neuen Schlafplatz suchen müssen, sonst drohen 2000 Euro Strafe. Für ihn wäre das unbezahlbar – und gleichbedeutend mit Ersatzfreiheitsstrafe.

Dabei hatte sich R. mit dem Besitzer des Geschäfts arrangiert. Der Deal: R. darf bleiben, wenn er dafür sorgt, dass keine anderen Obdachlosen kommen. Die Innsbrucker Notschlafstelle kommt für ihn nicht infrage: „Da sind mir zu viele Junkies, ich will meine Ruhe von denen. Ich will mir ja eine Arbeit suchen“, sagt der Mann, der ein paar Monate als Abwäscher in der Gastronomie arbeitete. Da will er wieder hin, denn Gastro-Jobs beinhalten häufig Unterkunft und Verpflegung. Maklergebühren und Kaution, zwei große Hürden beim Sprung aus der Obdachlosigkeit, würde er damit umgehen. Bevor R. versucht, ein paar Stunden zu schlafen, zündet er sich eine Zigarette an.

Verbotsschilder in Innsbruck

Der nächtliche Streifzug durch Innsbruck mit zwei Sozialarbeitern des Vereins für Obdachlose führt vorbei an einer siebenköpfigen Frauengruppe, allesamt Bettlerinnen. Sie liegen unter einer Laube, mehrere Schichten Decken über ihnen.

Vor einem Wettlokal strömt warme Abluft aus den Gittern. Doch hier schläft niemand. Auf dem Vordach des Gebäudes sind mehrere Wasserdüsen angebracht, die im Bedarfsfall Obdachlose besprühen – eine Vertreibungsmethode des Hausbesitzers, bei dem die Stadtverwaltung unlängst Anleihe nahm: In den Abendstunden wurde die Innenstadt mit Kehrmaschinen gründlich gereinigt; die Straßen waren nass und als Schlafstätte noch unwirtlicher als sonst. Doch die Obdachlosen blieben. Schätzungen zufolge sind es allein in Innsbruck 290. Nur etwa halb so viele Notschlafplätze gibt es.

„Noch nie hat die Altstadt einen derart verwahrlosten Eindruck bei uns und unseren Gästen hinterlassen“, beschwerte sich der Chef des Altstadtvereins Ende August beim Tiroler Landeshauptmann und bei der Innsbrucker Bürgermeisterin. „Wir selbst sehen uns einem überbordenden Regelwerk ausgesetzt, etwa der Kassenrichtlinie, bei der auf 67 Seiten reguliert wird, wie wir einen Kassenbon ausgeben müssen. Für das Laubenschläferproblem scheint es jedoch keine tragfähige Lösung zu geben.“

Jetzt hat die Stadt reagiert.

Nächster Halt: Bahnhof. Bomberjacke, darüber eine orange Warnweste, Schnauzbart, schwarze Kappe und Hund: Der stämmige ÖBB-Securitymann, der mit vier Kollegen durch die Eingangshalle streift, erfüllt alle Klischees. Er verscheucht vier maghrebinische Burschen, die sich im Bahnhof wärmen wollten.

Die Nächte verbringen sie in Zelten unter der Autobahnbrücke am Stadtrand. „Wir frieren dort, wir haben kein Klo. Und dann strafen uns die Arschlöcher da drüben auch noch die ganze Zeit“, sagt einer der Burschen und deutet auf einen Polizeiwagen. Etwa die Hälfte der Gruppe, schätzt Michael Hennermann vom Verein für Obdachlose, sitzt im Gefängnis, den Übrigen droht ein ähnliches Schicksal: Ihre Jackentaschen sind voll mit Polizeianzeigen, einer zückt einen blauen Brief und bittet die zweite Sozialarbeiterin, ihm den Schrieb zu übersetzen. Die jungen Männer haben keinen Aufenthaltstitel, keine Chance auf Asyl. Abgeschoben werden können sie auch nicht, ihre Heimatstaaten nehmen sie nicht zurück. Einige handeln mit Drogen, viele andere Betätigungsfelder bleiben nicht.

„Was man mit den Jungs machen kann, dazu fällt keinem was ein – nicht einmal der Sozialarbeit“, seufzt Hennermann: „Man müsste zumindest einmal ihren Aufenthalt legalisieren.“

*

„Brauchst was? Gras?“, fragt ein junger Bursche, beide Hände in den Jackentaschen. Er steht unter einem Strauch im Linzer Hessenpark. Vor ihm ein meterhoher Holzzylinder, der den eingewinterten Brunnen in der Parkmitte umschließt. Daneben ein Kinderspielplatz samt Rutsche und Kletterturm, der mit Bauzäunen dichtgemacht wurde, nachdem die Polizei dort ein Drogenversteck entdeckt hatte. Durch die Baumkronen des quadratischen Parks sind ringsherum Wohnhäuser zu sehen. Dort wohnen jene, die den grünen Fleck mit Argwohn beobachten.

„Der Park wurde von der Stadt den Problemgruppen überlassen. Wir Anwohner sind komplett verdrängt worden“, sagt Olga Lackner, Gründerin der Bürgerinitiative Hessenpark. Mit vier Mitstreitern hat sie vergangenen Mittwoch einen Termin im Linzer Rathaus. „Workshop Parkraumgestaltung“ steht auf einem weißen Flipchart. Die Stadt hat die Rufe der gut organisierten Anrainer erhört und lädt zu mehreren Gesprächsrunden, mit dem Ziel, die Parkanlage umzugestalten. Damit ist es für die Anrainer allerdings nicht getan, die über Trinkgelage, Gegröle und blutige Spritzen klagen. Lackner: „Es ist die Aufgabe der Stadt, sich um dieses Publikum zu kümmern. Sonst kommt die Neugestaltung nicht uns, sondern den Problemgruppen zugute, die den Park okkupiert haben.“

Im August wagte sich die Anwohnerinitiative mit einem öffentlichen Picknick erstmals in den Park. Da prallten die sozialen Gegensätze aufeinander: auf der einen Seite Anwohner mit ihren Kindern und Picknickkörben, geschützt durch ein Polizeiaufgebot; auf der anderen Seite die alteingesessenen Parkbewohner: Jugendgruppen, Obdachlose, Drogenkranke.

Denisa Velagic, 30, kennt den Park schon lange: „Hier treffen sich alle Drogensüchtigen, nehmen Substis, helfen sich gegenseitig. Aber glaubst, irgendjemand ist so deppert und dealt hier?“

Während ihre Freunde sich verziehen, weil sie den Journalisten für einen Zivilbeamten halten, erzählt Velagic von den sich häufenden Polizeirazzien, „Zugriffen von allen Seiten“ und davon, dass das alles nichts bringe: „Die nehmen die Leute in U-Haft und lassen sie ein paar Stunden später wieder frei.“

Konfliktzome Hessenpark in Linz

Viel ist nicht los. Zwei Grüppchen Jugendlicher mit Schäferhund ohne Leine. Ein Mann mit Lederjacke und Cowboy-Hut samt rotem Federschmuck, in der Hand eine Dose Bier. Eine alte Frau mit Malteser-Hund steht von ihrer Bank auf und spaziert heim. „Das ist alles harmlos“, sagt sie: „Seit dem 70er-Jahr’ geh ich hierher und hatte noch nie Probleme.“

Zwei Gestalten in roten Jacken gehen zügig durch den Park. Sie sind vom Linzer Ordnungsdienst. Einer der beiden zückt ein kleines Notizbuch, vermerkt Uhrzeit und die Personengruppen, die er sieht. Keine Auffälligkeiten, sie gehen weiter. Wenig später rauschen drei Zivilpolizisten an. „Frau Velagic, kommen S’ einmal mit“, bittet einer der Männer die junge Frau zu sich. Sie ist auf Bewährung, muss ihre Tasche herzeigen. Hinterher erklärt sie: „Es ist unangenehm, wenn die Polizisten dich mit dem Namen ansprechen. Da glauben deine Freunde gleich, du bist ein V-Mann.“

Wohin mit den Leuten im Park? Olga Lackner betont mit Nachdruck, dass es ihrer Bürgerinitiative um eine soziale Lösung gehe, sie will unter keinen Umständen „ins rechte Eck gestellt werden“. Konkrete Vorschläge gibt es allerdings keine, auf der Website der Initiative geht es eher um Verdrängung: Da wird über eine Beschallung mit klassischer Musik nachgedacht, über ein Alkoholverbot und über temporäre Parksperren. „Super, holt diesen öffentlichen Raum wieder für alle zurück“, kommentiert ein Linzer auf Facebook. „Man sollte den Suchtkranken eine Chance geben und nicht im Internet gegen sie hetzen“, schreibt ein anderer und empfiehlt der Initiative, den nächstgelegenen Volksgarten zu besuchen: „Dorthin sind es geschätzt 500 Meter.“

Der Hessenpark ist das Resultat eines jahrelangen Verdrängungsprozesses: „Man hat andere Parks, die Altstadt und den Bahnhof von Problemgruppen befreit, und der Hessenpark wurde dadurch zur Endstation“, sagt Lackners Mitstreiter Werner Hudelist. Wenn die Initiative Erfolg hat, gibt es wohl bald einen neuen Hotspot.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv. Derzeit in Karenz.