Studie: Hohe Radikalisierungsgefahr unter muslimischen Park-Kids
Am 13. Juni 2016 zieht es drei Burschen zwischen 15 und 17 von Wien aus zum sogenannten "Islamischen Staat (IS)“ in Syrien. Ein Vater informiert rechtzeitig die Polizei und handelt sich dafür einen heftigen Kopfstoß seines Sohnes ein. Ein 16-Jähriger wird im Mai dieses Jahres an der bulgarischen Grenze abgefangen. Zurück in Wien versucht er, Zehnjährige für den Dschihad zu gewinnen. Vergangene Woche wurde den vier Burschen der Prozess gemacht. Sie haben sich laut Staatsanwaltschaft in kürzester Zeit von gläubigen Muslimen zu radikalen Glaubensverfechtern gewandelt.
Die Stadt Wien hat in einer Studie ausgelotet, wie hoch die Gefahr islamistischer Radikalisierung unter Jugendlichen ist. Das Ergebnis fällt alarmierend aus. Ein Drittel der männlichen Muslime im Umfeld der Jugendzentren ist radikalisierungsgefährdet (unter den Tschetschenen sogar jeder Zweite). Bei den Türken droht jeder Vierte abzudriften. Muslimische Bosnier oder Afghanen sind weniger akut gefährdet.
Für die Studie wurden 400 Personen zwischen 14 und 19 Jahren in 30 Jugendzentren befragt. Für zehn Euro Taschengeld gaben sie ausgiebige Einblicke in ihre Gedankenwelten. 85 Prozent waren Migranten, 53 Prozent Muslime, der Großteil davon Burschen. Die Studie bietet keinen Querschnitt durch alle Schichten der Stadt, sie ist vor allem auf Jugendliche in oft prekären Lebenslagen fokussiert. Über Jugendzentren und Streetworker steht die Stadt regelmäßig mit rund 27.000 dieser "Park-Kids“ in Kontakt.
Die Mädchen sind eher unauffällig, ebenso die Österreicher, Kroaten oder Osteuropäer, die sich als katholisch bezeichnen. Bei den muslimischen Burschen ist hingegen nur ein Drittel als gemäßigt und liberal einzustufen. Das dritte Drittel "schwankt zwischen moderaten und extremistischen Positionen, wenn es um Religion geht“, sagt der Studienleiter Kenan Güngör. Er bezeichnet sie als die "Ambivalenten“. Ihr Hass auf den Westen, ihre Sympathie für den Dschihad und ihr Verständnis für Gewalt im Namen der Religion sind weniger stark ausgeprägt als bei den ernsthaft Gefährdeten.
Zu Letzteren muss man den 16-jährigen Einzelhandelslehrling Mahmud zählen. Seine Akte umfasst Schulschwänzen, Diebstahl, Körperverletzung und mehrere Vorstrafen. Die Gesetze in Österreich bezeichnete er im Interview als "blöd“, das Vorgehen der Terrororganisation IS hingegen als gut und richtig. Wenn man jemandem in Syrien wegen eines Diebstahls die Hand abhacke, dann sei das eben so. Dass der IS auch Muslime töte, sei eine "Lüge“. Als frommer Muslim glaubt er, dass er in der "anderen Welt“ für schlechte Taten ewig büßen, aber für alles Gute belohnt werde. Deshalb sei das Jenseits wichtiger als "hier kurz Spaß haben und dort ewig brennen“.
Burschen wie Mahmud glauben ganz real und gegenständlich an ein zukünftiges Leben im Paradies "als kräftige, junge Männer, denen viele Jungfrauen zur Verfügung stünden“, schreiben die Studienautoren. Das kann mit Gewalt einhergehen.
60 Prozent meinen, sie dürfen zuschlagen, wenn ihre Religion oder Ehre beleidigt werde. Dahinter steckt oft Prahlerei und gespielte Härte. In vertiefenden Interviews rechtfertigten aber fünf von 14 zufällig ausgewählten jungen Muslimen die Gewalttaten des "Islamischen Staats“. Die Vereinigung aller Muslime sei ein hehres Ziel, dem sich die betroffenen Menschen unterwerfen müssten.
In den 1980er- und 1990er-Jahren schlugen sich die Jugendarbeiter vorwiegend mit den Auswüchsen des Rechtsradikalismus herum. In den vergangenen Jahren kristallisierte sich der Islam als akuteste Problemzone heraus - ein Islam, der den Jugendlichen nicht zur inneren Einkehr dient, sondern zur äußeren Demonstration von Stärke.
Ihre Religion nutzen sie, um die chaotische Welt in Gut und Böse, Rein und Unrein, Himmel und Hölle zu teilen. Sie schauen auf gleichaltrige Burschen herab, die sich nur mit "Saufen und Sex“ beschäftigen. "Allen anderen fühlen sich diese Jugendlichen moralisch überlegen und damit stark und sicher in ihrer Gruppe“, heißt es in der Studie.
Auch der Judenhass hat in den Wiener Parks mehrheitlich Migrationshintergrund. Die Hälfte der befragten Muslime lehnt Juden ausdrücklich ab, gefolgt von einem Viertel der christlich-orthodoxen Serben und sieben Prozent der katholischen Jugendlichen. Im Gespräch mit Muslimen klingt das so: "Alle meine Freunde hassen Juden.“ (Seyidbeg, 16) - "Alle von meiner Generation, ich kenne fast ganz Wien, alle hassen Juden, alle.“ (Kemal, 18). Mit ihrem Antisemitismus fühlen diese Jugendlichen sich als Teil des Mainstreams in der muslimischen Welt. Als Begründung dienen ihnen Videos über tote Kinder im Gazastreifen und jüdische Soldaten, die Palästinenser mit dem Gewehrkolben schlagen. Dass diese Videos möglicherweise manipuliert sind, hinterfragen sie nicht. Die Amerikaner sehen sie als Marionetten der Juden, die europäische Politik von den USA gesteuert. Dass die Jugendlichen selbst im "bösen Westen“ leben, stört sie in ihrem eindimensionalen Weltbild nicht - im Gegenteil.
Toleranz gegenüber Homosexuellen lehnen 60 Prozent der befragten Muslime nachdrücklich ab. "Wenn ein Freund oder Bruder schwul wäre, würde ich ihn umbringen“, sagt der 16-jährige Mahmud. Aber auch 50 Prozent der orthodox-geprägten Burschen im Jugendzentrum sind homophob und sehen ihre Männlichkeit durch die Nähe von Schwulen gefährdet.
"Je stärker die Religiosität, desto stärker die Abwertung anderer Gruppen“, sagt Güngör. Er warnt davor, sich nur auf die offensichtlichen Problemjugendlichen zu konzentrieren. "Wir dürfen nicht vergessen, auch in jene zu investieren, die zwischen moderaten und extremistischen Positionen schwanken. Bei den Ambivalenten kann man mit weniger mehr erreichen. Wir wissen ja nicht, wie sich diese Kids in fünf Jahren entwickeln.“
Besonders vage ist die Prognose bei den Afghanen. Sie waren in der Gruppe der Ambivalenten überrepräsentiert. Ihre Zahl war aber noch klein. Denn die Interviews für die Studie endeten ein halbes Jahr vor der großen Flüchtlingswelle im Herbst 2015. Heute leben 4000 Afghanen zwischen 14 und 25 Jahren in Wien. Sie stehen knapp davor, die Türken als größte Gruppe unter den Muslimen ohne österreichischen Pass abzulösen. Sie kommen meist ungebildet und ohne Eltern. Ohne Halt und Perspektive ist bei ihnen die Gefahr, kriminell oder gar radikal zu werden, erhöht.
Lange wurde die brisante Studie nicht veröffentlicht. profil verfolgte ihren Verlauf über Monate. Nun liegt sie vor und markiert den Schwenk der Stadt zu einem offeneren Umgang mit den geistigen Ghettos einer rasch wachsenden Stadt. "Diese Studie ist sicher Wasser auf die Mühlen der Populisten. Aber sie unterstreicht: Wir schauen hin, und wir sind aktiv“, sagt Integrationsstadträtin Sandra Frauenberger (siehe Interview).
Was kann die Stadt tun? Wer sein Ticket nach Syrien innerlich bereits gelöst hat, chillt nicht mehr im Jugendzentrum. Da ist der Verfassungsschutz gefragt. Die Burschen, die Interviews gaben, sind hingegen noch für die Jugendarbeit erreichbar. Bei erkennbarer Gefahr wird das Netzwerk für Deradikalisierung informiert. Die Stadt will die Jugendarbeit weiter verstärken und die Eltern noch stärker in die Pflicht nehmen. An Schulen soll mehr über Demokratie, Gleichberechtigung und Toleranz gelehrt werden. Güngör fordert etwa mehr Platz im Lehrplan für das Problem des muslimischen Antisemitismus. Die Lehrer sollten nicht beim europäischen Holocaust aufhören, sondern auch den arabisch-islamischen Judenhass offen mit ihren Schülern diskutieren.
Was kommt nach der Schule? Für viele die Arbeitslosigkeit. Schon jetzt ist ein Drittel der 20- bis 24-jährigen Männer in Wien ohne Job. Frauenberger sagt, die Stadt habe immerhin den Trend zum Schulabbruch umkehren können. Doch selbst eine gute Ausbildung schützt nicht vor Radikalisierung. Die Studie hat keinen markanten Unterschied zwischen schlecht und mittelgut ausgebildeten Jugendlichen festgestellt. Die Internet-Propaganda der Dschihadisten wirkt über die Schichten hinweg.
"Den Jugendlichen gelingt es nicht, Informationen kritisch zu filtern und die Komplexität politischer Geschehnisse zu verstehen“, heißt es in der Studie. Für den 19-jährigen Miroslav steht fest: "Bush war für 9/11 verantwortlich.“ Für den 19-jährigen Attila "steckt überall Amerika und Deutschland dahinter“. Politik und Medien sind in seinen Augen "die größten Terroristen“. - "Ich scheiß auf die Medien, weil die eh nur lügen“, sagt Seyidbeg. Für Güngör gehört der Umgang mit Medien so früh wie möglich auf die Stundenpläne der Schulen.
Bei den vier Burschen, die im Frühling nach Syrien wollten, handelte es sich wenig überraschend um Türken und Tschetschenen. Aber auch ein Afghane war bereits dabei. Vergangene Woche wurden sie verurteilt. Spätestens in zehn Monaten ist der Letzte von ihnen wieder auf freiem Fuß.