Kenneth Clarke: „Referenden sind zutiefst lächerlich“
Kenneth Clarke sitzt unter einem Bild von Winston Churchill und zieht sich zum Interview erst einmal die Schuhe aus. Das tut er immer, wenn er in sein Abgeordneten-Büro im Londoner Portcullis-Gebäude vis-à-vis von Big Ben kommt. Und jedes Mal, wenn im House of Commons – dem Unterhaus des britischen Parlaments – abgestimmt wird, streift er sie wieder über und geht durch den unterirdischen Gang hinüber in den Westminster-Palast, wo sich der Plenarsaal befindet.
Wie mächtig, respektiert und gefürchtet Clarke ist, verrät sein Spitzname. „Big beast“ nennen ihn die Tories, deren Politik er seit 1970 mitbestimmt: derzeit als Abgeordneter, unter Premierministerin Margaret Thatcher als Minister für Gesundheit und Erziehung, später als Ressortchef für Justiz, Inneres und auch Finanz. Nur Premierminister wurde er nie: „Dazu war ich immer zu proeuropäisch“, sagt Clarke, der mit 76 so energetisch wie eh und je ist. Seine Meinungen sind prononciert, seine Zunge ist spitz.
Interview: Tessa Szyszkowitz/London
profil: 2016 ist das Jahr der rechten Populisten. Wieso können traditionelle Politiker keine Wahlen mehr gewinnen? Kenneth Clarke: Die Leute sind wütend, sie sind enttäuscht von ihren Politikern und sie fühlen sich von Ausländern bedroht. Sie stimmen gegen die Komplexität des modernen Lebens und das Tempo des Wandels. Die Abstimmungs- und Wahlergebnisse des Jahres 2016 waren die Folge der Finanzkrise von 2008, die wir noch nicht beigelegt haben. Die Wahlen in Amerika und der Brexit werden Marine Le Pen in Frankreich oder Geert Wilders in den Niederlanden beflügeln. Und alle anderen rechtsextremen Politiker in Europa ebenfalls. Da ich diese Populisten ablehne, besonders jene, die ihrer Politik Rassismus und Xenophonie beimengen, bin ich ziemlich besorgt.
profil: Auch Österreich könnte am 4. Dezember einen Rechtsaußen-Kandidaten zum Präsidenten wählen. Clarke: Das ist schrecklich. Als rechtszentristischer Mainstream-Politiker habe ich so etwas wie jetzt noch nie erlebt.
Wir sind 24 Stunden und sieben Tage lang hysterisch mit unseren Kampagnen beschäftigt.
profil: Sie gehören seit fast einem halben Jahrhundert zum politischen Establishment im Vereinigten Königreich. Machen Sie sich und Ihre eigene Partei dafür verantwortlich, sich nicht genug um die Ängste der Leute gekümmert zu haben? Clarke: Ich glaube schon, dass die Politiker teilweise schuld sind. Die Medien spielen aber auch eine gewisse Rolle. Niemand denkt mehr länger nach. Wir sind 24 Stunden und sieben Tage lang hysterisch mit unseren Kampagnen beschäftigt. Die neuen Medien haben zu einer Welle von adoleszentem Zynismus geführt, der jede Verhältnismäßigkeit verloren hat. Das politische Establishment wird dadurch immer weiter diskreditiert. Was wir brauchen, ist eine erfolgreiche Regierung, die von jemandem mit Anziehungskraft angeführt wird. Wir haben aber derzeit niemanden in der westlichen Welt.
profil: Ist Angela Merkel nicht das, was Sie suchen? Clarke: Angela Merkel ist allen anderen politischen Führern in Europa haushoch überlegen. Sie ist die einzige Person, die bis vor Kurzem den Aufstieg der Rechtspopulisten in Deutschland stoppen konnte. Die Kontroverse der letztjährigen Flüchtlingskrise geht ihrem Ende zu. Ihre Motive waren bewundernswert, humanitär und basierten auf ethischen Urteilen. Leider schadete diese Flüchtlingspolitik ihr politisch. Ich hoffe, dass Merkel die AfD unter Kontrolle halten kann.
profil: Ihre Premierministerin Theresa May hat einen ähnlichen Stil wie Angela Merkel. Allerdings gibt es sechs Monate nach dem EU-Referendum immer noch keinen Plan, wie es mit den Austrittsverhandlungen weitergehen soll. Clarke: Nein, niemand hat einen Plan. Als wir das Referendum abgehalten hatten, wusste ja keiner, was Brexit überhaupt bedeuten sollte. Niemand hat darauf auch nur einen Gedanken verschwendet. Wir haben bloß darüber debattiert, ob wir in der EU bleiben oder gehen sollten. Es gab absolut keine Diskussion darüber, wann und wie wir austreten würden, sollten wir für Austritt stimmen. Ich glaube nicht, dass zwei Brexit-Befürworter sich auf irgendetwas einigen hätten können – wenn sie sich diese Frage jemals gestellt hätten.
Wenn wir aus dem Brexit ein Fiasko machen, könnte es der Wirtschaft den letzten Schlag versetzen.
profil: Jetzt sitzen Befürworter des Brexit in der Regierung und können sich immer noch auf nichts einigen. Clarke: Ja, sie kommen nicht gut miteinander aus. Theresa musste eine Regierung mit ziemlich breiter Basis formen. Die vernünftigen Mitglieder der Regierung sollten sich Zeit für die Ausarbeitung eines Plans nehmen, damit wir den Schaden sowohl für unsere, aber auch für die anderen europäischen Wirtschaften minimieren können.
profil: Auf welche Art von Brexit hoffen Sie? Clarke: Ich hoffe natürlich immer noch darauf, dass wir im Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben können. Ich glaube nicht, dass unsere Wirtschaft in einem sehr gesunden Zustand ist. Ich bin wirklich besorgt, wenn ich an die nächsten zwei Jahre denke. Wir werden höchstwahrscheinlich eine Rezession haben. Wenn wir aus dem Brexit ein Fiasko machen, könnte es der Wirtschaft den letzten Schlag versetzen.
profil: Die EU-Granden wollen Britannien aber nur einen harten Brexit erlauben, um Nachahmer abzuschrecken. Clarke: Die Bezeichnungen „harter“ und „weicher“ Brexit werden einfach so dahingesagt, aber was bedeuten sie? Meinen Sie mit „hartem“ Brexit, dass wir alle unsere Handelsbeziehungen mit dem Rest der Europäischen Union einfach aufgeben? Das wäre ebenso verhängnisvoll für weite Teile der kontinentalen Wirtschaft wie für unsere. Kein vernünftiger Mensch würde das wollen. Wenn wir auf der anderen Seite einen Plan ausarbeiten, damit wir in der Zollunion bleiben können, dann würden wir den größten Schaden verhüten. Dafür müssten wir Briten aber Lösungen für unsere größten Probleme finden: Wie können wir die Zahl der EU-Einwanderer und den Einfluss des Europäischen Gerichtshofes beschränken?
profil: Ihre Regierung hat sich darauf festgelegt, die Personenfreizügigkeit abzuschaffen. Damit bleibt nur noch ein „harter“ Brexit, oder? Clarke: Ich glaube nicht, dass unsere Regierung wirklich realisiert hatte, was es bedeutet, die Einwanderung aus der EU zu begrenzen. Es heißt eindeutig, dass man dann den Binnenmarkt verlassen muss. Als unsere Regierung sich eher spontan in diese Richtung äußerte, waren die Minister noch sehr neu im Amt. Als das Pfund dann um 15 Prozent fiel, hat sie das – glaube ich – doch sehr überrascht. Sie fingen noch einmal von vorne an, über alles nachzudenken. Es macht meiner Meinung nach aber keinen Sinn, dass sich Großbritannien von allem, was es bisher hatte, loslöst und damit eine Währungskrise auslöst. Wenn man einen vernünftigen Vorschlag ausarbeitet, werden sich die anderen EU-Partner damit beschäftigen. Die wollen schließlich auch keinen wirtschaftlichen Schaden dadurch erleiden, dass wieder Handelsbarrieren zwischen Europa und uns errichtet werden.
Ich bin einfach schwer enttäuscht, wie sich die Dinge entwickelt haben.
profil: Die Kritik an Theresa May wurde in den vergangenen Wochen immer lauter. Sollte sie bestimmter vorgehen? Clarke: Es ist eine riesige Aufgabe für sie. Ich glaube, sie ist die richtige Person am richtigen Ort. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass sie so ein Schlamassel übernommen hat. Sie ist eine harte, nüchterne Frau.
profil: Ich glaube, das letzte Mal, als Sie über Theresa May sprachen, nannten Sie sie eine „verdammt schwierige Frau“. Clarke: Das stimmt. Ich bin einfach schwer enttäuscht, wie sich die Dinge entwickelt haben. Ich hatte eine gewisse Vorstellung von Großbritannien und seiner Rolle in der Welt. Diese wurde abgelehnt. Die Ironie ist: Meine Karriere hat damit begonnen, dass wir in die Europäische Gemeinschaft eingetreten sind – und sie wird damit enden, dass wir wieder austreten. Eines muss ich aber schon sagen: Ich kann mich nicht darüber beklagen, dass mir in meiner letzten Periode als Abgeordneter langweilig wäre. Die Welt spielt verrückt. Es ist verwirrend und interessant. Ich versuche immer noch, einen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, dass wir am Ende zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Denn das ist im Interesse meiner Kinder und Enkel.
profil: Werden Sie gegen die Auslösung des Artikel 50 stimmen, der den Startschuss zum Austritt bedeutet, wenn die Regierung dies dem Parlament nächsten Frühling vorlegen sollte? Clarke: Ich werde dagegen stimmen. 50 Jahre lang war ich proeuropäisch. Ich wäre der größte Heuchler, wenn ich jetzt dafür stimmen würde, mit dem Artikel 50 den Austritt Großbritanniens aus der EU auszulösen. Ich kann meine Haltung auch begründen: Ich gehöre schließlich zu der kleinen Gruppe britischer Politiker, die sich immer gegen die Idee des EU-Referendums ausgesprochen hat. Ich habe auch nie versprochen, mich an sein Ergebnis zu halten. Die Leute in meinem Wahlbezirk haben sich zudem 60 zu 40 Prozent für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Ich glaube also, dass ich einen Anspruch darauf habe, jene Person zu sein, die 16 Millionen proeuropäische Briten vertritt, die nicht aus der Europäischen Union austreten wollten. Wir Proeuropäer werden aber niedergestimmt werden. Ich habe keine Ahnung, wieso die Regierung so ein Theater macht, ob sie den Artikel 50 vor das Parlament bringen soll oder nicht. Sie werden die Abstimmung problemlos gewinnen.
Ich glaube nicht, dass die EU auseinanderfallen wird.
profil: Wieso eigentlich? Wieso akzeptieren auch die Proeuropäer das Ergebnis des EU-Referendums? Sie könnten doch ein zweites Referendum über das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen abhalten? Clarke: Ich hoffe, dass ich das nächste Referendum nicht mehr erlebe. Ein Referendum ist eine zutiefst lächerliche Methode, um ein modernes, hoch entwickeltes Land zu regieren. Das EU-Referendum stellte eine dumme, pauschale Frage, in der sich 100 andere wichtige Fragen versteckten, die aber niemand in der Kampagne je gestellt hat. Wenn jemand versucht hat, die Folgen des Brexit zu analysieren, wurde er als „Angstmacher“ abqualifiziert. Und dann kam es letztendlich noch zu der neofaschistischen Bemerkung, dass „wir alle genug von Experten haben“. Ich hoffe wirklich, dass derjenige, der dies gesagt hat, in nächster Zeit keinen Chirurgen braucht. Wenn moderne Politik auf eine globalisierte Wirtschaft trifft, dann braucht man zumindest jemanden mit ein bisschen Fachkenntnis, damit er erklären kann, wo es langgeht. Das ist weder antidemokratisch noch elitär.
profil: Fürchten Sie, dass die EU auseinanderbricht? Clarke: Ich glaube nicht, dass die EU auseinanderfallen wird. Ja, sie ist bürokratisch und kompliziert. Aber wenn Sie ein Abkommen zwischen 28 verschiedenen Nationen aushandeln, die alle ihre eigenen politischen Belastungen haben, dann wird das eben eine komplexe Organisation mit komplizierten Regeln und einem langwierigen Prozess, bevor irgendetwas gelöst werden kann. Die EU ist die Summe all dieser Staaten, die durch Verträge verbunden sind, die der Europäische Gerichtshof beschützt. Die Europäische Union ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte.
profil: Sie klingen wie der letzte Europäer. Clarke: Wenn die Europäische Union zerbricht, werden wir alle weniger politischen Einfluss haben. Wir sind den Gefahren der modernen Welt stärker ausgesetzt und haben weniger Möglichkeiten, irgendetwas dagegen zu tun. Und natürlich sind wir, und vor allem unsere Kinder, alle ärmer.