Eine Frau hält ihren schwangeren Bauch.
Gesundheit

Über den Mythos des Ozempic-Babybooms

Alle reden vom „Ozempic-Baby“. Dabei sind der Europäischen Arzneimittel-Agentur gar keine Fälle von überraschenden Schwangerschaften durch Ozempic bekannt. Eine Bestandsaufnahme.

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„Das ist mein Ozempic-Baby“, kommentieren Frauen auf der Videoplattform TikTok ihre runden Unterbäuche. Die Videos stammen überwiegend aus den Vereinigten Staaten. Viele von ihnen freuen sich über die unerwartete Schwangerschaft. Andere wiederum warnen davor, dass Ozempic die Anti-Baby-Pille unwirksam mache. 

Das Phänomen ist in medizinischen Kreisen bekannt – etwa, weil eine Gewichtsabnahme die Fruchtbarkeit generell fördert.

Für einen Ozempic-bedingten Babyboom in Europa gibt es jedoch keine Hinweise. Der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) sind keine Fälle bekannt, wie auf profil-Anfrage erklärt wird. Sollte es während der Behandlung zu einer Schwangerschaft kommen, sind Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, dies an den Hersteller von Ozempic zu melden. Das Diabetesmedikament wird vom dänischen Pharmaunternehmen Novo Nordisk vertrieben – das zu dieser Thematik auf die EMA verweist. Dort ging bislang noch keine Meldung ein. „Es sind uns keine Fälle von unerwarteten Schwangerschaften unter Semaglutid (der Wirkstoff in Ozempic, Anm.) bekannt“, schreibt ein EMA-Pressesprecher.

Ozempic soll laut dem Hersteller dem Körper dabei helfen, mehr Insulin zu produzieren. Wegovy enthält denselben Wirkstoff in höherer Dosis und ist als Abnehm-Medikament zugelassen.

Übergewicht mindert Fruchtbarkeit

Sind die TikTok-Videos also schlicht falsch oder haben sie einen wahren Kern? Julian Marschalek ist Co-Leiter der Ambulanz für In-Vitro-Fertilisation an der Medizinischen Universität Wien. Der Reproduktionsmediziner kennt die Antwort. Die meisten seiner Patientinnen haben einen Kinderwunsch. Bei starkem Übergewicht – ab einem Body-Mass-Index von 30 – kann jedoch die Fruchtbarkeit sinken. Hierbei steigt die Wahrscheinlichkeit, dass kein Eisprung stattfinden kann und somit auch die Menstruation ausbleibt. Wiederrum fördert bei starkem Übergewicht jedes abgenommene Kilo die Fertilität.

Die Frauen aus den TikToks nehmen Ozempic nicht mit dem Ziel, schwanger zu werden. Die Schwangerschaften scheinen regelrecht zu „passieren“. Warum kann es dazu kommen?

Mögliche Erklärung ist Nebeneffekt

Zwei Szenarien sind möglich, dabei ist ersteres weniger wahrscheinlich. Eine Erklärung, die im Internet kursiert, findet Marschalek höchstens „hypothetisch": Wenn Semaglutid eingenommen wird, kommt es zu einer sogenannten Verlängerung der Magen-Darm-Passage. Kurz zusammengefasst: Die Nahrung verbleibt länger im Magen, Patientinnen sind deshalb länger satt. Theoretisch könnte die Pille dadurch nur erschwert über die Magenschleimhaut aufgenommen werden – dazu gibt es jedoch keine Belege.
 
Eine plausible Erklärung laut Julian Marschalek: Durchfall und Erbrechen sind häufige Nebenwirkungen der Semaglutid-Spritze. Wird die Pille zu schnell nach der Einnahme aus dem Körper ausgeschieden, noch bevor er das Präparat aufnehmen kann, kann die Verhütungswirkung logischerweise auch nicht eintreten.

Einen Beleg dafür, dass Semagludid die Pille per se außer Kraft setzen könnte, gibt es nicht. Allerdings ist anzumerken, dass der Ozempic-Hersteller Novo Nordisk für die Zulassung von Ozempic und Wegovy keine Studien an Schwangeren durchführte. Frauen mit einem Kinderwunsch waren dezidiert ausgeschlossen, weshalb auch nur begrenzt Daten über die Anwendung bei Schwangeren vorliegt.

Lieber doppelt verhüten

Untersucht hat Novo Nordisk für die Zulassungsstudien der Medikamente jedoch die Auswirkung auf orale Verhütungsmittel – „auch mit dem Inhaltsstoff Levonorgestrel (welches häufig als Wirkstoff in Antibabypillen verwendet wird, Anm.)“, heißt es vom Österreich-Ableger des Konzerns. Das Ergebnis laut dem Hersteller: „Eine verminderte Wirkung wird nicht erwartet.“

Frauen mit Übergewicht werden Gestagen-Präparate (wie Levonorgestrel) häufiger verschrieben – im Gegensatz zu Kombinations-Präparaten mit Östrogen und Gestagen. 

Wer mit einer Gestagen-Pille verhütet, sollte bei Nebenwirkungen wie Erbrechen und Durchfall während einer Semaglutid-Behandlung zusätzlich auch mit einem Kondom verhüten, rät Marschalek.

Frauen mit Kinderwunsch sollten sich wiederum kein Beispiel an den kursierenden TikToks nehmen: In der Produktinformation von Ozempic wird deutlich darauf hingewiesen, dass Semaglutid nicht während der Schwangerschaft angewendet werden sollte. Der Hersteller rät, das Diabetesmedikament Ozempic, sowie die Adipositasmedikamente Saxenda und Wegovy mindestens zwei Monate vor einer geplanten Schwangerschaft abzusetzen.

Elena Crisan

Elena Crisan

Wenn sie nicht gerade für den Newsletter "Ballhausplatz" mit Politiker:innen chattet, schreibt sie im Online-Ressort über Wirtschaft und Politik.