Chemie-Nobelpreisträger Karplus im Gespräch
profil: Eines Tages im Jahr 2013 läutete bei Ihnen in Massachusetts sehr früh am Morgen das Telefon. Einige Leute wollten Sie davon überzeugen, dass Sie nun Nobelpreisträger sind. Was passiert in Momenten wie diesen? Karplus: Es war erst 5.30 Uhr, und ich war noch im Bett. Meine Frau ging zum Telefon. Sie sagte: "Es ist für dich.“ Ich machte mir schon Sorgen, denn Anrufe um diese Uhrzeit bedeuten normalerweise nichts Gutes. Meine Tochter lebt in Jerusalem, und wir hatten Anrufe von ihr zu dieser Zeit, wenn etwa gerade ein Selbstmordanschlag verübt wurde, um uns zu sagen, dass mit ihr alles in Ordnung ist. Damals konnte mich wirklich erst die letzte Person aus dem Komitee überzeugen, dass das mit dem Nobelpreis echt war.
profil: Dann erreichte die Nachricht Österreich, und einige Leute erinnerten sich auf einmal, dass Sie in Wien geboren wurden. Ihre Familie musste 1938 vor den Nazis fliehen, als Sie acht Jahre alt waren. Mit dem Nobelpreis wurden Sie plötzlich als Österreicher gefeiert. Karplus: Ich wusste lange nicht, dass ich noch immer eine österreichische Staatsbürgerschaft hatte. Als ich mich öfter in Straßburg aufhielt, ging ich zum Konsulat, um meine österreichische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen. Damit konnte ich in der EU einfacher reisen und arbeiten. Später habe ich erfahren, dass ich die Staatsbürgerschaft nie verloren habe, da es zwischen 1938 und 1945 kein Österreich gab.
Es sind mehr als 75 Jahre vergangen, seit ich Österreich verlassen habe, und vor drei Jahren hat mich Österreich plötzlich wiederentdeckt.
profil: Sie haben Österreich bislang nur sehr selten besucht und hatten laut ihrer Biografie sehr gemischte Gefühle, da "der Antisemitismus annähernd so weit verbreitet erschien wie einst“. Diesmal kommen Sie, um Ihre Fotoausstellung "La Couleur des années 1950“ zu präsentieren und das Ehrendoktorat der Universität Wien verliehen zu bekommen. Was halten Sie von dieser späten Anerkennung? Karplus: Wie Sie sagen, es ist spät. Es sind mehr als 75 Jahre vergangen, seit ich Österreich verlassen habe, und vor drei Jahren hat mich Österreich plötzlich wiederentdeckt. Es ist aber erfreulich, nun eine Anerkennung zu bekommen. Ich bin rund drei Wochen in Wien, und hier sind zahlreiche Ehrenveranstaltungen vorgesehen wie die Verleihung einer Auszeichnung der Stadt Wien durch den Bürgermeister. Wie stark dies aber meine Gefühle gegenüber Österreich ändern wird, weiß ich noch nicht. Präsident Fischer hat mir versichert, als er in New York eine meiner Fotoausstellung im Austrian Cultural Forum besuchte, dass sich viele Dinge in den vergangenen Jahren wirklich geändert hätten.
profil: Wann waren Sie zuletzt in Österreich? Karplus: Ich war vor rund zehn Jahren und auch im Jahr 1988 in Wien, dem 50. Jahrestag der Kristallnacht. Da hatten wir noch sehr klare Zeichen von Antisemitismus gesehen.
profil: Sie sind auch bei der Eröffnung zur Ausstellung über den Wiener Kreis an der Universität dabei. Welche Beziehung haben Sie zum Wiener Kreis? Karplus: Der Wiener Kreis war ein regelmäßiges Treffen von Philosophen, Wissenschaftern und Künstlern, das ab den 1920er-Jahren stattfand. Die Ausstellung zeigt auch, was mit den Leuten in der Nazi-Zeit passiert ist. Es wurden viele wichtige Aktivitäten in Wien zerstört. Daran soll erinnert werden. Die jungen Leute dürfen für solche Entwicklungen früherer Generationen nicht verantwortlich gemacht werden, aber sie sollen sehen, wie schlimm es wirklich war.
profil: Den Nobelpreis haben Sie 2013 gemeinsam mit Michael Levitt and Arieh Warshel für die Entwicklung von Computermodellen erhalten, die komplexe chemische Reaktionen analysieren und hervorsagen können. Können Sie möglichst einfach Ihre Forschung erklären? Karplus: Der wichtige Beitrag für den Preis, der mich betraf, war die Simulation der molekularen Dynamik. Es geht um Methoden, um etwa ein Proteinmolekül darzustellen und zu berechnen, welche Strukturänderungen wichtig für die Funktion des Proteins sind. Es gibt ein Molekül, an dem ich sehr viel geforscht habe. Dieses wandert Schritt für Schritt in Zellen und transportiert dabei bestimmte Dinge. Es geht beispielsweise zu einer Nährstoffquelle, um die Nährstoffe dahin zu liefern, wo sie gebraucht werden. Wie sich solche Moleküle bewegen können, habe ich kürzlich mit Kollegen erforscht. Es geht hier um zwei Aspekte: einerseits zu verstehen, wie es ein Molekül schafft, das zu tun, was von ihm erwartet wird. Zweitens geht es auch darum, Vorhersagen zu treffen, wie man Funktionen verändern kann. Das ist wichtig, wenn diese eine Krankheit wie HIV verursachen.
Das, wofür ich eigentlich bekannt wurde, war lange vor dem Nobelpreis.
profil: War der Chemie-Nobelpreis der Höhepunkt in Ihrer Karriere? Sie haben sich ja nun wieder stark auf die Biologie konzentriert? Karplus: Das, wofür ich eigentlich bekannt wurde, war lange vor dem Nobelpreis. Ich habe ab 1959 die sogenannte Karplus-Gleichung entwickelt, die sehr wichtig bei Experimenten im Bereich der Kernspinresonanz ist. Diese Gleichung wird in allen Kursen der organischen Chemie gelehrt. Unser Programm nutzen nun Tausende Forscher, und viele meinen, dass es diese Methode war, wofür der Nobelpreis wirklich vergeben wurde. Aus meiner Sicht war dies jedenfalls mein wichtigster Beitrag zur Forschung.
profil: Welche generelle Frage hat Sie bei Ihrer Forschung angetrieben? Karplus: Ich wollte versuchen, das Leben zu verstehen. Ein Forscher wie ich, der nicht religiös ist, hat trotzdem einen Glauben. Dieser Glaube ist, dass die Welt verstanden werden kann. Also wie alles funktioniert: vom Big Bang bis hin zu den kleinen Molekülen. Und zu prüfen, ob dies der wissenschaftlichen Erforschung zugänglich ist. Mein Glaube versucht zu verstehen, was die Welt um mich herum bedeutet. Als ich jung war, habe ich mich besonders für Vögel interessiert, bevor ich mehr die Welt unter dem Mikroskop erforschte.
profil: Und auch durch die Fotolinse? Karplus: In gewisser Weise ist meine Fotografie ein Teil dieser Suche. Ich habe mehrere Länder bereist und mache es noch immer, um aufzuzeichnen, was ich sehe. In 100 Jahren, wenn viele Kulturen in ihrer ursprünglichen Art verschwunden sein werden, kann man zumindest sehen, wie die Welt einst war. Viele Leute haben mich gefragt, ob die Fotografie mit meiner Forschung zusammenhängt. Sicher nicht in einer direkten Art, aber in dem Sinne, was mich generell antreibt: die Welt zu verstehen und aufzuzeichnen.
Ob Würmer ein Bewusstsein haben? Das ist eine gute Frage!
profil: Glauben Sie, dass die Welt einmal auf molekularer Ebene verstanden werden kann? Karplus: Die Methoden werden sicher immer besser, und man gelangt von einzelnen Molekülen zu molekularen Komplexen bis hin zur Simulation ganzer Zellen. Mit besseren Methoden und schnelleren Computern lassen sich künftig auch Organe und Bakterien simulieren. Und es gibt keinen Grund, warum nicht auch Säugetiere simuliert werden könnten. Das passiert aber sicher erst in einer fernen Zukunft. Andere Wissenschafter glauben, dass es noch etwas mehr gibt, wie etwa ein Bewusstsein, also etwas Besonderes, das wir niemals verstehen können. Aber auch dafür gibt es eine molekulare Basis. Der menschliche Verstand baut auf Billionen von Nerven und Verbindungen auf. Dies zu simulieren, ist schwierig. Einfache Lebewesen wie Würmer werden schon intensiv erforscht. Ob die ein Bewusstsein haben? Das ist eine gute Frage!
profil: Was werden die nächsten großen Herausforderungen in der biochemischen Forschung sein? Karplus: Es wird darum gehen, die entwickelten Methoden anzuwenden, um auch das Gehirn zu verstehen - zuerst einmal das Gehirn einfachster Organismen. Es gibt aber schon Versuche mit dem Gehirn von Mäusen. Zuvor müssen jedoch erst Methoden gefunden werden, um all die Daten, die etwa von einem einfachen Zebrafisch erzeugt werden, zu erfassen und auszuwerten. Hier fallen Terabytes an Informationen an. Es geht um Big Data.
profil: Sie sind auch Computerwissenschafter und haben sehr früh Programme entworfen. Nun kommt Big Data? Karplus: Ja, die analytischen Methoden von Big Data und wie wir damit umgehen. Schon früher eingesetzte Methoden wie bei der Untersuchung der Proteinfaltung können mit Big Data nun dazu verwendet werden, aus den riesigen Datenmengen sinnvolle Beschreibungen zu erhalten. Wir haben ein Projekt dazu gestartet. Vor 30 Jahren waren solche Methoden noch nicht nützlich, da die Daten nicht zur Verfügung standen. In den vergangenen zwei, drei Jahren gab es geradezu eine Explosion an Daten im Bereich der Hirnforschung. Deswegen möchte ich mich in den nächsten Jahren besonders der Hirnforschung widmen.
Meinem Gefühl nach ist die Toleranz in den vergangenen Jahren gesunken.
profil: Sie sind nicht nur als Forscher hoch aktiv, sondern auch viel gereist und haben viele Kulturen kennengelernt. Derzeit sind die Nachrichten voll von menschlichen Katastrophen. Glauben Sie, dass die Toleranz zwischen Kulturen und Religionen abnimmt? Karplus: Das ist schwer zu beurteilen. Bei den christlichen, jüdischen und muslimischen Kulturen passiert offensichtlich einiges, vielleicht weil sich die Leute bedroht fühlen. Meinem Gefühl nach ist die Toleranz in den vergangenen Jahren gesunken. Besonders, wenn man Vorfälle sieht, wie sie kürzlich in Paris und anderen Plätzen passiert sind. Viel Intoleranz gibt es heute besonders gegenüber Zuwanderern, die in Länder ziehen, die daran nicht gewöhnt sind wie Deutschland. Heute richtet sich das nicht so sehr gegen Juden, aber gegen Moslems. In den USA drücken Leute ihre negativen Gefühle aus, indem sie andere in Schulen oder sonst wo erschießen. Vielleicht tragen dazu auch Facebook und andere Medien bei, mit denen nun Ereignisse schnell an viele Leute übertragen werden können. Einige sagen sich vielleicht: "Ja, diese Aktion finde ich toll, das will ich auch machen, weil ich so verärgert bin.“
profil: Was kann man dagegen tun? Karplus: Wenn in den USA die Waffengesetze restriktiver wären, würde das ohne Frage schon helfen. In England hat die Polizei viele Jahre, außer in Sonderfällen, keine Waffen getragen, und es ist nichts passiert. Toleranz zu lehren, ist eine komplizierte Sache. Am besten ist es sicher, mehr Toleranz an den Schulen zu lehren, verschiedene Kulturen und Religionen zu erklären und zu zeigen, welchen Horror Intoleranz verursachen kann.
profil: Eine Ihrer großen Leidenschaften ist die Fotografie. Planen Sie weitere Reisen? Karplus: Die letzten großen Reisen waren 2008 und 2009 nach China und Indien. Diese Länder verändern sich derzeit sehr stark und werden verwestlicht. In China war ich in Gebieten, in denen ethnische Minoritäten wie die Naxis mit ihren ursprünglichen Bräuchen leben. Die Fotos davon wurden kürzlich in Straßburg ausgestellt. Der Plan ist, im September wieder nach China und Tibet zu reisen. Auch Tibet wurde stark modernisiert. Und in China leben in Städten, die vor 20 Jahren ein paar Tausend Leute beherbergten, nun zehn Millionen. Ich möchte diese Entwicklungen weiterhin aufzeichnen.
profil: Als Nobelpreisträger wird man sehr oft zu Veranstaltungen, wie etwa nach Wien, eingeladen. Was steht noch auf dem Programm? Karplus: Eine sehr interessante Konferenz findet im November in Marokko statt. Hierbei geht es darum, dass sich junge Wissenschafter aus dem mittleren Osten, aus Ägypten, Israel, Libyen und anderen Ländern ohne Restriktionen treffen, sich austauschen und Vorträge halten können. Dazu werden auch Nobelpreisträger eingeladen. Ich sehe darin einen wichtigen Beitrag, um das Verständnis zwischen den Kulturen zu fördern. In Marokko freue ich mich natürlich auch schon auf das Fotografieren.
profil: Sie haben im Vorjahr auch die Al-Quds Universität in Palästina besucht … Karplus: Das war eine Privatinitiative von mir. Ich entschied mich für den Besuch, da die eingeladenen Palästinenser einen Vortrag in Israel von mir aus politischen Gründen nicht besuchen konnten. Durch meine Kontakte konnte ich die gleiche Vorlesung nochmals in Al-Quds halten.
profil: Um eine Brücke zwischen den Kulturen zu bauen? Karplus: Als Nobelpreisträger kann ich das machen. Und die Leute waren so aufgeregt, einen Nobelpreisträger an ihrer Universität in Palästina zu haben. Ich bin auch nach Houston, Texas, zu einem Treffen mit Schülern aus traditionell schwarzen Colleges gefahren. Der Höhepunkt war, dass jeder wie bei einem Rockstar ein Foto mit mir wollte. Solche Erlebnisse ermöglicht mir nun der Preis. Wissenschaftlich hat sich durch den Nobelpreis wenig geändert, aber nun kann ich auch abseits der Wissenschaft einiges bewirken. Das möchte ich in den nächsten Jahren tun, solange der Nobelpreis noch aktuell ist.
Martin Karplus, 85, musste im Alter von acht Jahren mit seiner Familie nach dem "Anschluss“ Österreichs 1938 über die Schweiz und Frankreich in die Vereinigten Staaten fliehen. 1947 begann er an der Harvard University Chemie zu studieren. Seine Karriere startete am California Institute of Technology, wo er beim zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling sein Doktorat machte. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Oxford University führte ihn seine Laufbahn über die University of Illinois zur Columbia University wieder nach Harvard, wo er 1979 den Theodore-William-Richards-Lehrstuhl für Chemie übernahm. Seit 1995 ist er auch Professor an der Universität Louis Pasteur in Straßburg. 2013 erhielt Karplus (das Foto oben zeigt den begeisterten Fotografen 1956 im Marineland in Kalifornien) gemeinsam mit Michael Levitt und Arieh War-shel den Nobelpreis für Chemie "für die Entwicklung von Multiskalenmodellen für komplexe chemische Systeme“. Seine Karriere führte ihn von der Chemie und Physik zu seinem wirklichen Interesse, der Biologie. Aktuelle Forschungsprojekte beschäftigen sich mit Simulationsmodellen zum besseren Verständnis der Funktionen von Molekülen, um die Erkenntnisse etwa für die Medizin nutzbar zu machen.
Die Fotoausstellung
am Dienstag dieser Woche wird um 18.30 Uhr die Fotoausstellung "La Couleur des années 1950: Fotografien von Martin Karplus“ in der Universität Wien eröffnet. Bis 12. August können die historischen Reisefotografien im ersten Stock des Hauptgebäudes der Uni besichtigt werden.
Von Mitte Mai bis Ende Oktober wird im Hauptgebäude der Uni Wien das Wirken des Wiener Kreises vorgestellt - einer Runde von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern, die sich ab den 1920er-Jahren regelmäßig zu Diskussionen traf. Dabei wird auch gezeigt, was mit der geistigen Elite Österreichs in der Nazizeit geschah. Ein neues Buch des Mathematikers Karl Sigmund befasst sich ebenfalls mit dem Thema:
Karl Sigmund: Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs“, Springer Spektrum, 2015, 360 Seiten.