Das neue Rammstein-Album „Zeit“: Letzte Lieder
Ein Ende der Geschichte klingt so: „Nach uns wird es vorher geben / Aus der Jugend wird schon Not / Wir sterben weiter, bis wir leben / Sterben lebend in den Tod“. So heißt es in dem Lied „Zeit“, und man könnte im Schatten der aktuellen Weltlage zwischen Krieg und Totalitarismus, Klimakrise und Pandemie kaum passendere Worte finden. So widmen sich die sechs Musiker von Rammstein auf ihrem gleichnamigen neuen Album der eigenen Endlichkeit und spiegeln den ewigen Menschheitswunsch, die Zeit doch für einen Moment an- und festhalten zu können.
Was also tun, wenn es nur noch wenig Zuversicht gibt und die Zukunft zu einer kaputten Utopie verkommt? Richtig: Man versucht, als Akt der letzten Hoffnung, das Hier und Jetzt ein wenig festzuhalten. Elf Zeitkapseln, quasi opulente Fan-Boxen aus Holz und Stahl, waren es, die im März dieses Jahres quer über den Globus verteilt vergraben wurden. Die Band veröffentlichte lediglich ungefähre Koordinaten über deren Aufenthaltsort, die Fans sollten sich auf die Suche nach den Schätzen begeben; zu gewinnen gab es Konzertkarten und den frommen Wunsch, hier ein Stück Ewigkeit in den eigenen Händen zu halten. Für alle anderen erscheint am kommenden Freitag „Zeit“, das achte Studioalbum der Berliner Weltstars.
Rammstein wäre nicht eines der aufregendsten und umstrittensten Pop-Projekte der letzten drei Jahrzehnte, wenn die ostdeutsche Band für ihre Meditationsübung in Sachen Leben, Tod und Vergänglichkeit nicht erneut eindrucksvolle Bilder fände. Regisseur und Musiker Robert Gwisdek, bekannt unter seinem Künstlernamen Käptn Peng, erschafft zum Titelsong einen aus pathetischen Bildern meisterhaft inszenierten Kurzfilm, der die Vergänglichkeit zwar mit dem Vorschlaghammer, aber eindrucksvoll auf den Punkt bringt: Man sieht die Band schiffbrüchig auf hoher See, als herumirrende Soldaten im Wald, einem Haufen Kindern mit behelfsmäßigen Holzgewehren gegenüber; man hat sofort die aktuellen dystopischen Kriegsbilder aus der Ukraine vor Augen: „Warmer Körper ist bald kalt / Zukunft kann man nicht beschwör’n / Duldet keinen Aufenthalt / Erschaffen und sogleich zerstör’n“, heißt es hier. Am Ende des sechsminütigen Videos bleibt die Erkenntnis, dass das Leben immer noch stärker als der Tod ist. Ob bewusst oder unbewusst: Rammstein geben der Gegenwart der großen Ungewissheiten Worte und Bilder – mehr Zeitgeist ist in der Popmusik kaum möglich.
Dieses Wechselspiel aus Tabubruch und ungeteilter Aufmerksamkeit hat bei der 1994 in Berlin gegründeten, noch immer in Originalbesetzung existierenden Band Tradition. In Sachen Marketing macht man Till Lindemann (Gesang), Paul Landers (Gitarre), Richard Kruspe (Gitarre), Flake Lorenz (Keyboard), Christoph Schneider (Schlagzeug) und Oliver Riedel (Bass) auch 2022 nichts vor. Und doch gibt es einen Unterschied: Diesmal bleibt es verdächtig ruhig um die notorische Skandalband. Bisher galt im Bandkosmos folgende ungeschriebene Regel: Kein neues Album ohne Eklat und Diskussionen von Boulevard bis Feuilleton und Instagram bis Twitter. So findet sich auf dem 2004 veröffentlichten Album „Reise, Reise“ mit „Mein Teil“ ein Lied über den Kannibalen von Rothenburg, zu ihrer Coverversion des Depeche-Mode-Klassikers „Stripped“ erschien 1998 ein Musikvideo mit Ausschnitten aus Leni Riefenstahls berüchtigtem NS-Propagandafilm über die Olympischen Spiele 1936, 2009 wurde mit dem Clip zur Single „Pussy“ ein Pornofilm auf einer einschlägigen Website veröffentlicht; 2019, zum Erscheinen des letzten, selbstbetitelten Albums, sorgte ein Trailer zu der Single „Deutschland“ für Empörung. Das Video zeigt Bandmitglieder als KZ-Häftlinge mit Judenstern vor einem Hinrichtungskommando – der Zentralrat der Juden in Deutschland schaltete sich ein. Auf derartigen Furor verzichteten die Berliner diesmal merklich.
Die politischen Statements, die von Rammstein üblicherweise bei Konzerten bemüht werden, waren stets erstaunlich subtil („Willkommen“-Schilder und Regenbogenfahnen). In Zeiten des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine waren aber klare Worte nötig. In einer der raren Mitteilungen auf der bandeigenen Website Anfang März brachten die Bandmitglieder, die sich auch in Osteuropa großer Beliebtheit erfreuen, ihre Unterstützung für das ukrainische Volk zum Ausdruck. Nachsatz: „Jedes Mitglied der Band hat unterschiedliche Erfahrungen mit den beiden Ländern; alle Musiker haben Freunde, Kollegen, Partner und Fans in der Ukraine und in Russland.“ Das war dringend nötig. Denn: Vielen ist der Auftritt von Till Lindemann beim letztjährigen russischen Militärfestival Spasskaja Baschnja in Erinnerung. Der Sänger cancelte mittlerweile alle Auftritte seiner Solotournee in Russland – nicht aber die in der Ukraine. Dass die Weltpolitik an der Band nicht spurlos vorübergeht, machte auch Keyboarder und Autor Flake Lorenz vergangenes Jahr in einem Gespräch mit profil klar: „Früher haben wir gedacht: Politiker machen Politik, und Rockbands machen Rockmusik – und jeder weiß, welche Haltung wir vertreten. Das war aber nur selten der Fall. Heute wissen wir, dass man seine Standpunkte ruhig klar darlegen kann.“
Besonders politisch ist „Zeit“ dennoch nicht geraten. Die alte Stärke Rammsteins, aus Theatralik, Ironie, bösen Gitarrenriffs und eingängigen Melodien stadiontaugliche Hits zu formen und dadurch eine Art Kopfkino entstehen zu lassen, gelingt der Band heute dennoch besser als auf ihrem 2019 erschienenen, selbstbetitelten Comeback-Album. Ein Problem der elf neuen Songs: Das Album wirkt musikalisch wie thematisch zerrissen. Auf der einen Seite gibt sich Rammstein betont altersmilde und nachdenklich (zu hören im Song „Lügen“) und untermalt das mit elegischen Sound- und Keyboardflächen, während man sich in Liedern wie „Dicke Titten“ oder „OK“ unnötig pubertär geriert. Exemplarisch für diese Uneindeutigkeit steht die zweite Single „Zick Zack“, die Schönheitswahn und Social-Media-Kult thematisiert. Der schnöde Rock-Stampfer geht zwar gut und einfach ins Ohr, wirkt lyrisch aber nicht ganz ausgereift. Bissige Textzeilen wie „Sondermüll in Lippen spritzen“ in einem Atemzug mit Geschlechtsumwandlungen und Transsexualität zu erwähnen, wirkt 2022 durchaus befremdlich. „Ist die Frau im Mann nicht froh / Alles ganz weg, sowieso“, heißt es da.
Thematisch bleibt sich die Band treu. Der obligatorische Inzest-Schocker nennt sich diesmal „Meine Tränen“ und hat alle Bestandteile, die der Band zu Weltruhm verholfen haben. Das Spiel mit Codes und zweideutiger Symbolik ist Teil der künstlerischen Identität und ein Erfolgsrezept der Band. Die Anleihen reichen von Fritz Lang über Riefenstahl bis hin zu Soundpionieren wie Kraftwerk und Laibach. Dennoch: So radikal wie die Slowenen Laibach gingen die Deutschen nie vor, schafften es dafür, aus diesem Rezept zwingende Welthits zu formen. Der Song „Links 2 3 4“ war 2001 ein Bekenntnis zu politisch linker Gesinnung, der strammen Marschmusik zum Trotz. Der aktuelle Album-Opener „Armee der Tristen“ schafft etwas Ähnliches – der Gleichschritt wird zum Trost für die traurigen Seelen dieser Tage. Auch das Klavierintro des Songs „Schwarz“ (der frappant an den 2005 erschienenen Song „Hilf mir“ erinnert) nimmt die Hörerinnen und Hörer direkt mit auf die Reise in das leicht anrüchige Lebensgefühl, das Großstadtnächte verströmen können. Das etwas härter angelegte „Angst“ geht mit Schwarzer Pädagogik ins Gericht. Die Stimmung ist düster und getragen; die Gitarren sägen, der Refrain brennt sich ein.
Am Ende dann „Adieu“. Schon Wochen vor dem Release war unter Fans eine rege Diskussion ausgebrochen, ob es sich um ein Lebewohl der Band handeln könnte. Denn: Was soll nach knapp drei Jahrzehnten Erfolgsgeschichte, weltweiten Stadienkonzerten und Millionen verkaufter Tonträger eigentlich noch kommen? Rammstein beantworten diese Frage, in bester Band-Manier, uneindeutig und mit Schlager-Pathos. Im letzten Song, so viel darf hier verraten werden, geht es um den Tod und das Abschiednehmen am Ende eines Lebens. Sollte es sich hier tatsächlich um den letzten Rammstein-Song überhaupt handeln, würde die beispiellose Karriere dieser oft missverstandenen Band durchaus versöhnlich enden. „Nur der Tod währt alle Zeit / Er flüstert unterm Tannenzweig / Muss alles in sein Dunkel ziehn‘ / Sogar die Sonne wird verglühn“, heißt es hier: „Doch keine Angst, wir sind bei dir / Ein letztes Mal so singen wir“. Ihre letzte Tournee führte Rammstein 2019 quer durch Europas Fußballstadien, 2022 wird die Band wieder durch Nordamerika und Europa ziehen – zwei Mal auch im ausverkauften Klagenfurter Wörthersee Stadion (am 25. und 26. Mai) gastieren. Das Ende ist eben auch nur ein Anfang.
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