Arbeit und Migration: Gekommen, um zu bleiben
Ali Gedik war 15, als sein Onkel ihn nach Vorarlberg mitnahm, eine kleine Provinz in einem kleinen Land, das er aus bruchstückhaften Schilderungen aus der Ferne kannte und immer mit Australien verwechselte, das genauso unbekanntes Terrain für ihn war. Es war ein banger Aufbruch ins Ungewisse. Immerhin, es war sein Lieblingsonkel. Die besondere Beziehung zu ihm war ihm in die Wiege gelegt, denn seine Eltern hatten ihn nach ihm benannt. So kam es, dass der ältere Ali Gedik den jüngeren Ali Gedik nach Avusturya - Österreich - mitnahm. Auf die Reise seines Lebens.
Der Onkel arbeitet schon eine Weile in Vorarlberg. 1976 nimmt er seinen damals 15-jährigen Neffen, Ali Gedik, nach Avusturya - Österreich - mit. Auf die Reise seines Lebens.
Man schrieb 1976. Beginnend in den 1950er-Jahren waren Arbeitsmigranten in die boomenden europäischen Industriestaaten aufgebrochen. Innerhalb von drei Dekaden hatte sich der Anteil der ausländischen Erwerbstätigen verdreifacht. Die Wirtschaftswunderländer Deutschland und Österreich konnten kaum genug an Arbeitskräften kriegen. Der damaligen türkischen Politik kam das insofern entgegen, als sie sich von den vorübergehend im Ausland beschäftigten Staatsbürgern einen Rückfluss an Devisen und Know-how versprach.
Auf Abruf, für immer
1964 trat das Gastarbeiterabkommen mit der Türkei in Kraft, 1966 jenes mit Ex-Jugoslawien. Die daran mitwirkenden Sozialpartner nahmen sich am Rotationsmodell der Schweiz ein Vorbild. Die Gewerkschaft rang darum, dass für Ausländer die gleichen Lohn-und Arbeitsbedingungen gelten, diese aber höchstens ein Jahr bleiben und in wirtschaftlich schlechten Zeiten vor Inländern gekündigt werden müssten. Bald suchten -und fanden -sowohl die Betriebe als auch die Arbeitskräfte jedoch allerlei Mittel und Wege, diese Beschränkungen zu umgehen.
Die Wirtschaftswunderländer Deutschland und Österreich konnten kaum genug an Arbeitskräften kriegen.
Der Rest ist Geschichte, und die kann in ihrer kürzesten Version so zusammengefasst werden: "Gastarbeiter wurden geholt, Menschen sind gekommen." Das Gros der Gastarbeiter blieb, sie holten ihre Familien nach und setzten in dem Land, wo sie auch nach Jahrzehnten noch als Ausländer betrachtet wurden, Kinder in die Welt. An der Illusion der Arbeitskräfte auf Abruf, um deren sprachliche, soziale und kulturelle Integration man sich nicht zu kümmern brauche, hielt man trotzdem noch lange fest. Erst in den 1990er-Jahren begann Österreich -sehr allmählich -, sich davon zu verabschieden.
Ali Gedik, der Onkel, war der Erste aus dem Bezirk Pazarcık in der Provinz Maraş, der Anfang der 1970er-Jahre die Koffer packte. Mittlerweile lebt in der rund 70.000 Einwohner zählenden Gegend keine Familie mehr ohne Verwandte im Ausland, in Deutschland oder der Schweiz, manche in Übersee, einige in Österreich. Ali Gedik, der Jüngere, landete in Vorarlberg in einem Arbeiterheim, wo ihm als einzigem Jugendlichen unter lauter älteren Kurden und Türken die Rolle des "Laufburschen" zufiel. Der 15-Jährige vermisste seine Freunde, sehnte sich nach der überschaubaren Welt seines Dorfes. Er wollte heim.
Ali Gedik (rechts) mit seinem Cousin Mehmet, 1977: Er vermisst seine Freunde, sehnt sich nach der überschaubaren Welt seines Dorfes. Er will heim.
Die Einsamkeit nach der Fabrik Das wollten auch alle Gastarbeiter um ihn herum, die sich am Bau, in der Beschlägefabrik, in kunststofferzeugenden Betrieben, bei Garnherstellern oder in Textilfabriken abrackerten. Im Unterschied zu ihm wollten sie aber zuerst noch ein paar Jahre im Akkord und in Nachtschichten Geld verdienen, um sich damit zu Hause eine Existenz aufzubauen. Es kam ganz anders. Ali Gedik, der Ältere, holte seine Frau und seine zwei Kinder nach, ein drittes kam in Vorarlberg zur Welt. Ende der 1980er-Jahre hielt er es in der Fremde nicht mehr aus, packte die Koffer und ging mit seiner Frau in die Türkei zurück. Ohne die Kinder. Sie leben heute in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Auch Ali Gedik, der Jüngere, ist geblieben.
Das Heimweh, die Einsamkeit setzten ihm lange zu. An seinem 17. Geburtstag, als er alt genug für die Schichtarbeit war, heuerte er bei Alpla an, einer Kunststofffabrik, die Flaschen und Kanister für die Getränkeindustrie fertigte, und wechselte dann in eine Metallfabrik in Lauterach. "Das Einzige, was mich glücklich gemacht hat, war, meine Familie zu unterstützen", sagt er. Im Juli 1978 nahm er bei der Sparkasse in Hard 90.000 Schilling für einen Traktor auf. Damit bestellten seine Eltern zu Hause in der Türkei ein paar Hundert Hektar Land, bis eine kriminelle Bande den Traktor stahl.
Um mit Angehörigen und Freunden in Verbindung zu bleiben, besprachen er und sein Onkel Audiokassetten und schickten sie in die Türkei. Dort versammelten sich die Familie und das halbe Dorf, um den Berichten aus der Fremde zu lauschen. Anschließend besprachen sie ihrerseits eine Kassette mit Geschichten aus ihrem Alltag und schickten sie retour. Oft brachten Ali Gedik die Stimmen der Daheimgebliebenen zum Weinen. Am Sonntag kaufte Ali Gedik in einer Trafik in Bregenz eine Wochenend-Ausgabe der Tageszeitung "Hürriyet" ("Freiheit"), studierte die Annoncen der musikalischen Neuerscheinungen. "Die neuesten Kassetten anzuhören" gehörte für ihn -so wie das halbstündige türkische Programm, das der deutsche Sender WDR Radio Köln jeden Tag ausstrahlte - zum kulturellen und sozialen Überlebensprogramm.
Die entführte Braut
1980 zog Ali Gedik einer Kärntnerin wegen, die er im Zug kennengelernt hatte, nach Wien. Die Beziehung hielt nicht lange. Als er reumütig zum Onkel nach Vorarlberg zurückkehrte, triumphierte dieser: "Siehst du! Ich habe es dir gesagt." Später heiratete Ali Gedik eine türkischstämmige Kurdin, und es ist fast bezeichnend -wie für viele Migrationsbiografien -, dass wieder nicht alles glattging. Alis Onkel und ein paar Freunde wurden mehrmals bei der Familie der Auserwählten vorstellig und kamen stets mit einem Nein zurück: Die Tochter sollte in der Türkei studieren und ihren Cousin heiraten. Die junge Frau bestand darauf, "den Ali" zu lieben. Ihre Mutter fand einen halbwegs gesichtswahrenden Ausweg: "Du kannst mit dem Ali abhauen, bist aber nicht mehr meine Tochter." Am 16. Februar 1983 rückte Ali Gedik mit Freunden zur "Entführung" seiner künftigen Frau aus, bekam mit ihr eine Tochter, und mittlerweile haben die beiden bereits einen Enkel. Für den Kleinen hat er begonnen, sein "Gekommen, um zu bleiben"-Gastarbeiterschicksal aufzuschreiben.
Am 16. Februar 1983 rückte Ali Gedik mit Freunden zur "Entführung" seiner künftigen Frau aus, bekam mit ihr eine Tochter, und mittlerweile haben die beiden bereits einen Enkel. Für den Kleinen hat er begonnen, sein "Gekommen, um zu bleiben"-Gastarbeiterschicksal aufzuschreiben.
17 Jahre lang arbeitete Ali Gedik in Fabriken in Vorarlberg, bevor er 1983 nach Wien übersiedelte und Staplerfahrer im Philips-Werk wurde. Eines Tages zeigte ihm ein Freund ein Inserat, mit dem die Stadt Wien einen türkischsprachigen Sozialarbeiter suchte. Ali Gedik landete in der Jugendarbeit. Unter den Jugendlichen auf der Straße, mit denen er es damals zu tun bekam, waren viele Kinder mit türkischen und ex-jugoslawischen Wurzeln. Beide Milieus waren ihm vertraut. In der Fabrik waren die Gastarbeiter aus der Türkei, aus Serbien, Kroatien und Bosnien gemeinsam am Fließband gestanden. "Die Gastarbeiter vom Balkan hatten den Vorteil, dass sie nicht weit weg von zu Hause waren und alle ein, zwei Monate heimgefahren sind. Türken und Kurden konnten das nicht", sagt Ali Gedik. Heute arbeitet der 62-Jährige bei der Wiener Volkshilfe im Rahmen der "Grätzelhilfe" am nachbarschaftlichen Zusammenleben in der Stadt.
Aus einem armen, bosnischen Landstrich
Die ersten Gastarbeiter in Österreich stammten zunächst aus dem damaligen Jugoslawien, wo die Schwerindustrie verstaatlicht war oder zumindest unter erheblichem politischen Einfluss stand. Die Anwerbung hinkte Deutschland einige Jahre hinterher und konzentrierte sich auf das Bauwesen, Gerwerbebetriebe und den Dienstleistungsbereich, allesamt eher Branchen mit geringer Entlohnung und kaum Aufstiegschancen, wie der Migrationsforscher Bernhard Perchinig in einem Essay zur sogenannten "Fremdarbeit" nachzeichnet. Das erklärt, warum viele Gastarbeiter aus ländlichen, armen Gegenden stammten. Bereits in den 1970er-Jahren holten sie ihre Frauen nach, während die Kinder oft bei den Großeltern blieben. Mitunter für viele Jahre.
In der Fabrik waren die Gastarbeiter aus der Türkei, aus Serbien, Kroatien und Bosnien gemeinsam am Fließband gestanden. "Die Gastarbeiter vom Balkan hatten den Vorteil, dass sie nicht weit weg von zu Hause waren und alle ein, zwei Monate heimgefahren sind. Türken und Kurden konnten das nicht", sagt Ali Gedik.
Das prägte das Aufwachsen der nachkommenden Generationen. Einer, der davon aus eigener Erfahrung berichten kann, ist Savo Ristić. Seine Eltern betrieben in Bosnien eine Landwirtschaft, von der sie kaum leben konnten. Josip Broz Tito, ab 1953 Präsident der Volksrepublik Jugoslawien, hatte sein Versprechen, dass es im Land für alle einen Job geben würde, nicht halten können. Das Anwerbeabkommen mit Österreich im Jahr 1968 kam ihm zupass. "Er hoffte, damit Zeit zu gewinnen, um das Land aufzubauen", sagt Ristić.
Die Mundpropaganda, die sich bis ins arme, ländliche Bosnien durchgesprochen hatte, entsprach nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Ristićs Vater landete am Hochofen der Voestalpine in Linz. Die Arbeit war gefährlich und kräftezehrend. Wenige Monate später packte seine Mutter ihre Koffer. Ihre drei Kinder ließ sie schweren Herzens in der Obhut der Großeltern zurück. In Oberösterreich wusch sie Geschirr in einem Gasthaus, bis sie in einer Fabrik in Enns, die Schmuckperlen aus Kunststoff herstellte, am Fließband anfangen konnte.
Südbahnhof: Ankunftsort und Jobbörse
Der Vater kaufte in Kroatien ein winziges Haus, in dem die Oma mit Ristićs älteren Geschwistern lebte. Er selbst war noch nicht auf der Welt. Die Eltern besaßen kein Auto; mit dem Bus nach Hause zu fahren, dauerte bis zu 20 Stunden. Einmal war die Mutter von der Reise so übermüdet, dass sie an der Maschine in der Fabrik beinahe eingeschlafen wäre. Ihr Chef habe sich Sorgen gemacht und zu ihr gesagt, sie solle "nicht so viel denken"; sie habe "trinken" verstanden und sei empört gewesen. Das Missverständnis habe sich alsbald in Gelächter aufgelöst, wie die Mutter später einmal erzählte. Sie lernte schnell Deutsch und begann, für Freunde und Kolleginnen bei Ärzten und Behörden zu übersetzen. Der Vater wechselte ins Baugewerbe und war stolz auf "seine" Werke, etwa einen hohen Schornstein für ein Kraftwerk. Das wiederum brachte Savo Ristić auf eine Idee, die er seit Jahren mit sich herumträgt: Ein Denkmal für die Arbeitsmigranten aus der Türkei und aus Jugoslawien am ehemaligen Südbahnhof Wien (heute: Hauptbahnhof) soll ihre Schicksale würdigen. Da, wo sie in langen Zügen ankamen und wo auch gleich Unterkünfte und Jobs vermittelt wurden. Das Land hatte die Integration seiner Gastarbeiter jahrzehntelang schleifen lassen. Auch an dieses Versäumnis will Ristić erinnern. Das Vorhaben könnte bald Wirklichkeit werden.
Savo Ristićs Vater war als Gastarbeiter in Österreich stolz auf "seine" Werke, etwa einen hohen Schornstein für ein Kraftwerk. Sein Sohn will nun mit einem Denkmal für die Arbeitsmigranten aus der Türkei und aus Jugoslawien am ehemaligen Südbahnhof Wien (heute: Hauptbahnhof) ihre Schicksale würdigen.
Anders als die meisten Gastarbeiter gingen Ristićs Eltern 1978 zurück, weil sie die Zerrissenheit nicht mehr aushielten. Die Mutter war mit Savo, ihrem vierten Kind, schwanger. Er kam in einem Jugoslawien zur Welt, das sich wirtschaftlich gerade stabilisierte. Ende der 1970er-Jahre konnte man auch hier wieder einen Job finden. Die Mutter beginnt in einer Fabrik zu arbeiten, sein Vater am Bau.
Die Eltern als fallweise Besucher
Ristić ist das einzige Kind in seiner Familie, das mit seinem Vater und seiner Mutter aufwuchs. Seine Geschwister erlebten die beiden über viele Jahre hinweg nur als Besucher. 1987, als sein ältester Bruder 20 wurde, übersiedelten auch die älteren Geschwister nach Österreich, das Land, das sie bis dahin nur aus den Erzählungen der Eltern kannten. So entgingen sie der Gefahr, in dem vier Jahre später ausbrechenden Krieg am Balkan vom Militär eingezogen zu werden; Savo Ristić war 14 und für den Dienst an der Waffe zu jung. 2001 heiratete er, bekam einen Sohn, studierte. Sein Kindheitstraum umfasste einen "Bürojob" und eine "glückliche Familie":"Weiterreichende Träume hatte ich nicht", sagt er.
Schließlich wird auch er zum Migranten in Österreich, eine Lebensform, die von Phasen gekennzeichnet ist, wie er bald herausfand: "Zuerst fügt man sich und will gefallen. Dann beginnt man sich zu fragen: Warum empfinde ich mich als weniger wert? Warum muss ich mich anpassen?" Die Antwort gibt er sich irgendwann selbst: "Ich bin genauso ein Mensch, auch wenn ich woanders auf die Welt gekommen bin." Als ihn sein Bruder in Wien von einem Gastarbeiterverein zum nächsten führt und von einem Lokal, das genauso in Kroatien sein könnte, zum anderen, stellt er darüber hinaus fest, dass man in dieser Stadt völlig unter sich bleiben kann. Auch dagegen wehrt er sich.
Als Kind von Gastarbeitern, die über Österreich gut geredet haben, will Savo Ristić inzwischen nicht weniger, als dass dieses Land auch gut über seine Gastarbeiter redet.
Savo Ristić sagt, seine Eltern hätten immer "gut über Österreich gesprochen". Dabei hatte sein Vater hier sieben Jahre lang in das Pensionssystem eingezahlt, ohne im Alter davon etwas zu haben. Jene, die ihr Leben lang in der Fremde ausharrten, bauten in ihrer Heimat Häuser, bezahlten Nachbarn, die darauf aufpassten, erhielten eine Pension, von der sie halbwegs leben konnten. Viele von ihnen leben inzwischen in Bosnien, Kroatien, Serbien oder in der Türkei, behielten aber eine Wohnung in Österreich, wo ihre Kinder und Enkel zu Hause sind. Seine Eltern hatten finanziell draufgezahlt und nur 300 bis 400 Euro Pension erhalten. Auf Arbeiter, die wirklich zurückgehen, war Österreich nie eingestellt.
Inzwischen gehen Savo Ristićs Träume über einen Bürojob und eine glückliche Familie weit hinaus: Da ist einmal das "Gastarbajteri"-Denkmal, für das verschiedene Stellen Unterstützung zugesagt haben. Auch ein Museum der Migration soll entstehen. Als Kind von Gastarbeitern, die über Österreich gut geredet haben, will Ristić inzwischen nicht weniger, als dass dieses Land auch gut über seine Gastarbeiter redet.