100 Tage im Amt: Joe, der Linke
Ist es mit 78 Jahren wirklich schon zu spät für eine Midlife-Crisis? Das langweilige Leben hinter sich lassen, noch einmal von vorn anfangen, sich neu erfinden? Joseph Robinette Biden, Jr., Geburtsjahrgang 1942, von Beruf US-Präsident, will es wissen.
Seine Ehefrau Jill kann dennoch beruhigt sein, Joes unerwartete Leidenschaft gilt nicht schweren Motorrädern, Risikosportarten oder außerehelichen Affären. Ihn drängt es vielmehr nach … links.
Tatsächlich. Biden, der prototypische Politiker der Mitte, der in seiner jahrzehntelangen Karriere als Senator immer stolz darauf war, wie gut er mit Republikanern kooperierte, ist nach nur 100 Tagen im Weißen Haus kaum wiederzuerkennen. Vor allem eine Maßnahme hat Biden mit einem Schlag zum Liebkind der Linken werden lassen: Der „American Rescue Plan Act“, ein Wiederaufbauprogramm zur Ankurbelung der Wirtschaft nach der Covid-19-Pandemie mit dem enormen Volumen von 1,9 Billionen Dollar, das sind umgerechnet 1600 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das Stimulus-Paket, das zur Bewältigung der Rezession von 2009 unter Präsident Barack Obama beschlossen wurde, war mit 650 Milliarden nur gut ein Drittel so groß.
„Zu groß, zu riskant“, urteilen Kritiker wie Larry Summers, der in der Administration des demokratischen Präsidenten Bill Clinton und auch für Obama gearbeitet hat, über die 1,9-Billionen-Bazooka. Doch Biden ließ sich nicht beirren, nahm auch keine Rücksicht auf den Widerstand der Republikaner und lud die gewaltigste Waffe im Kampf gegen die Rezession, die je ein US-Präsident in Händen gehalten hat. Umgerechnet 1200 Euro bekommt jeder Amerikaner geschenkt, der nicht mehr als 63.000 Euro pro Jahr verdient; das Arbeitslosengeld bleibt erhöht; die angehobene Lebensmittelunterstützung wird verlängert; kleine Unternehmen bekommen mehr Geld; Schulen werden Covid-19-sicher gemacht; Steuerfreibeträge für niedrige Einkommen werden ausgeweitet, Wohnbeihilfen erhöht, Impfprogramme zur Pandemiebekämpfung
finanziert … Zudem werden Steuern für große Unternehmen erhöht und die Flucht in Steuerparadiese erschwert.
Die Linken jubeln. Eine so gewichtige Rolle hat der Staat in den USA seit Generationen nicht gespielt. Biden wird mit Franklin D. Roosevelt verglichen, der als Präsident (1933–1945) wegen seines sozial- und wirtschaftspolitischen „New Deals“ als Champion progressiver Reformpolitik gilt. „Könnte das 1,9-Billionen-Paket das Ende der neoliberalen Ära darstellen?“, fragt das einflussreiche US-Magazin „The New Yorker“ und beantwortet die Frage im Wesentlichen mit Ja.
Joe Biden als Drachentöter des Neoliberalismus und Geburtshelfer eines wiedererstarkten Staates? Im Ernst?
Ganz so einfach ist es nicht. Die Wucht des 1,9-Billionen-Dollar-Schecks verdeckt einige Fakten, die nicht ins Bild des progressiven Präsidenten passen. Das beginnt damit, dass viele der Punkte im „American Res-cue Plan Act“ zeitlich befristet sind. Und ob auch nur einige davon zu dauerhaften Maßnahmen werden, ist ungewiss. Deshalb könnte etwa die Reform der
Gesundheitsversicherung unter Präsident Obama („Obamacare“) eine möglicherweise längerfristige systemische Änderung bewirken als eine noch so große einmalige Finanzspritze für Soziales. Ein Punkt, der es zudem aufgrund von Widerständen innerhalb der Demokratischen Partei nicht in das Gesetz geschafft hat, ist die linke Forderung nach einer deutlichen Anhebung des Mindestlohns von derzeit 7,25 Dollar pro Stunde. Biden hatte im Wahlkampf 15 Dollar (12,40 Euro) versprochen.
Ein Stolperstein für jegliche nachhaltig linke Gesetzgebung in dieser Legislaturperiode ist die knappe Mehrheit der Demokraten im Kongress. Zwei demokratische Mitglieder des Senats – Kyrsten Sinema und Joe Manchin – gelten als konservativ, was in der Praxis bedeutet, dass sie progressiven Gesetzen die Zustimmung verweigern, auch wenn Biden dafür ist.
Einiges deutet darauf hin, dass Biden zwar froh ist, wenn sich der linke Parteiflügel einigermaßen befriedigt gibt, er aber dennoch nicht als der „linke Präsident“ dastehen möchte. So hielt er zumindest in einem ersten Schritt an der sehr geringen Obergrenze von 15.000 Einwanderern pro Jahr fest, die sein Vorgänger Donald Trump fixiert hatte. Die progressiven Demokraten waren entsetzt: „Say, it ain’t so, President Joe“ klagte Senator Dick Durbin in Abwandlung des 1975er-Hits „Say It Ain’t So, Joe“ von Murray Head. Schließlich kündigte das Weiße Haus an, die Zahl im kommenden Monat nachzujustieren.
Auch die Steuererhöhungen für Unternehmen fielen ein wenig bescheidener aus, als die Wahlversprechen der Demokraten hatten erwarten lassen.
Und dennoch: Präsident Biden hat mit dem „American Rescue Plan Act“ einen Paradigmenwechsel erkennen lassen. Bisher galten die bangen Fragen „Wie werden die Märkte reagieren?“, „Könnte die Inflation deutlich ansteigen?“ und „Sind Steuererhöhungen nicht allzu unpopulär?“ als verlässliche Bremsklötze für forsche, linke Staatsinterventionen. Biden hat deutlich gemacht, dass ihm der Paukenschlag wichtiger war. Da mögen kritische Stimmen wie etwa das prestigereiche britische Magazin „The Economist“ mahnend anmerken, dass das 1,9-Billionen-Paket „ein hochriskantes Glücksspiel“ sei, Ökonomen vor einer Überhitzung der Wirtschaft warnen – in Umfragen ist der „American Rescue Plan Act“ populär, und Biden folgt seinem Instinkt. Und er lernt aus der Erfahrung der Jahre nach 2009, als sich herausstellte, dass der damalige Plan zu klein gedacht gewesen war.
Dieses Umdenken und diese Furchtlosigkeit, gegen jahrzehntealte Dogmen zu verstoßen, machen den ehemals unverrückbar scheinenden Mitte-Politiker Biden in dieser Situation tatsächlich zu einem Linken.
Wer jedoch wissen möchte, um wie viel weiter es noch Richtung links ginge, sollte der demokratischen Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez lauschen. Der Infrastruktur-Plan von Präsident Biden umfasst weitere zwei Billionen in den kommenden zehn Jahren. Ocasio-Cortez nennt das einen „guten Ausgangspunkt“ und verlangt – zehn Billionen.
Links ist eben auch relativ, und so gesehen bleibt Biden am Ende doch in der Mitte.