Außerdem vergöttert Milei seine Hunde, die er nun auch auf dem traditionellen argentinischen Präsidentenstab verewigen ließ: In einem Silberknauf sind Porträts seiner vier – von seinem verstorbenen Lieblingshund Conan geklonten – Mastiffs Murray, Milton, Robert und Lucas eingeprägt (nächster Ökonomenwitz mit Anspielung an die radikal-liberalen Wirtschaftsweisen Murray Rothbard, Milton Friedman und Robert Lucas). Laut seinem nicht autorisierten Biografen Juan Luis González kommuniziert Milei – den Gonzalez „El Loco“, den Verrückten, nennt – auch weiterhin mit dem verstorbenen Conan, ein Medium soll ihm dabei behilflich sein. Seine jüngere Schwester, die PR-Beraterin Karina Milei, bleibt trotzdem seine engste Vertraute, leitet das Präsidialamt und wird von ihrem Bruder als messianische Figur gezeichnet: „Sie ist Moses!“
Freiheit, scheißenochmal!
Javier Milei ist als Systemsprenger angetreten, der die von ihm sogenannte politische Kaste in die Schranken weisen und den Staat, der ihm als Wurzel allen Übels gilt, radikal beschneiden werde. Dafür wurde er von 56 Prozent der Bevölkerung gewählt, und dieser Ansage ist er auch treu geblieben: Gleich in seinen ersten Tagen im Amt ließ Milei per Dekret neun von 18 Ministerien schließen, öffentliche Subventionen und die Finanzierung staatlicher Medien und Forschungseinrichtungen einfrieren, Bauprojekte stoppen und Beamtengehälter kürzen. „No hay plata – Es gibt kein Geld!“, lautet ein zentraler Wahlspruch, der inzwischen auch T-Shirts und Kaffeetassen ziert.
Milei ließ den Peso um 50 Prozent abwerten und bündelte 600 Gesetzesvorhaben in einem Omnibus-Paket, das einen radikalen Staatsumbau bedeutet hätte. Damit biss die Kettensäge freilich auf Granit. Das Paket wurde mangels Mehrheit im Abgeordnetenhaus wieder zurückgezogen; zudem hat kürzlich die zweite Kammer des argentinischen Parlaments, der Senat, Mileis präsidentielle Dekrete ans Abgeordnetenhaus zurückverwiesen, das diese mit einfacher Mehrheit für ungültig erklären kann. Das erscheint derzeit nicht ausgeschlossen.
Peter Birle, der wissenschaftliche Direktor des Ibero-Amerikanischen Instituts der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, erklärt im Gespräch mit profil: „Javier Milei hat als Staatspräsident zwar weitreichende Befugnisse, aber einen Machtkampf gegen das Parlament kann er nicht gewinnen. Allerdings ist er mit einer deutlichen Mehrheit gewählt worden, und diese Mehrheit ist ein Druckmittel. Außerdem hat er eine wohlwollende Opposition unter den Konservativen, die durchaus willens sind, vielen seiner Punkte zuzustimmen. Aber eben nicht in der Radikalität, wie er das gerne möchte. Denn letztlich will dieser Mann ja nicht weniger als eine revolutionäre Neugründung Argentiniens. Und er geriert sich dabei autoritär, lehnt den Dialog ab und bezeichnet politische Gegner als Ratten. Das sind Züge, die einem schon Angst und Bange machen.“
Mileis Antrittsrede vor dem Parlament am 1. März war von – echten oder inszenierten, das scheint unklar – Wutausbrüchen durchsetzt, Parlamentarier und Provinzgouverneure wurden mehr als eine Stunde lang beschimpft und beflegelt. Und auch bei dieser Gelegenheit endete er mit den Worten, mit denen er alle seine Reden (und TikTok-Videos) beendet: „Viva la Libertad Carajo!“ Es lebe die Freiheit, scheißenocheinmal.
Die Freiheit, die er meint, ist die Freiheit von staatlichem Einfluss. Milei treibt das liberale Projekt auf die Spitze. Ganz im Geiste des österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek erklärt er sich zum Staatsfeind, bisweilen sogar zum Anarchokapitalisten, der wirklich alles, ausnahmslos, dem freien Spiel der Marktkräfte unterwerfen möchte, von der Gesundheitsversorgung über die öffentliche Infrastruktur bis hin zur Alterspension.
Loco claro
Aber wie wirkt diese Politik? Ist Mileis Programm erfolgreich, wenn man die volkswirtschaftlichen Kennzahlen betrachtet? Die Inflation hält sich in Argentinien stabil auf Weltrekordniveau (und ist im Jahresvergleich zuletzt auf über 270 Prozent gestiegen), was in Verbindung mit dem radikalen Sparprogramm tatsächlich zu einem leichten Plus im Staatshaushalt führte. Die Kosten tragen freilich all jene, die auf staatliche Sozial- und Transferleistungen angewiesen sind. Die Preise für bislang subventionierte Konsumgüter wie Strom, Gas, Treibstoff oder Bustickets haben sich teils verdreifacht, gleichzeitig wurden Pensionen, Beamtengehälter und Sozialleistungen nicht mehr an die Inflation angepasst. Der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, ist laut einer Studie der Katholischen Universität von Buenos Aires (UCA) seit Dezember von 45 Prozent auf 57,4 Prozent angestiegen.
Der Südamerika-Experte Peter Birle hält in dem Zusammenhang eine Eskalation für möglich: „Mehr als die Hälfte der Bevölkerung steht nach wie vor hinter Milei. Das ist schon erstaunlich in einer Gesellschaft, die in den vergangenen 100 Tagen einen derart massiven Einbruch erlebt hat. Vielen ist es vorher auch nicht gut gegangen, aber nun haben weite Teile der Bevölkerung innerhalb weniger Wochen die Hälfte ihrer Kaufkraft eingebüßt. Die argentinische Gesellschaft ist sozial am Anschlag, es geht wirklich ganz vielen Leuten dort sehr dreckig. Eine Zeit lang werden sie wohl versuchen, den Gürtel noch enger zu schnallen. Aber irgendwann geht sich das auch nicht mehr aus. Kommen dann Hungerrevolten? Ich weiß es nicht.“
Warum hängen trotz solcher Perspektiven immer noch so viele Menschen dem neuen Präsidenten und seiner Kettensägenpolitik an? Diese Zustimmung beruht wohl auch auf guter Vermarktung, aber doch vor allem auf einem zeitlosen argentinischen Dilemma: Man hat wirklich schon alles probiert, um aus der Krise herauszukommen, und nichts hat wirklich gefruchtet. Also probiert man es jetzt halt mit „El Loco“.
Denn tatsächlich gibt es erheblichen Reformbedarf in dem Land, das seit Jahrzehnten nicht aus seiner ökonomischen Misere herausfindet. Und tatsächlich lag es in der Vergangenheit an den politischen Entscheidungsträgern – linken wie rechten –, dass dieser Status quo erhalten blieb. Der Frust gegen „die da oben“ staut sich in Argentinien schon seit Ewigkeiten an, Milei brauchte nur den Damm anzusägen.
Volkswirtschaftlich hängt Argentinien seit dem Staatsbankrott des Jahres 2001 am Tropf des Internationalen Währungsfonds (IWF). In dieser Partie hat Javier Milei nun tatsächlich gute Karten und auch schon eine erste Kreditverlängerung erzielt, die dringend notwendig war bei einer Staatsverschuldung von deutlich über 80 Prozent des BIP und 44 Milliarden Dollar Schulden allein gegenüber dem Währungsfonds. Dieser zeigte sich zuletzt erfreut über Mileis (bei aller Spleenigkeit in der Selbstdarstellung eigentlich recht klassische) liberale „Schocktherapie“: Bürokratieabbau, Schuldenbremse, Deregulierung.
Der Präsident der deutschen Hayek-Gesellschaft, der Berliner Ökonom Stefan Kooths, nannte Milei denn auch schon einen „Glücksfall für den Liberalismus“ und einen „Leuchtturm der Freiheit“ und will ihm im Juni die Hayek-Medaille umhängen. Beim World Economic Forum im Jänner erhielt Milei – nach einer Schrecksekunde angesichts seiner auch in Davos gepflegten Unflätigkeiten – stehenden Beifall. Nachdem der Neoliberalismus in den Wirtschaftskrisen der 2000er-Jahre verglüht und in eine neue protektionistische Ära gemündet war, scheint Milei das Ruder jetzt wieder herumzureißen.
So oder so – egal!
Mileis ultraliberales Projekt ist aber nicht nur ökonomisch, sondern sehr stark auch ideologisch grundiert: So hat er die Schließung des argentinischen Frauenministeriums angeordnet, die Antidiskriminierungsbehörde INADI geschlossen, Abtreibungsgesetze verschärft, und er wettert bei jeder Gelegenheit gegen Klimaschutz und Feminismus, die aus seiner Sicht bloß ordnungspolitische Vorwände darstellten und eine überschießende Bürokratie rechtfertigen sollten. Zum Internationalen Frauentag am 8. März ließ Milei den „Ehrensaal der Frauen“ im argentinischen Regierungspalast in den „Saal der nationalen Helden“ umbenennen – und dort ausschließlich Männerporträts anbringen.
Allerdings ist Milei weltanschaulich keineswegs glattgebürstet. Dem Oberhaupt der katholischen Kirche, dem er noch im Herbst ordinäre Schmähungen ausgerichtet hatte, stattete er nach Amtsantritt rasch einen Staatsbesuch ab und erklärte Papst Franziskus zum größten Argentinier der Geschichte und leuchtenden Vorbild für sein Land. Was kümmert ihn sein Geschimpfe von gestern? Milei ist schlicht nicht zu fassen; außenpolitisch hat er sich etwa bei EX-US-Präsident Donald Trump und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán angeschmeichelt, aber zugleich ganz klar aufseiten der Ukraine positioniert. „Dahinter steckt keine homogene Weltanschauung“, meint Peter Birle vom Ibero-Amerikanischen Institut: „Er ist voll von Widersprüchen.“
Auch was seine Zukunftsperspektiven betrifft, gibt sich Milei gleichzeitig hochtrabend und bescheiden: „Wir arbeiten daran, Argentinien in den nächsten 35 Jahren zu einer Weltmacht zu machen. Der erste Teil dieser Verbesserung wird in den ersten 15 Jahren sichtbar sein.“
Wird Milei lange genug an der Macht bleiben, um diese Verbesserung noch als Präsident zu erleben? Seine Amtszeit ist auf vier Jahre begrenzt, eine einmalige Wiederwahl verfassungsgemäß möglich. Das wiederum erscheint aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich. Und würde, so gesehen, ganz gut zu ihm passen.