"Tschernobyl macht Kernenergie sicherer"
Der sowjetische Kernphysiker Waleri Legasow war als Leiter der offiziellen Untersuchungskommission sofort am Unglücksort, ordnete Maßnahmen am Reaktor an und später auch die Evakuierung der Bewohner der nahegelegenen Stadt Pripyat. Im Juni 1986 gab er profil als erstem westlichen Medium ein Interview. Die profil-Redakteure Stefan Gergely und Otmar Lahodynsky befragten ihn bei einer Energie-Tagung in Budapest zum Hergang und zu den Auswirkungen der Katastrophe.
Legasow war damals noch immer ein Anhänger der Atomenergie und glaubte daran, dass diese durch das Unglück sicherer werden könnte. Zugleich warnte er vor den für ihn gefährlicheren Energiesparten Wasserkraft und sogar Sonnenenergie.
Erst im August 1986 trat er in Wien vor der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO auf. Laut einer Dokumentation, die am Freitag im ORF lief, übten westliche Atomexperten Druck auf ihn aus, er möge die Zahl der Opfer von Tschernobyl nicht zu hoch ansetzen, um die Atomenergie nicht weltweit anzuprangern. Legasow nahm später seine Gedanken auf Tonband auf. Er beging dann am 27.4. 1988, zum 2. Jahrestag des Unglücks, Selbstmord. Boris Jelzin zeichnete ihn posthum aus.
Österreichs Regierung erlaubte den 1. Mai-Aufmarsch 1986 in Wien, obwohl laut Meteorologen radioaktiver Niederschlag erwartet wurde und auch eintraf. Man habe eine Panik in Wien befürchtet, hieß es später aus dem Kabinett von Umweltminister Franz Kreuzer.
profil: Bis heute sind die Ursachen der Atomkatastrophe von Tschernobyl unbekannt. Können Sie uns den Hergang des Unfalls schildern?
Legasow: Dieser Unfall hat mehrere Ursachen. Jede dieser Ursachen galt bis zum Unfall als undenkbar, aber dennoch ist das Undenkbare passiert. Meine Kollegen arbeiten an einem genauen Unfallbericht, der bald veröffentlicht werden wird.
profil: War menschliches Versagen Grund für die Katastrophe?
Legasow: Der menschliche Faktor spielt bei solchen Ereignissen immer eine große Rolle. Er kann auf der Ebene der Bediensteten im Reaktor, bei den Konstrukteuren des Reaktors oder beim Management liegen. Wer an dem Unfilll schuld hat, wird eine Regierungskommission herausfinden.
profil: Also ist es noch immer unklar, warum es zur Katastrophe kam.
Legasow: Wir wissen, was passierte und wie es geschah. Wir untersuchen gerade das genaue Szenario. Dafür sind aber noch verschiedene Experimente notwendig.
profil: Zum Zeitpunkt des Unglücks soll der Reaktor nur mit sieben Prozent seiner Kapazität gelaufen sein. Es gab Gerüchte, wonach damals gerade Experimente stattfanden. Um welche Tests handelte es sich dabei?
Legasow: Am Ort des Unglücks hatten wir vier laufende Reaktorblöcke. Drei arbeiteten normal, beim vierten Reaktor ging kurz vor dem Unfall gerade der Normalbetrieb zu Ende. Die Bedienungsmannschaft wollte den Reaktor ganz ausschalten, um mit der vorgeschriebenen Reparatur des Reaktors beginnen zu können.
profil: Also muß es einen Defekt gegeben haben.
Legasow: Nein. Es handelte sich um eine planmäßige Kontrolle. Als der Reaktor nur mehr zu sieben Prozent seiner Leistung lief, geschah der Unfall. Einige Tage vor dieser Abschaltung war eine Brigade Elektriker mit Kontrollen am Reaktor beschäftigt. Vielleicht meinen Sie das mit Experimenten.
profil: Westliche Nuklearexperten halten den sogenannten Wigner-Effektfiir eine mögliche Unfallursache. Dabei erhitzt sich der Graphit, indem er unter Strahlenbelastung plötzlich umkristallisiert. Diese Reaktion hat auch den Unfall im britischen Atomreaktor Windscale 1958 ausgelöst.
Legasow: Wenn Sie die Femsehansprache von Herrn Gorbatschow an das sowjetische Publikum genau studiert hätten, wäre Ihnen der Unfallhergang bekannt: Gorbatschow erklärte, dass es zu einem unerwarteten Anstieg der Energie kam, danach zu einer intensiven Verdunstung des Kühlwassers, das unter großem Druck zu einer Explosion führte, wodurch der Graphitblock zu brennen begann. Der Wigner-Effekt könnte zum Unglück beigetragen haben, aber nur als sekundäre Ursache.
profil: Messungen der Wolke über Skandinavien ergaben, dass der Abbrand der Brennstäbe sehr niedrig gewesen sein muss. Dies und die Zusammensetzung der Nuklide deuten darauf hin, dass der Reaktor nicht für Stromgewinnung, sondern für militärische Zwecke, also für die Plutoniumerzeugung, genutzt wurde.
Legasow: Diese Vermutung ist völlig falsch. Kein einziger der vier Blöcke von Tschernobyl wurde je für militärische Zwecke benützt, auch nicht für andere Zwecke als für die Stromerzeugung. Das einzig Besondere an dem einen der vier Reaktorblöcke war diese Kontrolle der Elektriker. Alles andere lief vollkommen normal. Deshalb sind alle diese Anschuldigungen haltlos.
profil: Sowjetische Reaktoren verfügen weder über ein Containment- noch über ein Notkühlsystem. Werden Sie jetzt Ihre Reaktoren nachträglich damit ausrüsten?
Legasow: Wir haben in mehreren nuklearen Anlagen solch ein Containment. Beim Reaktortyp von Tschernobyl handelt es sich um ein aufgeteiltes Containment-System. Alle jene Teile, die von den Konstrukteuren als gefährlich eingestuft wurden, wurden mit einer dicken Betonschicht bedeckt. Selbst wenn wir in Tschernobyl ein Containment gehabt hätten, wäre es durch dieses Unglück zerstört worden.
Vielleicht wäre dies für die Umwelt sogar noch gefährlicher gewesen.
profil: Wieso?
Legasow: Die bei der Explosion in die Luft geflogenen Betonteile hätten die benachbarten Reaktorblöcke beschädigen können. Die Katastrophe wäre noch schlimmer gewesen.
profil: Da haben wir also noch Glück gehabt.
Legasow: Wenn 1979, beim Unfall im US-Reaktor von Three Mile Island eine Gasexplosion unter der ContainmenthülIe passiert wäre, hätte auch dieses Containment nichts geholfen. Denn dieses bietet nur bei Defekten im Reaktor Schutz, nicht aber bei Explosionen.
profil: Warum dauerte es so lange, bis die entsprechenden Maßnahmen nach dem Unfall getroffen wurden. So sollen die Hubschrauber, die Sand und anderes Material auf den brennenden Reaktor abluden, erst nach fünf Tagen eingesetzt worden sein.
Legasow: Da müssen Sie falsche Informationen bekommen haben. Der Einsatz der Hubschrauber begann schon am 27. April, also einen Tag nach dem Unglück. Natürlich musste zuerst das Material, das vom Helikopter abgeworfen wurde, zum Unglücksort geschafft werden. Aber dann flogen die Hubschrauber volle fünf Tage lang. Wir haben die gesamte Rettungsaktion innerhalb von einer Woche abgeschlossen.
profil: Wann haben denn Sie von dem Unfall erfahren?
Legasow: Das Unglück passierte in der Nacht auf den 26. April. Ich erfuhr davon am selben Tag um neun Uhr früh. Um zwölf Uhr wurde ich informiert, dass ich Mitglied der Regierungskommission bin. Innerhalb von wenigen Stunden flog ich darauf nach Tschernobyl. Vorher wurden natürlich die Sicherheitsorgane aktiv, und zwar schon um drei Uhr früh. Dieses Unglück zeigte auch, dass es kein Land der Welt und auch kein Unternehmen gibt, das mit solchen Ereignissen fertig werden könnte. Wir bekamen viele Ratschläge zum Unglück, auch aus kapitalistischen Ländern. Wir haben sie auch gerne angenommen, aber all diese angebotenen Mittel reichten nicht für eine solche Situation aus. Da wurden uns hervorragende Materialien zur Brandbekämpfung angeboten. Aber diese Stellen hatten nur ein oder zwei Tonnen zur Verfügung, während wir 1000 gebraucht hätten.
profil: Wieviel Tonnen Material wurden denn auf den brennenden Reaktor abgeworfen?
Legasow: Mehr als 4000 Tonnen Sand, Bor, Blei, Dolomit und anderes.
profil: Warum haben Sie so viele Tage gebraucht, um Nachbarländer und westliche Staaten von der Katastrophe zu informieren?
Legasow: Schauen Sie, in der ersten Wochenhälfte nach dem Unglück waren meine Kollegen und ich voll mit dem Eindämmen des Reaktors beschäftigt. Ich weiß nicht, wer für die Information der anderen Länder zuständig war. Wir haben es mit einer höchst ungewöhnlichen Situation zu tun gehabt. Nehmen Sie zum Beispiel den Unglücksort her. Wir hätten die technischen Mittel gehabt, die Bewohner der angrenzenden Dörfer und Städte über den Unfall zu informieren. Aber was wäre dann passiert? Zehntausende Menschen wären auf die Straße gelaufen und hätten ihre Häuser verlassen, wo sie geschützt waren. Bei einer Panik wären die Leute vielleicht genau in die Richtung der am meisten verseuchten Gebiete gelaufen.
profil: Gab es überhaupt Katastrophenpläne für die Evakuierung der Bewohner?
Legasow: Die Radioaktivität in der unmittelbaren Umgebung von Tschernobyl war unterschiedlich hoch. In der am stärksten verseuchten Zone, in der auch ich gearbeitet habe, verlief die Information der Bewohner optimal. Die Evakuierung der weiter entfernt wohnenden Bevölkerung erfolgte nach der Höhe der gemessenen Radioaktivität.
profil: Wie hoch war die Radioaktivität in der Nähe von Tschernobyl?
Legasow: In der Nähe des Reaktors und auch in einigen Teilen der Stadt Prypjat lag die Strahlung zwischen 60 und 100 Milliröntgen pro Stunde, und das einige Tage lang; stellenweise wurden sogar mehr als 100 Milliröntgen gemessen (Zum Vergleich: In Österreich wurden in der Woche nach dem Unglück in Tschernobyl Werte bis zu 200 Mikroröntgen pro Stunde gemessen. Die Strahlenbelastung der Luft in der Umgebung von Tschernobyl war damit fast 1000 Mal so hoch wie in Mitteleuropa.) Nach unseren Maßnahmen zur Bewältigung des Unfalls sank die Radioaktivität in der Luft dann sehr rasch ab, vor allem wegen des reichlich vorhandenen, aber kurzlebigen Nuklids Jod 131. Gegenwänig messen wir in Prypjat noch einige Dutzend Milliröntgen pro Stunde, etwa im Bereich zwischen 5 und 40.
profil: Bei welchen Werten der Radioaktivität beginnen Sie in der Sowjetunion, die Bevölkerung zu evakuieren?
Legasow: Es gibt internationale Empfehlungen dazu mit einer großen Bandbreite. Dabei geht man nicht von den physikalischen Messwerten aus, sondern von der biologisch wirksamen Dosis. Demnach sollen Evakuierungsmaßnahmen bei einer Belastung zwischen 5 und 50 rem eingeleitet werden (Anm.: Die natürliche Radioaktivität in Österreich beträgt im Schnitt knapp 200 Millirem pro Jahr. 5 rem - die Untergrenze für ein Evakuierung - sind daher mehr als 25 Mal höher.) Wir evakuieren dort, wo ein Wert von 10 rem für die gesamte zu erwartende Belastung überschritten wird.
profil: Solange Sie nicht das Nuklid-Spektrum kennen, ist es aber schwierig, die biologische Wirksamkeit der Strahlung abzuschätzen ...
Legasow: ... 10 rem in der Summe von innerer und äußerer Belastung. Zuerst messen wir die Gammastrahlung, dann bestimmen wir das Verhältnis der radioaktiven Isotope, dann bewerten medizinische Experten diese Daten und prognostizieren die voraussichtliche Belastung. Das ist die Basis für unsere Entscheidungen.
profil: Aber dann könnte es bereits zu spät sein. Bei einer derartigen Vorgangsweise braucht man bis zu zwei Wochen, um entscheiden zu können.
Legasow: Die erste Prognose erstellten wir - für den größten anzunehmenden Schaden im Reaktor - innerhalb einer Stunde. Die Ärzte gingen nach dem Unfall ebenfalls von den pessimistischsten Annahmen aus. Wir klärten die zu evakuierenden Zonen und handelten. Später änderten wir den Radius der eigentlichen Gefahrenzone. Zuerst waren es 30 Kilometer. In einigen Gebieten mußten wir dann die Zone auf 50 Kilometer ausdehnen. Dorthaben wir auch die Massenevakuierungen eingeleitet. In weiter entfernten Gebieten, beispielsweise in der Stadt Gomei, haben wir, als Vorsichtsmaßnahme, die Kinder evakuiert.
profil: Zu welchem Zeitpunkt wurde die Stadt Prypjat evakuiert?
Legasow: Die Entscheidung zu dieser Maßnahme wurde sofort nach dem Unfall gefällt. Natürlich mussten wir zuerst abklären, auf welchen Routen und mit welchen Mitteln die Evakuierung ausgeführt werden sollte. Am 27. April haben wir Prypjat evakuiert, innerhalb von zweieinhalb Stunden. Wir haben die Bewohner in verschiedene Regionen unseres Landes gebracht.
profil: Gab es Leute, die nicht fortgehen wollten?
Legasow: Zuerst weigerten sich sehr viele. Wir hatten große Probleme, ihnen klarzumachen, dass die Evakuierung in ihrem eigenen Interesse sei. Prypjat ist heute menschenleer. Nur in angrenzenden Dörfern sind einige Bauern zurückgeblieben. Sie haben gesehen, dass Techniker und Hilfstruppen beim Reaktor arbeiteten, und wollten daher auch bleiben.
profil: Wie hoch ist zur Zeit die Konzentration an Cäsium-137 und Strontium-90 im Boden bei Prypjat?
Legasow: Ich weiß es nicht genau. Natürlich ist im Boden viel Cäsium und Strontium. Wir haben die Werte, aber ich kann mich nicht genau erinnern.
profil: Aber das sind doch die wichtigsten Werte, weil sie darüber entscheiden werden, ob in Zukunft überhaupt noch die Felder bebaut werden können ...
Legasow: Das ist richtig, in der Gefahrenzone ist die Belastung unterschiedlich. An manchen Stellen gibt es fast kein Strontium, andere Gebiete dagegen haben wir zu "geschlossenen Zonen" erklärt. Sie werden durch Zäune abgesperrt werden.
profil: Welche Radioaktivitätswerte sind dafür ausschlaggebend?
Legasow: Wir haben dafür keinen Grenzwert. Wir haben Strontium und Cäsium in unterschiedlichen Konzentrationen, und wir haben verschiedene Bodenarten. Das muss man berücksichtigen. Teilweise haben wir 0,3 Curie pro Quadratmeter gemessen. Das Strontium nimmt davon 10 bis 12 Prozent ein. Ich habe auch Zonen mit Curie pro Quadratmeter gesehen, aber nur in geringem Ausmaß (Zum Vergleich: In Mitteleuropa wurden nach Tschernobyl an einigen Stellen Werte von einigen 100 Nanocurie pro m² gemessen. Daraus lässt sich schließen, dass die Belastung des Bodens nahe Tschernobyl um bis zu 1 Million höher ist als bei uns). Zur Zeit erstellen wir eine genaue Landkarte der Region und tragen die Messwerte ein, bevor wir endgültige Maßnahmen treffen.
profil: Wie groß ist die Gesamtfläche der "geschlossenen Zonen"?
Legasow: Wir gehen zur Zeit von einem Bereich von 4500 Quadratkilometer aus. Wir wissen noch nicht genau, welcher Teil davon tatsächlich isoliert werden muss. Wahrscheinlich wird eine wesentlich geringere Fläche umzäunt werden.
profil: Was passiert mit dem kontaminierten Boden? Wird er abgetragen?
Legasow: Wir studieren zur Zeit diese Frage. Wir brauchen wahrscheinlich Container dazu.
profil: Nach Schätzungen werden die dafür notwendigen Erdarbeiten umfangreicher sein als beim Bau des Panama-Kanals.
Legasow: Ich weiß nicht, woher Sie diese Angabe haben. Ich kann das weder bestätigen noch dementieren.
profil: Aber es müssen doch riesige Mengen sein.
Legasow: Ich glaube, dass wir den Boden nicht abtragen müssen. Möglicherweise genügt es, die gefährdeten Regionen durch Zäune abzusperren und Isolierungen aus Beton zu bauen, damit das Grundwasser nicht kontaminiert wird. Vielleicht werden wir auch spezielle Gräser und Bäume einsetzen, die einzelne Elemente selektiv aufnehmen und so die Radioaktivität aus dem Boden herausbringen.
profil: Haben Sie persönlich nach dem Unglück mit dem Gedanken gespielt, man müsse aus der Kernenergie aussteigen, so wie das jetzt in manchen westlichen Staalen diskutiert wird?
Legasow: Wenn wir genug alternative Quellen der Energie hätten, wäre ich natürlich dafür. Soweit ich informiert bin - auch aus den Arbeiten meines Instituts -, wird die thermonukleare Energie (Anm.: Sowjetische Variante der Kernfusion), die Wasserstoffenergie und auch Sonnenenergie studiert. Aber jede dieser Varianten dürfte in der Praxis für die menschliche Gesundheit gefährlicher sein als die Kernspaltung.
profil: Das gilt auch nach Tschernobyl?
Legasow: Ja. Tschernobyl ist ein Desaster. Es wird eine große Rolle im politischen, emotionalen und technischen Bereich spielen. Es ist eine Tragödie, dass das passiert ist. Aber Sie können mich in Stücke schneiden: Selbst wenn ich die Macht hätte, alle Kernreaktoren in der Sowjetunion abzuschalten und stattdessen - ohne Rücksicht aur ökonomische Aspekte - Kernkraftwerke mit Öl, Kohle oder Sonnenlicht
zu betreiben, würde ich es nicht tun. Die Allernativen zur Kernenergie sind gefährlicher für die Umwelt. Es würden 100 Mal mehr Menschen an Krebs sterben als infolge des Betriebs von Atomreaktoren. Das kann durch Zahlen exakt belegt werden. Der Unfall von Tschernobyl sollte uns lehren, dass wir mit der Kernenergie genauer umgehen müssen. Ein Abschalten der Kernreaktoren würde bedeuten, dass wir weniger Energie hätten und dass wir zu einer sehr primitiven Lebensweise zurückkehren müssten. Selbst wenn wir das wollten, die Geschichte wird es uns nicht erlauben. Damme von Stauseen können mehr Schaden anrichten als ein Kernreaktor, Unfälle in chemischen Fabriken, wie beispielsweise im indischen Bhopal, ebenfalls.
profil: Tschernobyl könnte auf lange Sicht Tausende, wenn nicht Zehntausende Opfer fordern ...
Legasow: Warten wir das ab.
profil: Der US-Arzt Dr. Robert Gale schätzte, es könnten Zehntausende betroffen sein.
Legasow: Davon habe ich nichts gehört. Was ich weiß ist, dass Tausende Menschen eine erhöhte Gefahr haben zu erkranken. Wir müssen Iernen, dass die Menschheit, will sie weiter Fortschritte erzielen, nicht zwischen Öl, Kohle, Atom und Sonne wählen darf, sondern in alle diese Richtungen gehen muss, und jeweils auf einem hohen technologischen Niveau. Ich bin fast absolut sicher, dass in Anbetracht dieses Desasters die Kernenergie in Zukunft sicherer sein wird. Die Menschheit wird künftige Schocks nicht durch die Atomenergie, sondern anderswo erleben, im Bereich der Biologie, Chemie etwa.
profil: Die Katastrophe von Tschernobyl hat aber einen ganzen Kontinent betroffen.
Legasow: Ich fürchte mich vor einer Entwicklung, die die Menschheit von der Kernenergie abbringt. Da gibt es jetzt Druck genug. Dieser könnte aber die Kernenergie sicherer machen. Gleichzeitig könnten wir andere Gefahren übersehen. Die Technik ist wie eine vielköpfige Schlange. Die Kernenergie ist nur ein Kopf.
profil: Wenn diese Technik eine Schlange ist, sollten wir nicht besser darauf verzichten?
Legasow: Wenn Sie das so sehen, ja, natürlich. Aber in Wahrheit ist die Situation viel diffiziler.
profil: In Österreich haben wir uns durch eine Volksbefragung entschlossen, auf Kernenergie ganz zu verzichten. Wir haben
weltweit das einzige Kernkraft-Museum im Maßstab 1:1.
Legasow: Ich dachte, Sie wollten es in eine thermische Anlage umwandeln.
profil: Die haben wir daneben hingebaut. Unser Atomkraftwerk wird jetzt verkauft. Wollen Sie Zwentendorf kaufen?
Legasow: Wir bauen unsere Kraftwerke selbst. Aber die Österreicher sollten nachdenken: Sie haben das Kraftwerk zwar nicht geöffnet, aber Sie sind damit nicht frei von Gefahren, weil rund um Ihr Land Kraftwerke stehen. Wenn Österreich Zwentendorf eröffnet, könnten seine exzellenten Techniker damit arbeiten und dann würden sich die Österreicher vielleicht sicherer fühlen. Jetzt versuchen Sie nur, sich vor der Kernenergie zu verstecken. Sie stehen damit allein da.