Abrissparty: Ein profil-Spezial zu 30 Jahren Mauerfall
Am 9. November 1989 kurz vor 19 Uhr nahm eine kurzfristig angesetzte Pressekonferenz in der Mohrenstraße 38 in Ostberlin eine ebenso skurrile wie geschichtsträchtige Wendung. Das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski referierte in mustergültig umständlichem DDR-Technokratendeutsch ein wenige Stunden zuvor im Ministerrat verabschiedetes neues Reisegesetz. Als die allgemeine Verwirrung ihren Höhepunkt erreichte, begann Schabowski zu improvisieren: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Auf die Nachfrage eines Journalisten, wann der Beschluss in Kraft trete, stammelte der sichtlich überforderte Funktionär: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“
Mit diesem denkwürdigen Satz setzte Schabowski einen atemberaubend eigendynamischen Prozess in Gang, an dessen Ende ein knappes Jahr später, am 3. Oktober 1990, die deutsche Wiedervereinigung stand. Nach Schabowskis Ankündigung, die live in Radio und Fernsehen übertragen wurde, strömten Tausende Ostberliner zu den Grenzübergängen in der Stadt, wo sie auf weitgehend ahnungslose Armee- und Polizeieinheiten trafen, die zunächst nicht wussten, ob sie den wilden Ansturm mit Waffengewalt stoppen sollten. Das Massaker blieb aus. Im Lauf der Nacht wurden alle Kontrollposten im Stadtgebiet geöffnet; die euphorisierten Menschen konnten ungehindert in den Westen spazieren.
Die Berliner Mauer war Geschichte. 28 Jahre lang hatte sie Deutschlands größte Stadt durchschnitten, 43 Kilometer lang, 3,60 Meter hoch, 1,20 Meter breit, von schwer bewaffneten Grenztruppen auf Hunderten Wach- und Beobachtungstürmen gesichert. Sie war ein Fanal der ideologischen Unversöhnlichkeit, eine aberwitzige Ausgeburt des Kalten Krieges, ein in Stein und Beton gegossenes Monument der Menschenverachtung – vor allem aber das wuchtige, hässliche, unübersehbare Menetekel der deutschen Teilung, die 1949, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, durch die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik offiziell vollzogen wurde und der europäischen Nachkriegsgeschichte ein besonders schmerzhaftes Kapitel hinzufügte.
Komplizierter Heilungsprozess
„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Der Ausspruch des SPD-Altkanzlers Willy Brandt, halb Stoßseufzer, halb Danksagung, avancierte im Spätherbst vor 30 Jahren zum geflügelten Wort. Doch wie in der Medizin sind Heilungsprozesse nach komplizierten Frakturen auch in der Weltpolitik oft mit erheblichen Komplikationen verbunden. Der 9. November 1989 hatte nicht deshalb eine so überragende historische Bedeutung, weil die Berliner Mauer plötzlich durchlässig für den freien Personenverkehr wurde, sondern weil in dieser Nacht das Ende des real existierenden Sozialismus besiegelt wurde – zunächst in der DDR, in weiterer Folge in ganz Osteuropa. Die Mauer war sozusagen der zentrale Dominostein, der schließlich ein den halben Kontinent umspannendes Gefüge zum Einsturz brachte.
Der staatlich organisierte Kommunismus hatte sich als definitiv nicht überlebensfähig erwiesen. Die Gründe dafür waren vor allem ökonomischer Natur: In der gesamten sowjetisch dominierten Hemisphäre herrschten Mangel- und Misswirtschaft, Industrie und Bürokratie waren ebenso aufgebläht wie unproduktiv. In der Sowjetunion hatte Michail Gorbatschow, seit 1985 Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, die Zeichen der Zeit erkannt und dem Land Glasnost (Transparenz, Offenheit) und Perestroika (Umbau) verordnet. Doch das marode System konnte nicht mehr gerettet werden. Die Tragik des Reformers Gorbatschow lag darin, dass die von ihm angestoßene wirtschafts- und gesellschaftspolitische Liberalisierung die endemischen Zerfallserscheinungen nicht aufhielt, sondern vielmehr beschleunigte. Ende 1989 war die Sowjetunion zu sehr mit sich selbst beschäftigt und deshalb als traditionelle Schutzmacht zu schwach, um der DDR-Führung mit militärischem Großaufgebot beizuspringen, wie beim Volksaufstand am 17. Juni 1953. Trotzdem hielt die Einheitspartei SED bis zum Schluss in verbissener Bunkermentalität an der sozialistischen Lebenslüge fest und trieb dadurch immer mehr Menschen auf die Straßen. Dass in den großen Städten der DDR, in Leipzig und Dresden, in Magdeburg, Halle und Rostock, ab September 1989 Massenproteste, die sogenannten „Montagsdemonstrationen“, stattfinden konnten, ohne dass der Sicherheitsapparat gewaltsam einschritt, galt als untrügliches Indiz für die Kraftlosigkeit der Staatsmacht.
Kohls "Mantel der Geschichte“
Die Wiedervereinigung Deutschlands war nach dem Mauerfall noch keinesfalls ausgemachte Sache. Selbst in der alten Bundesrepublik gab es heftig widerstreitende Meinungen – der SPD-Politiker Oskar Lafontaine etwa favorisierte eine Zwei-Staaten-Lösung, bei der die DDR mit wirtschaftlicher Unterstützung der Bundesrepublik weiterbestanden hätte. Doch CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl breitete den „Mantel der Geschichte“ aus und rang den zunächst höchst skeptischen alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkrieges den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ (zwischen BRD und DDR auf der einen, Frankreich, Großbritannien, der Sowjetunion und den USA auf der anderen Seite) ab, der den Weg zur Wiedervereinigung ebnete. Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 sicherte der Koalition aus CDU/CSU und FDP eine komfortable Mehrheit und dem „Wendekanzler“ Kohl acht weitere Regierungsjahre.
Im Wahlkampf hatte er Ostdeutschland vollmundig „blühende Landschaften“ versprochen. Dabei handelte es sich entweder um einigungstrunkene Verblendung oder eine glatte Propagandalüge, denn niemand konnte ernsthaft übersehen, dass die EX-DDR weit von jeder marktwirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit entfernt war. Die mit der Privatisierung der volkseigenen Betriebe betraute Treuhandanstalt fuhr statt eines absurd optimistisch prognostizierten Gewinns von 600 Milliarden D-Mark am Ende ein Defizit von 230 Milliarden D-Mark ein. Der Westkapitalismus wurde im Nach-WendeChaos nach Heuschreckenart importiert; die Mehrzahl der „Ossis“ blieb dabei auf der Strecke. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern stieg dramatisch an; bis heute liegt die Wirtschaftsleistung Ostdeutschlands deutlich unter dem westdeutschen Standard: Kaum 30 Prozent waren es im Jahr 1990, 2018 immerhin schon 75 Prozent.
Rechtsdrall im Osten
Der auffällige politische Rechtsdrall im Osten Deutschlands hat deshalb nicht zuletzt handfeste wirtschaftliche Gründe. Dazu kommt ein fatales Systemerbe: Rechtsextremismus war in der DDR laut antifaschistischer Staatsdoktrin offiziell inexistent; umso druckvoller brach er sich nach dem Mauerfall Bahn. Im September 1991 kam es in der sächsischen Stadt Hoyerswerda zu rassistischen Ausschreitungen, in deren Verlauf ein Flüchtlingswohnheim mit Molotow-Cocktails beworfen wurde. Die Zahl rechter Gewalttaten ist in den östlichen Bundesländern proportional deutlich höher als im Westen. Die AfD verdankt ihre Existenz und Durchschlagskraft auch dem Geiste einer Ewiggestrigkeit, die in der DDR – im Unterschied zur alten BRD – niemals ernsthaft aufgearbeitet wurde.
Massiv aufgearbeitet wurden dagegen die Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Stasi war im Lauf der Jahrzehnte zu einer gigantischen innerstaatlichen Bespitzelungsmaschinerie angeschwollen, mit zuletzt 91.000 hauptamtlichen und mehr als 170.000 inoffiziellen Mitarbeitern, die bis 1989 rund 40 Millionen Karteikarten anlegten. „Gemessen an der Bevölkerungszahl entwickelte sich das Ministerium für Staatssicherheit zum wohl größten geheimpolizeilichen und geheimdienstlichen Apparat der Weltgeschichte“, resümiert der deutsche Politologe Jens Gieseke. Die obsessive Misstrauens- und Überwachungsbürokratie der SED verschonte niemanden; ihre besondere Perfidie lag darin, dass oft selbst Mitglieder ein und derselben Familie heimlich aufeinander angesetzt wurden – eine gespenstische Fortschreibung des amtlich verordneten Denunziationswesens in der NS-Diktatur. Das Stasi-Trauma brauchte nach dem Mauerfall noch einige Zeit, um sickern und entsprechend lange nachwirken zu können. Unterdessen wurde im rundum siegreichen Westen schon am nächsten Mammutprojekt gearbeitet: der neuen Weltordnung. 1992 feierte der US-Politikwissenschafter Francis Fukuyama in seinem Bestseller „Das Ende der Geschichte“ den letztgültigen Triumph des Liberalismus: Freiheit und Menschenrechte, Demokratie und Marktwirtschaft würden sich nach der Implosion des Sowjetkosmos nunmehr überall ungehindert durchsetzen. Doch Fukuyama und seine begeisterten Adepten in Politik und Wirtschaft hatten die Rechnung ohne das Einverständnis derer gemacht, die in der kapitalistischen Lebensart kein alternativloses Beglückungsprogramm sehen wollten. Im islamischen Fundamentalismus erwuchs dem saturierten Westen ein ganz anderes, ungleich weniger vertrautes Feindbild – und nicht wenige sehnen sich mittlerweile nach der guten alten bösen DDR zurück.