Abtreibungsrecht: Amerika, du kannst es besser
Am vorvergangenen Freitag wurden die USA zu einem anderen Land. Der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, hatte ein Urteil aus dem Jahr 1973 gekippt, das Frauen fast fünf Jahrzehnte lang ein äußerst liberales Abtreibungsrecht garantiert hatte. "Roe v. Wade" lautete der Spruch, der den Bundesstaaten untersagte, den Schwangerschaftsabbruch bis zur Lebensfähigkeit des Fötus – bis zur 24. Schwangerschaftswoche – zu verbieten. Indem der aktuelle Supreme Court diese Entscheidung zurücknahm, können ab sofort Bundesstaaten jegliche, auch noch so restriktive Gesetze beschließen und Abtreibung auch gänzlich verbieten.
Für die Republikaner war das ein Anlass zum Jubeln. In mehreren von ihnen regierten Staaten traten sofort Gesetze in Kraft, die Schwangerschaftsabbrüche in fast allen Fällen zu einem Verbrechen erklären (siehe Grafik).
Bereits am Freitag, unmittelbar nach Veröffentlichung der Entscheidung, schlossen Abtreibungskliniken ihre Türen, Tausende Frauen konnten ihre Termine nicht wahrnehmen und mussten gegen ihren Willen schwanger bleiben. Schwangerschaftsabbrüche werden bald im halben Land verboten sein. Rund 40 Millionen Frauen sind betroffen.
Alle Wege, das zu ändern, scheinen versperrt: Der Oberste Gerichtshof ist in seiner aktuellen Zusammensetzung eine mehrheitlich ideologisch rechts stehende Institution. Der linke Parteiflügel der Demokraten will den "zum Schurken gewordenen Supreme Court zähmen", wie es Kolumnist Jamelle Bouie in der "New York Times" fordert. Die Vorschläge reichen von einer Erweiterung des Gerichtshofs über den Entzug der Zuständigkeit bei sensiblen Fragen bis zur Amtsenthebung von Richterinnen und Richtern. Doch für US-Präsident Joe Biden – wie für die meisten seiner Parteifreunde – kommt ein Eingriff in die Strukturen der Institutionen nicht infrage.
Der Oberste Gerichtshof ist in seiner aktuellen Zusammensetzung eine mehrheitlich ideologisch rechts stehende Institution.
Auch der Versuch, ein bundesweites Abtreibungsgesetz zu beschließen, ist zum Scheitern verurteilt. Zwar eröffnet die Entscheidung des Supreme Court diese Möglichkeit, bloß reicht die knappe Mehrheit der Demokraten für ein solches Gesetz nicht aus. Ein entsprechender Gesetzesvorschlag zur Absicherung des Abtreibungsrechts scheiterte kürzlich im Senat.
In den einzelnen Bundesstaaten schließlich ist alles möglich. Demokratisch regierte Staaten beeilen sich, eine liberale Gesetzgebung abzusichern, während republikanisch dominierte Staaten Restriktionen erlassen.
Sind die USA dazu verdammt, mit Abtreibungsgesetzen zu leben, die aus längst vergangenen Zeiten stammen?
Nicht unbedingt. Ein Blick auf Umfragen zeigt: Die Entscheidung des Supreme Court spiegelt ganz und gar nicht den Willen der Bevölkerung wider.
Wie denkt die Mehrheit der Amerikaner über Abtreibung?
In den USA scheint es dieser Tage nur zwei Lager zu geben: jene Menschen, die Abtreibungen verbieten wollen, und die andere Seite, die auf das Recht körperlicher Selbstbestimmung pocht – und die Grundsatzentscheidung von 1973 zurückhaben will.
Tatsächlich ist das Meinungsbild der Amerikanerinnen und Amerikaner differenzierter. Eine Mehrheit von 61 Prozent will das Recht auf Abtreibungen behalten (siehe Grafik). Eingeschränkt sehen wollen es "nur" 37 Prozent.
Können die Abtreibungsverbote in den Bundesstaaten angesichts dieser Tendenz in der Volksmeinung überhaupt halten? Und wie wahrscheinlich ist ein bundesweites Gesetz, das Abtreibungen bis zu einer bestimmten Schwangerschaftswoche – wie in Österreich – erlaubt?
Unterschiedliche Auffassungen gibt es nämlich auch bei den Abtreibungsbefürwortern: Eine Mehrheit von ihnen findet, dass der Zeitpunkt der Abtreibung ausschlaggebend ist: Ab einem bestimmten Stadium der Schwangerschaft sollte es nicht mehr erlaubt sein, den Fötus abzutreiben.
Eine breite Mehrheit der Amerikaner will also ein vernünftiges Gesetz, vergleichbar mit der Fristenlösung in Österreich.
Warum können die Republikaner dennoch Abtreibungsverbote durchsetzen?
Die Mehrheit konservativer Richter am Supreme Court – es steht sechs zu drei – ist das folgenschwerste Erbe der Präsidentschaft von Donald Trump. In seiner Amtszeit hat er gleich drei Stellen neu besetzt. Ohne diese stramm konservativen Richter wäre es nicht zum Ende von Roe v. Wade gekommen.
Am Ende stand es fünf zu drei: Der Vorsitzende Richter John Roberts, 2005 von George W. Bush bestellt, hat sich der Mehrheitsmeinung des Supreme Court nicht angeschlossen. In seiner Urteilsbegründung schreibt Roberts, er wäre lieber für einen ausgewogeneren Kurs eingetreten. Damit meint er eine Fristenlösung bis zur 15. Schwangerschaftswoche, wie sie in Mississippi geplant war. Die alte Regelung, bis zur Lebensfähigkeit des Fötus abtreiben zu dürfen, ging auch Roberts zu weit. Doch der 67-Jährige findet, dass das Recht ungewollt Schwangeren "eine vernünftige Möglichkeit" bieten muss, Entscheidungen zu treffen.
Damit steht Roberts nicht nur bei seinen konservativen Kollegen am Gerichtshof allein da. Auch im Umfeld der Republikaner scheint er derzeit der Einzige zu sein, den die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung interessiert.
Auch zu Zeiten von Roe v. Wade in den frühen 1970er-Jahren überwogen am Supreme Court konservative Richter.
Dabei waren die Republikaner nicht immer gegen Abtreibung. Auch zu Zeiten von Roe v. Wade in den frühen 1970er-Jahren überwogen am Supreme Court konservative Richter. Sie waren, ebenso wie die Republikanische Partei, mehrheitlich pro-choice, also für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche. So seltsam das heute klingt: Das Recht auf Abtreibungen ist in erster Linie eine Folge republikanischer Politik.
In den Jahrzehnten darauf haben sich die Republikaner radikalisiert. Infolge der gesellschaftlichen Polarisierung – und um Katholiken und Evangelikale als Wähler anzuwerben – heizten die Republikaner einen regelrechten Kulturkampf an. Sie stellten vermehrt extrem konservative Kandidaten auf; liberale Republikaner wurden schrittweise an den Rand der Partei gedrängt.
Die Folge: Seit 2018 hat es im Repräsentantenhaus keinen einzigen republikanischen Abgeordneten gegeben, der sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche aussprach. Als der Abgeordnete Jeff Van Drew, damals ein ausgesprochener Abtreibungsbefürworter, im Jahr 2019 von den Demokraten zu den Republikanern überlief, wechselte er auch beim Thema Schwangerschaftsabbrüche die Seiten. "Das ist ein großer Gewinn für die Verfassung der Vereinigten Staaten und für die religiöse Freiheit", schrieb er am Tag der Urteilsverkündung auf Twitter.
Als Republikaner pro-choice zu sein, das geht sich schlicht nicht mehr aus.
Damit ist die Partei deutlich radikaler als ihre Wähler: Von ihnen wollen 38 Prozent, dass Abtreibungen in allen oder in den meisten Fällen möglich sein sollen. Sie ganz verbieten wollen lediglich 13 Prozent.
Was muss passieren, damit sich die Mehrheit, die für ein Abtreibungsgesetz ist, durchsetzt?
Den Demokraten eröffnet die umstrittene Entscheidung des Supreme Court eine Chance, Druck zu erzeugen. Sie werden das Thema Abtreibungsrechte zum Fokus der Kongresswahlen im Herbst machen. Ihren Anhängern dürfte das ein Anliegen sein: Allein am Tag der Urteilsverkündung gingen rund 20,5 Millionen Dollar an das Spendenkonto der Partei, die höchste Summe seit Jahren.
"Roe steht diesen Herbst zur Abstimmung", sagte Biden am Tag der Urteilsverkündung. Liberale müssen fürchten, dass die Republikaner – sollten sie bei den Midterm – Wahlen im November die Mehrheit im Kongress und bei den Präsidentenwahlen 2024 das Weiße Haus erobern – ein landesweites Abtreibungsverbot beschließen. Wenn man so will, ist der Fall des Grundsatzurteils die letzte Chance der Demokraten bei den Kongresswahlen: Joe Biden gilt als schwacher Präsident, der nicht geliefert hat, was er versprach, seine Zustimmungswerte sind im Keller. Ein gewaltiges Plus der Republikaner bei den Kongresswahlen galt als ausgemacht – zumindest bis jetzt.
Denn die Stimmung in der Bevölkerung spielt den Demokraten in die Hände. Wollen sie die Mehrheiten im Senat und Repräsentantenhaus gewinnen, müssen sie sich allerdings geschickt anstellen und breiter aufstellen. Es gilt, Rücksicht auf jene zu nehmen, die prinzipiell für das Recht auf Abtreibungen eintreten, aber eine Frist fordern, wie sie in Österreich existiert. Derzeit allerdings beharren sie auf der Wiedereinführung der Roe-vs.-Wade-Regelung, die eher nicht mehrheitsfähig ist.
Die Mehrheit der US-Bürgerinnen und – Bürger will in einem Land leben, in dem Frauen ungewollte Schwangerschaften auf legalem Weg beenden können.
Auf Dauer werden die Republikaner dies nicht verhindern können.