AfD-Wahlkampf in Thüringen: „Ach, Sie sind aus der Ostmark“
Von Siobhán Geets
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Der Untergang der westlichen Zivilisation ist nichts für schwache Nerven. Er bricht nicht in ferner Zukunft über uns herein, sondern findet längst statt, jetzt und hier. Wir sind in Gera, einer verschlafenen Stadt im ostdeutschen Thüringen, Marktplatz mit Renaissance-Rathaus, knapp 95.000 Einwohner, der Ortskern wirkt ausgestorben – nur heute nicht.
An diesem heißen Freitagnachmittag Mitte August zieht es die Menschen auf den Vorplatz des Kulturzentrums. Es sind Anhänger der Alternative für Deutschland (AfD), das Thüringer Amt für Verfassungsschutz stuft die Partei als „erwiesen rechtsextrem“ ein. Gekommen sind rund 600 Leute, Pensionisten, überwiegend Männer, aber auch Familien mit Kindern, Jugendliche mit strengem Seitenscheitel, Althippies mit langen Haaren, Männer in Funktionskleidung. In der flimmernden Hitze lauschen sie den Rednern auf der Bühne, zuerst den Direktkandidaten der umliegenden Wahlkreise für die bevorstehenden Landtagswahlen, danach dem Spitzenkandidaten Björn Höcke, AfD-Chef in Thüringen und zweifach verurteilt wegen der Verwendung einer Naziparole. Höcke und seine Parteifreunde sehen das Ende der Welt, wie wir sie kennen, unmittelbar bevorstehen.
Und das kommt so: Gegen das deutsche Volk ist eine nie da gewesene Verschwörung im Gang. Ausländer, die Regierung in Berlin, die „Altparteien“ und die Medien haben sich zusammengetan, um das Land und seine Kultur zu zerstören. Von „Genspritzen“ ist da die Rede (gemeint ist die Covid-Impfung), von einem bevorstehenden Bürgerkrieg, Ökodiktatur und Kriegshetze, „Massen- und Messermigration“.
Das offizielle Motto lautet „Sommer, Sonne, Remigration“, die Stimmung pendelt zwischen Angstlust und Erweckungseuphorie. Deutschland, so der Eindruck, steht vor dem Abgrund, und allein die AfD kann den Absturz verhindern.
In einem schmalen Schattenstreifen am Rande des Platzes haben sich ein paar Dutzend Pensionisten versammelt. Eine Frau fächelt sich mit einem AfD-Bierdeckel Luft zu, eine andere nutzt dafür eine Fliegenklatsche mit dem Parteiemblem. Ein älterer Herr hält eine Plakette mit der Wahlwerbung für Björn Höcke wie einen Schutzschild vor sich.
Der Osten kann Berlin erschüttern und uns alle von diesen Volksverrätern befreien!
„Wir müssen die gesamte Politiker-Elite und die Amerikaner nach Hause schicken“, sagt er. Höcke solle Ministerpräsident Thüringens werden, „aber man weiß nicht, welche Tricks sie sich ausdenken werden, wie bei Trump in Amerika“. Er selbst sei ein „Kriegskind“, er habe die DDR-Diktatur miterlebt, aber jetzt sei alles noch viel schlimmer: „Bei den Corona-Demos haben sie uns wie Hunde zusammengetrieben und Strafe kassiert.“
„Sagen Sie nicht zu viel“, zischt eine Frau, „das wird immer falsch ausgelegt von den Medien.“ Der Mann huscht zurück in den Schutz seiner Gruppe.
Der ganz normale Rechtsextremismus
In Gera feiert die AfD an diesem Freitagnachmittag Mitte August den Höhepunkt ihres Wahlkampfes in der Region. Am 1. September finden hier Landtagswahlen statt, und die AfD liegt in Umfragen mit rund 30 Prozent auf dem ersten Platz.
Das „Mainstreaming des Rechtsextremismus“, wie der Politologe Jan-Werner Müller die starke Zustimmung zu den Positionen der AfD nennt, lässt sich hier in Gera in Echtzeit beobachten.
„Der Osten kann Berlin erschüttern und uns alle von diesen Volksverrätern befreien!“, ruft der AfD-Kandidat für die Landtagswahlen Wolfgang Lauerwald von der Bühne. Und: „Für Deutschland alles!“
Jubel, die Pensionisten klatschen begeistert. „Eine andere Satzstellung“, sagt der alte Mann mit dem Höcke-Schild lachend, „das ist gut.“ Für seinen Schlachtruf „Alles für Deutschland“ bei einer Wahlkampfveranstaltung vor drei Jahren war Björn Höcke Mitte Mai zu 13.000 Euro Geldstrafe verurteilt worden. Der Satz war die Losung der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) gewesen und fällt damit unter den Straftatbestand der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen. Jetzt also „für Deutschland alles“.
Björn Höcke kann als rechtsextrem bezeichnet werden, nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts in Meiningen darf man ihn sogar einen Faschisten nennen.
Im Vergleich mit anderen Rechtsparteien ist die AfD besonders radikal – und im Osten ist sie noch einmal radikaler. Als „gesichert rechtsextremistisch“ wird sie nicht nur in Thüringen eingestuft. Gleiches gilt für die AfD in Sachsen und in Sachsen-Anhalt.
Stört das die Menschen hier in Gera, wo die AfD bei den Kommunalwahlen im Mai 35,1 Prozent der Stimmen erreichte?
An einem Biertisch sitzen Peter, Mitte 50, Tattoos und Deutschland-Shirt, und Jörg, um die 40, der mit seinem Sohn im Volksschulalter gekommen ist. Die Einstufung der AfD als rechtsextrem sei der Versuch der Regierung, Höcke etwas anzuhängen, sagt Jörg – und wiederholt damit das Narrativ der AfD, die sich als Justizopfer inszeniert und Björn Höcke als Widerstandskämpfer. Er selbst kenne niemanden, der am 1. September eine andere Partei wählen wolle, sagt Jörg: „Selbst meine türkischen Freunde sind für die AfD.“
Peter hat „die Schnauze voll“ von „Ausländern aus Arabien und Russland“ – gemeint sind Flüchtlinge aus der Ukraine – sowie von „Schwarzen, die sich aufführen wie Sau“. Abends traue man sich nicht mehr aus dem Haus, das Einkaufszentrum sei zum Bazar verkommen.
Jörg stimmt vollumfänglich zu, das Kind lasse er nicht allein auf die Straße, weil es von Migranten angepöbelt werde. Bei den Landtagswahlen will er der AfD seine Stimme geben, „damit die Kinder sicher aufwachsen und eine Zukunft haben“.
Es ist ein diffuses Angstgefühl, das sich schwer fassen lässt – und das die AfD zu kultivieren weiß.
In Gera beträgt der Anteil nichtdeutscher Bürger 13,3 Prozent (Deutschland: 15,2), die Kriminalität ist vergleichsweise niedrig. Doch zuletzt gab es einen Anstieg, im Jahr 2023 wurden in Thüringen 14.500 mehr Straftaten angezeigt als im Jahr davor. Laut dem Thüringer Innenministerium liegt das vor allem an der Zunahme von Delikten wie Diebstahl und Körperverletzung. Rund 27 Prozent der Tatverdächtigen waren demnach keine deutschen Staatsbürger. Die Behörden erklären sich den Anstieg mit den Einschränkungen während der Coronapandemie, in der es weniger Kriminalität gegeben habe.
Doch daran glaubt hier, beim Sommerfest in Gera, kaum jemand.
Deutschland befindet sich in einer Diktatur.
Auch Alex, ein Mittvierziger mit Glatze und Ziegenbart, klagt über die Gewalt durch Migranten, über Vergewaltigungen und Messerangriffe. „Deutschland befindet sich in einer Diktatur“, sagt er und nimmt einen Schluck Bier. Alex ist gebürtiger Österreicher, er lebt seit 2013 in Gera und wählt heuer das erste Mal doppelt blau: Bei den Kommunalwahlen in Thüringen hat er im Mai sein Kreuz bei der AfD gemacht, bei den Nationalratswahlen in Österreich Ende September will er für die FPÖ stimmen. Von den Rechtsparteien erwartet er die Abschiebung „Kulturfremder, die sich nicht integrieren wollen“.
Tatsächlich ist genau das der Plan. Laut offiziellem Programm will die AfD kriminelle und ausreisepflichtige Asylwerber und Migranten abschieben – was mittlerweile politischer Konsens, aber nicht leicht umzusetzen ist. Doch bei Geheimtreffen wird über die Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland diskutiert, darunter deutsche Staatsbürger mit und ohne Migrationshintergrund.
„Wohltemperierte Grausamkeit“
Eine Säuberung Deutschlands von „kulturfremden“ Menschen forderte Björn Höcke schon in seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“, erschienen im Juni 2018. Der „Bevölkerungsaustausch“ sei der „Volkstod“, schreibt er da, und die Wortwahl erinnert nicht zufällig an die Verschwörungstheorien der „Identitären“ sowie des rechtsextremen Verlegers Götz Kubitschek. Höcke hat gute Kontakte zur Neuen Rechten, und er teilt ihre radikalen Ideen.
Man wird, so fürchte ich, nicht um eine Politik der "wohltemperierten Grausamkeit" herumkommen. Existenzbedrohende Krisen erfordern außergewöhnliches Handeln.
Das „groß angelegte Remigrationsprojekt“, so Höcke in seinem Buch, sei ohne eine grundsätzliche Wende nicht machbar. Dabei werde man, „nicht um eine Politik der ‚wohltemperierten Grausamkeit‘ herumkommen“: Man werde „leider ein paar Volksteile verlieren, die zu schwach oder nicht willens sind, mitzumachen“.
Zur ethnischen kommt also die politische Säuberung noch dazu.
Doch so weit will Björn Höcke heute nicht gehen. Das Publikum johlt, als er die Bühne betritt. Rund 50 Minuten wird Höcke vor seinen Anhängern in Gera sprechen, in weißem Hemd und Jeans begrüßt er das deutsche Wahlvolk, entschuldigt sich für die Verspätung. „Gera ist mein Kraftort“, lässt er es esoterisch angehen, „es ist die Hauptstadt der freiheitsliebenden Mutbürger in Thüringen.“
„Halt die Fresse!“, schallt es von hinter der Bühne. Auf der anderen Seite der Polizeisperre hat sich eine kleine Gegendemonstration eingefunden. „Nazis raus“, rufen die Leute, und die AfD-Anhänger antworten: „Ost! Ost! Ostdeutschland!“ Ein Sicherheitsmann Höckes richtet einen Lautsprecher neben der Bühne neu aus, damit er direkt auf die Demonstranten zielt. Es kann losgehen.
Björn Höcke tut, was er am besten kann, schimpft lange über die ehemalige CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel („eine Anti-Deutsche“), über Vizekanzler Robert Habeck („ein Kinderbuchautor, der sich als Wirtschaftsminister übt“), über die CDU („transatlantische Versallen-Partei“), Auslandshilfen („60 Milliarden für Gendertoiletten in Schwarzafrika“) und die Waffenlieferungen an die Ukraine („Wir wollen deutsche Außenpolitik statt amerikanische!“).
Die „Kartellparteien“, wie Höcke seine politischen Gegner nennt, stünden hinter der „katastrophalen Einwanderungspolitik seit 2015“: „Der Grenzkollaps wird die Identität des deutschen Volkes zerstören, aus einer monokulturellen Gesellschaft wird multikulti.“
Immer wieder wird Höckes Rede durch Jubel unterbrochen. „Wir sind das Volk!“, rufen seine Anhänger, und: „AfD! AfD!“
Höcke lobt Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, auch zu Österreich hat er etwas zu sagen, betont die Gemeinsamkeiten der Völker: „Die Österreicher sind keine anderen Menschen als wir, die heißen Müller und Maier.“ Es gebe nicht viele Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich.
Wir werden die Regenbogen-Fahne einrollen, Hände weg von unseren Kindern!
Wer Höcke glaubt, der muss tatsächlich denken, es sei bald vorbei mit Deutschland. Wissenschaft und Medien seien politisch gesteuert, die Migration hätte das Land in den Abgrund geführt, das deutsche Volk sterbe aus.
Deswegen möchte er Flüchtlingen die Sozialhilfe streichen, den öffentlichen Rundfunk abschaffen, die Grenzen dichtmachen und Klimamaßnahmen beenden. Geld will er an Familien und Rentner verteilen, das „Gendergaga-Projekt“ an Schulen stoppen: „Wir werden die Regenbogen-Fahne einrollen, Hände weg von unseren Kindern!“
Auch mit der Erinnerungskultur will Höcke aufräumen. Deutschland werde zum Paria gemacht, dabei gebe es so viel Gutes und Schönes in der tausendjährigen Geschichte. „Es muss normal werden, die Glanzzeiten ins Zentrum der Erinnerung zu stellen!“, sagt der Mann, der seine Reden gerne mit Bezügen zur Sprache der Nationalsozialisten spickt.
Jubel.
Hier, bei Höckes Rede in Gera, erleben die Gedemütigten Deutschlands Auferstehung.
Sonderfall Ostdeutschland
„Der Osten macht’s“, lautet der Wahlkampfslogan der AfD in Thüringen, und das Bundesland soll laut Höcke „eine Blaupause für die Bundesrepublik werden“.
Blaupause war Thüringen schon einmal.
Im „Gau Thüringen“ begann Ende der 1920er-Jahre der Aufstieg der Nationalsozialisten. Im bürgerlich geprägten Weimar fiel die Propaganda der Nazis auf besonders fruchtbaren Boden, hier war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) nach den Landtagswahlen von 1929 zum ersten Mal an einer Landesregierung beteiligt. Im „Mustergau Thüringen“ stellte die NSDAP den ersten Minister und drei Jahre später den ersten Ministerpräsidenten. Wer sich nicht fügte, wurde aus dem Sicherheits- und Beamtenapparat entfernt, die Bevölkerung gleichgeschaltet, nationalsozialistisches Gedankengut in die Tat umgesetzt. Das Bundesland geriet zum Experimentierfeld dessen, was später in ganz Deutschland und in halb Europa stattfinden sollte.
Damals waren es der verlorene Erste Weltkrieg und der als Demütigung empfundene Friedensvertrag von Versailles, die die Menschen radikalisierten. Heute sind es Migration, die Corona-Maßnahmen und der Kampf gegen den Klimawandel.
In Thüringen ist die AfD so stark wie nirgends sonst in Deutschland. Laut Umfragen vertreten fast 20 Prozent der Wahlberechtigten rechtsextreme Einstellungen und 60 Prozent populistische. Sie sind der Meinung, dass die Herrschenden gegen die Interessen der einfachen Bevölkerung handelten. Es ist ein Narrativ, das sowohl die AfD als auch das linkspopulistische „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) bedienen. Gemeinsam dürften AfD und BSW bei den Landtagswahlen auf fast 50 Prozent der Stimmen kommen. CDU und SPD liegen zusammengenommen bei nicht einmal 30 Prozent.
Auf dem Sommerfest der AfD in Gera werden die Schatten länger. Höcke setzt zum Ende seiner Rede an, „unser Kampf für Thüringen!“, ruft er, dann wird die Nationalhymne gespielt. Im Publikum wandern die Hände an die Brust, viele singen mit. Besucher werden aufgefordert, sich „in einer schönen deutschen Schlange“ anzustellen, damit Höcke die Plastikschilder mit dem Wahlsujet signieren kann. Darauf abgebildet ist Höcke in lässiger Pose, in seiner Sonnenbrille spiegelt sich der Abschiebeflieger.
Wiederbetätigung am Infostand
Fragt man Menschen in Gera, wieso sie die AfD wählen, kommt ein Thema immer zuerst: Migration. Und danach: Armut. Es ist die größte Stärke der Partei, die beiden Themen miteinander zu verknüpfen.
Jeanette, 50, ist Pflegerin und alleinerziehende Mutter eines Sohnes im Teenageralter. Sie müsse jeden Cent umdrehen, an Urlaub im Ausland sei nicht zu denken. Gleichzeitig würden sich Familien aus der Ukraine ihr Geld abholen, ohne je eingezahlt zu haben.
Die AfD wählt Jeanette seit einem Aufenthalt bei einer Mutter-Kind-Kur im Jahr 2019. Dort hätten Kinder von Flüchtlingen ihren Sohn bedroht. Auch sie fühlt sich in Gera nicht mehr sicher, traut sich abends nicht aus dem Haus.
Dazu komme die Belastung durch hohe Steuern, sagt Jeanette, die kaputte Infrastruktur und das Gefühl, ins rechte Eck gestellt zu werden, wenn man seine Meinung sagt. Die AfD, so hofft sie, werde alles richten.
Genau das verspricht Dieter Laudenbach.
Am Samstagvormittag hat die AfD einen Infostand vor dem Stadtmuseum aufgebaut, und Laudenbach ist gekommen, um die Sorgen des Wahlvolks zu hören. Seit 2019 ist er Abgeordneter im Thüringer Landtag, ein älterer Herr mit weißblondem Haar und Brille, freundlich und zuvorkommend. Allzu radikale Ideen wird man heute nicht von ihm hören.
In Gera betreibt Laudenbach das Café „Graf Zeppelin“, es sei die „Kampfzentrale“ der Partei hier im Ort. Vor ein paar Jahren machte Laudenbach Schlagzeilen, nachdem eine Kommission des Landtags es für erwiesen angesehen hatte, dass er in den 1980er-Jahren in der DDR als Spitzel für die Stasi gearbeitet hatte. Laudenbach hat sämtliche Vorwürfe stets bestritten, und an diesem Samstagvormittag in Gera interessiert sich dafür ohnehin niemand.
Ein älterer Herr macht sich Sorgen um Wahlbetrug, eine Dame schimpft darüber, dass es jetzt noch schlimmer sei als zur Zeit der DDR-Diktatur. Damals habe ihr Arbeitsgeber ihre Telefonate belauscht, heute plane Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ein „Überwachungsministerium“. Susanne, Jahrgang 1947, wird wahrscheinlich AfD wählen.
Ihre Kinder „hat die Arbeit weggeblasen“, sie mussten sich anderswo Jobs suchen. Gera ist sichtlich überaltert, die Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. In der Gründerzeit wurde Gera durch die Textilindustrie zu einer der reichsten Städte Deutschlands, heute zeugen davon nur noch die Prachtbauten und Stadtvillen. Gera leidet unter der Schließung von Fabriken, und junge Menschen verlassen die Region, um anderswo Arbeit zu finden.
Früher gab es nichts, und Geld spielte keine Rolle. Heute gibt es alles, aber kein Geld.
„Früher gab es nichts, und Geld spielte keine Rolle“, sagt Laudenbach, „heute gibt es alles, aber kein Geld.“ In der DDR seien die sozialen Ungleichheiten nicht so drastisch gewesen, der soziale Zusammenhalt stärker. Es sind Sätze, wie sie auch von der „Linken“ oder von der SPD stammen könnten.
Gegen Mittag kommen zwei junge Männer zum Stand, Missionare einer protestantischen Bewegung. Es entsteht ein unfreiwillig komischer Dialog, bei dem beide Seiten die jeweils andere bekehren wollen: Laudenbach die Baptisten zur AfD, die Baptisten Laudenbach zu Jesus.
„Die Kinder“, sagt einer der Missionare, „lernen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, das geht doch nicht, was tut ihr für die Christen?“
„Wir kriegen den Schlüssel für die Staatskanzlei, und dann ordnen wir“, sagt Laudenbach, „wir reformieren das Schulsystem und fördern Familien.“ Deutsche Werte, christliche Werte, das sei doch ein und dasselbe. Sie einigen sich: Laudenbach liest die Bibel, die Missionare das AfD-Parteiprogramm.
Susanne, Jeanette, die Baptisten – am Infostand in Gera zeigt sich, wie divers die Wählerschaft der AfD mittlerweile ist.
Die Altparteien müssen von der Landkarte gefegt werden
Und dann kommt noch Werner, 22 Jahre alt, scharf gezogener Seitenscheitel. Er trägt ein Polo-Hemd mit dem Aufdruck „Deutsches Afrikakorps 1941/1943“, in der Hand hält er eine für den Transport von Schusswaffen geeignete Militärtasche. „Ach, Sie sind aus der Ostmark“, sagt er zu Beginn und schimpft dann über die „gleichgeschalteten Medien in der Bundesrepublik“. Was er wählt, verrät Werner nicht, und er sagt auch nicht, was in der Tasche ist. Über den Nationalsozialismus spricht er schon gar nicht, nur so viel: Seine „Vorfahren“ hätten „in Afrika gekämpft“, er selbst setze sich für die Bergung gefallener Wehrmacht-Soldaten im Ausland ein.
Er spricht von „Völkern, die sich nicht durchmischen sollten“, von „degenerierten Landsmännern“ auf der einen und „Volksidealisten“, wie er einer sei, auf der anderen Seite.
Nachdem Werner gegangen ist, gibt Laudenbach seine Erklärung für den Erfolg der AfD in Thüringen preis. Er spricht von „faschistischen Methoden“ der Regierung – und macht diese am versuchten Verbot des „Compact“-Magazins fest. Innenministerin Faeser hatte das rechtsextreme Blatt Mitte Juli verboten, doch ein Gericht in Leipzig entschied, dass das Verbot teilweise ausgesetzt werden muss – und das Heft unter Auflagen wieder erscheinen darf.
„Wir Ostdeutschen haben die Diktatur erlebt, wir erkennen deren Anfänge“, sagt Laudenbach, „deswegen ist die AfD im Osten so stark.“
Auf die Abschiebe- und Gewaltfantasien Höckes angesprochen, streiten Laudenbach und seine Leute erst einmal alles ab. Ob er das wirklich so gesagt habe, wo und wann genau. „Waren Sie dabei?“, fragt ein Wahlkämpfer – und Laudenbach beschwichtigt: „Machen Sie sich keine Sorgen, wir würden das so nicht mittragen.“
Der Rechtsextremismus in Deutschland kann auch freundlich daherkommen. In Laudenbach tritt er in der Gestalt des harmlosen alten Onkels auf, der versichert: Alles wird gut. Mit der AfD könne der Untergang gerade noch verhindert werden.
Ganz anders klingt der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner. Beim Sommerfest war er Höckes Scharfmacher, sprach von der „Zerstörung Deutschlands“ durch „Altparteien“, die „von der Landkarte gefegt werden müssen“. Auf die Frage, was mit einer Drehung der Erinnerungskultur um 180 Grad, von der Höcke gerne spricht, gemeint sei, behauptete er nach seiner Rede im Gespräch mit profil, sich an einen solchen Satz nicht erinnern zu können. „Wir haben eine 1100 Jahre lange deutsche Geschichte“, sagte Brandner, „man sollte nicht nur die schwärzesten Abgründe sehen.“ Immerhin habe es auch schöne Zeiten gegeben.
(Wahl-)Kampf um den Osten
Rund fünf Millionen Wahlberechtigte sind am 1. September bei den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen und in Sachsen aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. In beiden Bundesländern werden der AfD in Umfragen rund 30 Prozent prognostiziert. In Thüringen liegt die AfD mit Abstand auf dem ersten, in Sachsen knapp hinter der CDU auf dem zweiten Platz. Derzeit regiert in Thüringen eine Minderheitsregierung aus Linken, SPD und Grünen, Ministerpräsident ist Bodo Ramelow (Linke). Erstmals ins Parlament einziehen dürfte das heuer gegründete „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) der gleichnamigen ehemaligen Linken-Politikerin. Um ohne die AfD zu regieren, müssten sich mehrere Parteien zusammenschließen, allen voran CDU und BSW. Doch die AfD kann auch ohne Regierungsbeteiligung Einfluss üben. Als stärkste Partei dürfte sie im Landtag den Parlamentspräsidenten stellen und die Wahl des Ministerpräsidenten leiten.
Um gewählt zu werden, braucht dieser im ersten und zweiten Wahlgang eine absolute Mehrheit im Landtag. Gelingt das nicht, reicht im dritten Wahlgang die relative Mehrheit der Stimmen. So könnte die AfD am Ende Höcke zum Ministerpräsidenten wählen.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.