Satiriker Jan Böhmermann

Affäre Böhmermann: Das ABC der Meinungsfreiheit

Affäre Böhmermann: Das ABC der Meinungsfreiheit

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Ein Witz: Da verfasst ein deutscher Satiriker ein Schmähgedicht über den amtierenden türkischen Präsidenten - und daraus wird eine Staatsaffäre, die nun schon zwei Wochen lang die Agenda von Politik und Öffentlichkeit dominiert, Diplomaten auf Trab hält und Justizbehörden beschäftigt.

Irgendwie ist das alles zum Lachen, andererseits aber auch wieder nicht. Immerhin prallen in der Affäre um Jan Böhmermann und Recep Tayyip Erdogan zwei komplett konträre Konzepte aufeinander. Nach westlich-demokratischem Verständnis zählt Meinungsfreiheit weitaus mehr als das Kränkungserlebnis eines Würdenträgers. Nach dem Verständnis der türkischen Regierung ist es umgekehrt: Sie billigt einem hohen Politiker mehr Schutzwürdigkeit zu als einem einfachen Staatsbürger.

Diesen auch kulturell bedingten Widerspruch aufzuklären, obliegt nun der deutschen Justiz. Und das ist gut so.

Anfang

"Herr Erdogan, es gibt Fälle, wo man auch in Deutschland, in Mitteleuropa Sachen macht, die nicht erlaubt sind. Also es gibt Kunstfreiheit, das ist Satire, das ist Kunst und Spaß. Das ist erlaubt. Und auf der anderen Seite gibt es -wie heißt es?", fragt Jan Böhmermann am 31. März in der Sendung "Neo Magazin Royale" seinen Co-Moderator Ralf Kabelka. Der antwortet: "Schmähkritik." So beginnt die Affäre um Beleidigung, Satire und Meinungsfreiheit.

Böhmermann, Jan

TV-Moderator, Humorist, 35 Jahre alt, geboren in Bremen. Sein Vater, von Beruf Polizist, stirbt, als Jan 17 Jahre alt ist. In der Gangsta-Rap-Parodie "Ich hab Polizei" nennt sich Böhmermann "POL1Z1STEN-SOHN" und verkehrt die Bandenverherrlichung des Genres in ein Loblied auf die Uniformierten: "Heul doch, Du Hanswurst, in Deiner WhatsApp-Gruppe. Denn ich hab Polizei, beste Schlägertruppe."

Böhmermann erfindet 2005 eine Hörfunksendung mit dem Titel "Lukas' Tagebuch", in der der deutsche Nationalspieler Lukas Podolski verulkt wird. Podolski versucht, bei Gericht eine einstweilige Verfügung zu erwirken, um die Ausstrahlung der Sendung zu verhindern - und scheitert.

2009 gründet Böhmermann den Ersten Türkischen Karnevalsverein Deutschlands - auch das ein Schwindel, der ernst genommen wird und für Aufsehen sorgt.

Im selben Jahr mimt der Satiriker einen an Schweinegrippe erkrankten Patienten und täuscht mehrere TV-Sender.

Ab 2013 moderiert Böhmermann die politisch-satirische Late-Night-TV-Sendung "Neo Magazin Royale", laut Eigendefinition "Deutschlands einzige ernstzunehmende Unterhaltungsshow".

Cicero, Marcus Tullius

Politiker, Schriftsteller und Philosoph (106-43 v. Chr); war auch ein begnadeter Schmähdichter und damit, ebenso wie Catull, Sallust oder Claudian, in gewisser Weise ein Vorläufer von Jan Böhmermann. "Du Schandfleck, du Schmutz, du Kot", nennt Cicero in einer seiner sogenannten Invektiven etwa den Konsul Lucius Calpurnius Piso. Allerdings wurden die Adressaten von Schmähreden, wenn es sich dabei um Machthaber handelte, verschleiert, denn in der Kaiserzeit drohten Tod oder Verbannung.

Dieudonné, bürgerlich: Dieudonné M'Bala M'Bala

Der französische Humorist, der sich der extremen Rechten angenähert hat, musste feststellen, dass Satire entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis nicht alles darf. Nach den Terror-Anschlägen auf die Pariser Redaktion des Satire-Magazins "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt, bei denen im Jänner 2015 insgesamt 17 Menschen ums Leben gekommen waren, hatte Dieudonné auf seiner Facebook-Site den Satz "Je suis Coulibaly" ("Ich bin Coulibaly", in Anspielung auf den Solidaritäts-Slogan "Ich bin Charlie") gepostet. Amédy Coulibaly war einer der Attentäter, er hatte vier Juden und eine Polizistin getötet. Dieudonné wurde in erster Instanz zu zwei Monaten bedingter Haft verurteilt. Die Berufungsverhandlung findet im Mai statt.

Erdogan, Recep Tayyip

Der türkische Staatspräsident reagierte auf das Schmähgedicht von Jan Böhmermann ähnlich einem autoritären Souverän mit der erwarteten Unsouveränität. Auf die Frage von ZDF-Moderator Claus Kleber in der Nachrichtensendung "heute journal", weshalb sich ein Staatspräsident überhaupt um eine Satire-Sendung kümmert, antwortet Erdogans Anwalt Hubertus von Sprenger, er könne diese höchstpersönliche Frage nicht an Erdogans Stelle beantworten.

Fritzl, Josef

Zu lebenslanger Haft verurteilter Elektrotechniker aus Niederösterreich, der seine Tochter 24 Jahre in einer unterirdischen Wohnung gefangen hielt, vergewaltigte und sieben Kinder mit ihr zeugte. Wird in Böhmermanns "Schmähkritik" in eine Reihe mit Erdogan und Wolfgang Priklopil gestellt. Letzterer hatte 1998 die damals zehn Jahre alte Natascha Kampusch entführt und bis 2006 in seinem Keller eingekerkert. Einziger Österreich-Bezug der Affäre.

Gedicht

Exemplare dieser literarischen Form genießen nur noch Aufmerksamkeit, wenn sie des Antisemitismus verdächtig sind ("Was gesagt werden muss", Günter Grass, 2012) oder wenn darin Staatspräsidenten kleine Penisse angedichtet werden ("Schmähkritik", Jan Böhmermann, 2016). Der Rest der zeitgenössischen Lyrik erfreut sich wohlwollenden Desinteresses.

Hyperbel

Rhetorisches Stilmittel der Übertreibung. Staatspräsident Erdogan zugleich Homosexualität, eine Fellatio mit 100 Schafen, Sex mit Ziegen sowie Gangbangs zu unterstellen, ist so absurd, dass keiner der Vorwürfe im gesamten Text ernsthaft erhoben wird. Nur der Wille zur Schmähung bleibt bestehen. Hinweis für Autoren: Missdeutungen sind nicht auszuschließen.

Interview

Journalistische Stilform, die beim Versuch, dem Böhmermann-Gedicht weitere Metaebenen hinzuzufügen, für noch mehr Verwirrung sorgte. Unter anderem postete Kai Diekmann, Gesamtherausgeber der deutschen "Bild"-Gruppe, auf seiner Facebook-Site ein erfundenes Interview mit Böhmermann ("Ich hätte Schafe genommen, nicht Ziegen"), das von anderen Journalisten für echt gehalten und umgehend weiterverbreitet wurde. Daraufhin veröffentlichte das Satiremagazin "Titanic" ein ebenso erfundenes Interview mit Diekmann, in dem dieser unter verschiedenen Namen (etwa "Hundepimmel","Blödmann" oder "Troglodyt") auf Fragen antwortete. Die deutsche Zeitung "taz" wiederum zitierte ausführlich aus dem Gespräch und ließ dabei mehr oder weniger offen, ob es sich um einen Fake gehandelt hatte. Bei so vielen Meta-Ebenen sollte zwingend ein Aufzug vorgeschrieben sein.

Leitartikel

Die US-Zeitung "Washington Post" drückte in ihrem Editorial am Mittwoch vergangener Woche ihre Hoffnung auf eine rasche Beendigung der Strafsache Böhmermann durch die deutsche Bundesregierung aus: "Wir würden gern glauben, dass Frau Merkels Zurückweisung jeglicher Strafverfolgung von Herrn Böhmermann eine ausgemachte Sache ist." Das erwies sich als Irrtum.

Majestätsbeleidigung

Das Konzept der Majestätsbeleidigung datiert wohl nur wenige Stunden nach der Erfindung der Majestät. Was immer Könige, Zaren, Päpste als kränkend, respektlos oder gar aufrührerisch gegen ihre Person empfanden, ließen sie dank entsprechender Paragrafen verfolgen, die Verantwortlichen dafür einsperren oder auch hinrichten. Dies sollte ihre Herrschaft bewahren und gegen Kritik immunisieren, was langfristig nicht klappte. Die Majestätsbeleidigung nagte am Absolutismus, am Machtanspruch des Papstes und an der Unantastbarkeit von Franz Beckenbauer. Geschadet hat Majestätsbeleidigung im Lauf der Geschichte eigentlich nie.

NDR

Deutsche Fernsehanstalt, die Ende März in der Sendung "Extra 3" einen Protestsong nach der Melodie des Nena-Hits "Irgendwie Irgendwo Irgendwann" über Erdogan veröffentlichte ("Ein Journalist, der irgendwas verfasst, was Erdogan nicht passt, ist morgen schon im Knast") und damit ungewollt die Affäre in Gang setzte. Der türkische Präsident ging juristisch gegen den eigentlich kreuzbraven Beitrag vor und brachte Böhmermann dadurch erst auf die Idee, die Grenzen der Satire mit der "Schmähkritik" auszuloten.

Onanie

Sexualpraktik ohne Partner, die Erdogan in der "Schmähkritik" erstaunlicherweise nicht vorgeworfen wird, obwohl sie sich einwandfrei auf "Despotie" reimt.

Politik

Der Fall Erdogan versus Böhmermann zwingt die deutsche Bundesregierung zu einem juristischen Akt und damit zu einer inhaltlichen Stellungnahme. Da die Staatsanwaltschaft eine Ermächtigung der Bundesregierung benötigt, um wegen der Klage der Türkei nach Paragraf 103 tätig werden zu können, muss das Kabinett Merkel de facto gestatten oder untersagen, dass Böhmermann gerichtlich verfolgt werden kann. Am Freitag vergangener Woche erteilte die Bundesregierung die Ermächtigung - und kündigte gleichzeitig die Abschaffung des Paragrafen noch in dieser Legislaturperiode an. Dies kann als Kniefall vor Erdogan und als Verrat am europäischen Wert der Meinungsfreiheit interpretiert werden - oder als Ausdruck des Vertrauens in die eigene Justiz, die der Meinungsfreiheit am Ende durch einen Freispruch Böhmermanns zum Sieg zu verhelfen vermag.

Quiz

Welche der folgenden Personen saß wegen des Rezitierens eines Gedichts bereits in Haft?

a) Jan Böhmermann b) Recep Erdogan c) Angela Merkel

Antwort: b) 1997 rezitiert Erdogan eine nicht originalgetreue Version eines Gedichts eines pan-türkischen Aktivisten: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." Erdogan wird wegen Aufstachelung zur Gewalt zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Er sitzt vier Monate davon ab.

Repression

Der eigentliche Vorwurf an den türkischen Präsidenten Erdogan ist sein Verhalten im eigenen Land gegenüber Kritikern und Journalisten. Das türkische Strafgesetzbuch untersagt die Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" setzte 2015 die Türkei in der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 149 (von 180).

Satire

Darf natürlich nicht, wie so leicht dahingesagt wird, alles - und zwar weder in rechtlicher noch in moralischer Hinsicht. Als im Jahr 2006 Aufregung über zwölf Mohammed-Karikaturen ausbrach, die eine dänische Zeitung veröffentlicht hatte, lautete eine Einschätzung, die auch in profil vertreten wurde, folgendermaßen: Es ist prinzipiell erlaubt, Religionen und ihre Gründer lächerlich zu machen. Allerdings sollte sich Satire nicht gegen Schwächere (in diesem Fall die muslimische Minderheit in Europa) richten. Niemand wird im Fall Böhmermann/Erdogan behaupten, dass ein deutscher Satiriker mächtiger sei als ein semi-autoritär regierender türkischer Präsident. Andererseits kann sich eine längst verstorbene historische Figur wie Mohammed schwerlich persönlich beleidigt fühlen, ein lebender Mensch wie Erdogan aber sehr wohl. Ein Urteil darüber, ob er sich zurecht gekränkt fühlt, ist vor Gericht jedoch besser aufgehoben als in der Politik. Das demonstriert auch die Justiz in der Türkei immer wieder mit Freisprüchen in Verfahren gegen Erdogan-Kritiker (zumindest vorerst noch).

Türkei

Heimatland von 80 Millionen Türkinnen und Türken, die sich nach Meinung von Recep Tayyip Erdogan von Böhmermann mitbeleidigt fühlen sollen . Die Meinungen zur "Schmähkritik" gehen nach diversen Befragungen jedoch weit auseinander - von kompletter Ablehnung bis zu offener Sympathie, etwa bei vielen Kurden, die sich de facto im Kriegszustand mit der Regierung befinden. Von Erdogan-Anhängern erhielt Böhmermann offenbar Morddrohungen. Allerdings ist auch bemerkenswert, wie gelassen sich die immerhin 2,8 Millionen türkischen und türkischstämmigen Einwohner Deutschlands bislang verhalten haben: Demonstrationen, geschweige denn Ausschreitungen, blieben vorerst völlig aus.

Unterwerfungserklärung

Hat nichts -wie möglicherweise anzunehmen - mit einer Kapitulation vor Erdogan oder dem Islam im Bedeutungszusammenhang von Michel Houellebecqs Roman "Soumission" zu tun. Ist vielmehr eine wenig gebrauchte Bezeichnung für die Unterlassungserklärung, mit der sich eine Person verpflichtet, eine beanstandete Handlung in Zukunft nicht mehr vorzunehmen -im gegenständlichen Fall den Vortrag der "Schmähkritik". Böhmermann ließ vergangene Woche eine von Erdogans Anwälten gesetzte Frist zur Abgabe einer Unterlassungserklärung verstreichen, ohne dem Begehren nachzukommen.

Van Gogh, Theo

Niederländischer Regisseur, Publizist und Satiriker, der nach 9/11 mit teilweise rüder Islamkritik provozierte. Unter anderem bezeichnete er Muslime wiederholt als "Ziegenficker". Wegen seines Films "Submission" (Unterwerfung), der anhand von fünf Koran-Suren die Unterdrückung muslimischer Frauen thematisiert, erhielt Van Gogh Morddrohungen, wurde -im Gegensatz zu Böhmermann jetzt -aber nicht unter Polizeischutz gestellt. Am 2. November 2004 schoss ihn ein radikaler Islamist auf offener Straße in Amsterdam nieder und schnitt ihm die Kehle durch: Es war der erste politisch -religiös motivierte Mord an einem Künstler in der jüngeren Vergangenheit Europas.

Worst Case

Im Falle einer Verurteilung drohen Böhmermann bis zu drei Jahre Haft oder eine Geldstrafe. Ausgeschlossen ist ein solches Urteil nicht, ein Einzelfall wäre es ebenso wenig. Das deutsche Satire-Magazin "Titanic" verliert nach eigenen Angaben immer wieder Prozesse wegen Beleidigungsvorwürfen.

Xenophobie

Der Text von Böhmermanns "Schmähkritik" enthält dem Wortlaut nach sowohl rassistische als auch homophobe Passagen. "Ziegenficker" ist im islamophoben Milieu ein beliebtes Schimpfwort für Muslime. Erdogan vorzuwerfen, er sei schwul, zeugt von abschätziger Beurteilung von Homosexualität. Doch Böhmermann ist kein xenophober Rechter, der die Religion des Islam herabwürdigen oder Homosexuelle an den Pranger stellen will. Das Gedicht selbst gibt darüber keine Auskunft, allein der Kontext unterscheidet schwarzen Humor von rechter Hetze.

Zumpferl

"Kleiner als der von Erdogan / ist der Schwanz von Böhmermann". Nein, das ist keine Aussendung der türkischen Präsidialkanzlei. Es wäre aber besser gewesen als eine Klage.