Afghanische Soldaten in der Ukraine: "Wir wollen uns rächen"
„Lasst uns in die Ukraine ziehen!“, sagt Samim, ein afghanischer Ex-Soldat, in einer Sprachnachricht an die WhatsApp-Gruppe seiner Kameraden. Und: „Dort können wir uns an den Amerikanern, die uns verraten haben, rächen! Wir haben sowieso nur den Kampf gelernt und sonst nichts.“ Mehrere Dutzend Männer sind in der Gruppe aktiv. Die meisten von ihnen waren einst Soldaten bei den Kommandoeinheiten der afghanischen Armee – Spezialeinheiten, die etwa ausrücken mussten, um Gebiete von den Taliban zurückzuerobern.
Nach der Rückkehr der Radikalislamisten und dem Abzug der internationalen Truppen im Sommer 2021 wurden die rund 30.000 Soldaten der afghanischen Armee im Land zurückgelassen. Die USA hatten fast 90 Milliarden Dollar in den Aufbau der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte investiert. Doch als die Taliban die Macht übernahmen und die Regierung von Präsident Ashraf Ghani fiel, wurde nur eine Handvoll ranghoher Männer evakuiert. Etliche flüchteten in Nachbarländer wie etwa in den Iran, wo sie frustriert und verarmt ihr Dasein fristen. Eine Rückkehr nach Afghanistan kommt für Samim und seine ehemaligen Kampfgefährten nicht infrage.
In den vergangenen Wochen haben sich russische Akteure mit afghanischen Ex-Soldaten wie Samim und ihren einstigen Vorgesetzten in Verbindung gesetzt. Das Angebot: Wer wieder kämpfen will, sei herzlich willkommen, und zwar in jenen Gebieten der Ukraine, die von Russland besetzt werden. Der versprochene Sold: 3000 US-Dollar pro Monat.
Kriegspropaganda
"Der Sieg wird im Feuer geschmiedet", steht auf einem Plakat vor dem Außenministerium in Moskau. Für seinen Abnützungskrieg in der Ukraine braucht Russland dringend Soldaten.
Das Ziel: mindestens 2000 Rekruten
In Sicherheitskreisen lösen die Rekrutierungsmaßnahmen Moskaus Besorgnis aus.
Dass Samim und die anderen Kämpfer sich im Iran befinden, der mit Russland eng verbündet ist, kommt den Vertretern des russischen Militärs und der berüchtigten Gruppe Wagner gelegen. Die paramilitärische Kampftruppe, bekannt für verdeckte Operationen und hybride Kriegsführung, ist eng mit dem russischen Verteidigungsministerium und dem Geheimdienst GRU verstrickt und wird für zahlreiche Kriegsverbrechen im Nahen Osten, in Nordafrika und mittlerweile auch in der Ukraine verantwortlich gemacht. Nun rekrutiert sie ehemalige afghanische Soldaten in Ländern wie Iran und Pakistan.
Afghanischen Ex-Militärs, die sich im Iran häufig mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs über Wasser halten, bietet die Gruppe Wagner viel Geld für den Kampf in der Ukraine. Die Rekrutierung verläuft unkompliziert: Interessenten müssen ein Verbindungsbüro aufsuchen und ein Formular ausfüllen. Als Vermittler fungieren Männer, die einst selbst Teil der afghanischen Armee waren: Ex-Militärs mit höheren Rängen. Sie waren im August 2021 einer der Gründe für den Zusammenbruch des von Korruption zerfressenen afghanischen Sicherheitsapparates gewesen. Nun scheinen manche von ihnen erneut die Chance auf schnelles Geld zu wittern.
Zwei einstige Kameraden aus der Provinz Takhar hätten ihm geraten, sich bei der Gruppe zu melden, schreibt ein ehemaliger Soldat in der WhatsApp-Gruppe. Mittlerweile finden sich laut Mustafa und seinen Kameraden auf den Listen der potenziellen Rekruten mindestens 3000 Namen.
Ähnliches behauptete jüngst auch General Abdul Raouf Arghandiwal in einem Interview mit Radio „Free Europe“. Laut dem ehemaligen Anführer der Kommandoeinheiten will die Gruppe Wagner mindestens 2000 ehemalige afghanische Soldaten in zwei Phasen rekrutieren. Die iranischen Behörden stellten die Ex-Militärs vor die Wahl: Entweder sie kämpfen für Russland oder sie kehren nach Afghanistan zurück. Männern, die erfolgreich Anwerber rekrutieren, wird nicht nur ein hoher Sold versprochen, sondern auch russische Aufenthaltsdokumente. Mehrere Dutzend afghanische Kämpfer sollen den Iran bereits in Richtung Russland verlassen haben. Das Magazin „Foreign Policy“ spricht gar von 10.000 ehemaligen afghanischen Soldaten, die bald aufseiten Russlands in der Ukraine kämpfen könnten.
Putins Söldner
Ein Soldat im Zentrum der Gruppe Wagner in St. Petersburg: Kanonenfutter für Putins Krieg.
Deshalb haben viele der einstigen Kameraden das Schlachtfeld Afghanistan aufgegeben und das Land verlassen. Jetzt bereiten sie sich im Iran auf einen neuen Kampf vor. Zur Verzweiflung der Männer kommt angestauter Frust. Er richtet sich gegen jene, die die Soldaten einst ausgebildet haben: die Amerikaner.
Von den Rekruten fehlt bald jede Spur
„Viele wollen nun für Russland kämpfen. Gegen die Ukraine. Sie fühlen sich von den USA seit dem Abzug verraten und wollen es ihnen auf diese Weise heimzahlen. Dabei können viele von ihnen die Ukraine nicht einmal auf der Landkarte finden“, sagt Mustafa.
Der junge Mann ist überzeugt, dass seine einstigen Mitstreiter fernab ihrer Heimat als russisches Kanonenfutter verheizt werden sollen. Tatsächlich kommt das afghanische Militärpersonal Putin gelegen. Moskau fehlt es an Soldaten – und der Krieg in der Ukraine wird auch in Russland zunehmend unbeliebt. Die afghanischen Ex-Soldaten sind nicht nur gut ausgebildet, wichtiger ist: Während jeder gefallene Russe in seiner Heimat traurige Angehörige zurücklässt, interessiert sich für gefallene Afghanen kaum jemand. Ihre einstigen Verbündeten haben sie fallen gelassen. Die neuen Taliban-Machthaber jagen sie.
So sind die ehemaligen Verbündeten des Westens in Afghanistan zu einfachen Zielen der russischen Rekrutierungsmaschinerie geworden. Könnten die gut ausgebildeten Soldaten aus Afghanistan in der Ukraine den Unterschied machen und Moskau letztlich zum Sieg verhelfen? Oder sollen sie als Kanonenfutter an vorderster Front in einem brutalen Abnutzungskrieg verheizt werden?
Sicher ist: Sobald die Soldaten aus Afghanistan das Angebot Moskaus annehmen, verliert sich ihre Spur. Auf Samims sonst so belebtem Facebook-Profil gibt es plötzlich keine Aktivitäten mehr. Die letzten Einträge sind mehrere Wochen alt, auch über das Handy ist er nicht mehr erreichbar. Auch Mustafa hat den Kontakt zu seinen Kameraden verloren. „,Wir wollen uns rächen‘, das waren ihre letzten Worte“, sagt er.
Soldaten der afghanischen Nationalarmee (ANA) während einer Graduierungsfeier in Reesh Khoron bei Kabul.
Von Samims alten Kameraden ist lediglich Mustafa in Afghanistan geblieben. Mal hält sich der 26-Jährige in Kabul auf, mal anderswo im Land. Hauptsache, er wird von jenen, die heute regieren, nicht erkannt. Im August 2021 nahmen die militant-islamistischen Taliban die afghanische Hauptstadt nach 20 Jahren Krieg abermals ein, während der Abzug der westlichen Truppen noch in vollem Gange war.
Für Mustafa, damals Elitesoldat der afghanischen Armee, waren diese Tage eine Zäsur. Wie viele junge Männer hatte er sich dem Militär verpflichtet, das nach 2001 mithilfe der USA und ihrer Verbündeten neu aufgebaut worden war. Nachdem Mustafa die Militärakademie in Kabul mit Bravour abgeschlossen hatte, war er schnell aufgestiegen – bis er mit Anfang 20 bei den berühmten Kommandoeinheiten landete. Diese Eliteeinheiten galten als besonders effektiv im Kampf gegen die Taliban und kamen bei besonders gefährlichen Manövern zum Einsatz, etwa wenn es darum ging, Distrikte aus den Händen der Islamisten zurückzuerobern.
Taliban machen Jagd auf ehemalige Soldaten
Dass Mustafa und Samim noch am Leben sind, hat viel mit Glück zu tun. Viele ihrer Kameraden, meist junge Männer wie er, wurden im Einsatz getötet. In den letzten Tagen der afghanischen Republik verteidigten Mustafa und seine Einheit ihren Stützpunkt erfolgreich gegen die anrückenden Taliban. Erst als sie erfuhren, dass Präsident Ghani mitsamt seinem Stab das Land verlassen hatte, habe sie der Kampfgeist verlassen. „Es war vorbei“, sagt Mustafa verbittert. Doch er blieb in Afghanistan – und versteckt sich bis heute vor den Taliban.
In jenen Gebieten, in denen er mit seiner Kommandoeinheit gekämpft hat, wird weiterhin nach ihm Ausschau gehalten. Jüngst rief ihn ein unbekannter Mann an. „Wo ist Kommandant Mustafa?“, wollte er wissen. Daraufhin gab sich Mustafa für einen anderen aus, verstellte seine Stimme und erklärte sich selbst für tot.
Vieles hätte anders kommen können, sagt Mustafa heute. Er erinnert sich an Waffenstillstände zum islamischen Opferfest, an die Taliban-Kämpfer, die mit ihm und seinen Kameraden das Brot brachen. Doch der Frieden blieb aus. Die Trump-Administration unterzeichnete in Katar einen Abzugsdeal mit Taliban-Führern, während andere politische Akteure ausgeschlossen wurden. Das für viele Beobachter überraschende Appeasement gegenüber den einstigen Erzfeinden führte letztlich zum politischen und militärischen Sieg der Taliban.
Nach ihrer Rückkehr im August 2021 verkündeten die Taliban zwar eine Generalamnestie für alle ehemaligen Regierungsmitglieder sowie den gesamten Sicherheitsapparat – die Armee, die Polizei und den Geheimdienst. Doch bereits die ersten Wochen nach der Machtübernahme machten deutlich, dass sich die Extremisten nicht an ihr Wort hielten. In zahlreichen Provinzen machen die Taliban Jagd auf ehemalige Soldaten. Im Visier stehen vor allem Mitglieder der Kommandoeinheiten, die bei den Taliban besonders verhasst sind.
So wie Abdullah. Er glaubte an die Amnestie der Taliban und entschied sich, zu bleiben. Mitte Oktober wurde er von bewaffneten Männern in seiner Heimatprovinz Nangarhar aus dem Haus eines Freundes gezerrt und erschossen. Die Fotos seines Leichnams machten unter seinen einstigen Kameraden die Runde.
„Wie sollen wir den Taliban Glauben schenken, wenn täglich solche Dinge geschehen?“, fragt Mustafa. In den vergangenen Monaten teilten Hunderte von Soldaten Abdullahs Schicksal. Die Taliban-Führung weist jegliche Vorwürfe von sich und behauptet, dass die Amnestie weiterhin gelten würde. Für die Morde seien „abtrünnige Elemente“ innerhalb der Gruppierung verantwortlich – Kämpfer, über die man die Kontrolle verloren hätte und die persönliche Fehden mit den ehemaligen Soldaten ausfechten würden. Beobachter halten das für wenig glaubwürdig.
Manche der „Atalan“ (in der Sprache Paschto das Wort für „Sieger“), wie Ghanis Regierung und deren Unterstützer die Soldaten der afghanischen Armee einst nannten, dachten nach der Rückkehr der Taliban noch, dass der Kampf in Afghanistan weitergehen würde. Tatsächlich leisten etwa die Milizen der Nationalen Widerstandsfront den Taliban bis heute Widerstand, vor allem in den Regionen Pandschir und Andarab im Norden des Landes. Unter ihnen befinden sich auch ehemalige Militärs. Doch die Taliban sind mittlerweile hochgerüstet – und ein ausländischer Akteur, der ihre Gegner finanziell und logistisch unterstützen könnte, ist nicht in Sicht.