Afghanischer Ex-Außenminister Spanta über die Taliban und Norbert Hofer
Wer heute durch das Zentrum Kabuls fährt, sieht oft kilometerweit nichts als meterhohe Betonwände: sogenannte "blast walls“, die dahinterliegende Gebäude - Ministerien, Botschaften, aber auch Privathäuser - vor Bombenanschlägen schützen. Hinter einer dieser Barrieren wohnt Rangin Dadfar Spanta, ehemaliger Außenminister und mächtiger Nationaler Sicherheitsberater Afghanistans. Das Anwesen wird von schwer bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht, auf der Terrasse tippt der 62-Jährige im Schatten eines uralten Baumes seine Memoiren und lässt sich nicht dadurch stören, dass immer wieder Kampfhubschrauber im Tiefflug über seinen Garten donnern und die Teetassen vibrieren lassen.
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INTERVIEW: VERONIKA ESCHBACHER, KABUL
profil: Täglich verüben die Taliban Attentate und Angriffe. Halten Sie es für möglich, dass sie wieder die Macht in Afghanistan übernehmen? Spanta: Die Sicherheitslage hat sich zuletzt enorm verschlechtert. In den Provinzen Helmand, Laghman und Kunar, in Nangarhar und im Norden Afghanistans gibt es Kämpfe. Aber ich bin immer noch der Meinung, dass die Taliban und ihre Unterstützer in Pakistan nicht in der Lage sind, größere Städte zu übernehmen - und wenn doch, werden sie es nicht schaffen, diese lange zu halten.
profil: Um Kabul machen Sie sich also keine Sorgen? Spanta: Kabul können die Taliban auf keinen Fall besetzen. Aber in den ländlichen Gebieten haben wir im Vergleich zu den vergangenen zwei Jahren enorm viel Territorium verloren.
profil: Das klingt besorgniserregend. Spanta: In der Tat. Ich glaube zwar nicht, dass der Sturz der Regierung bevorsteht. Aber sie hat die Lage mit jedem Tag weniger unter Kontrolle und kann ihren Aufgaben immer weniger nachkommen.
profil: Woran liegt es, dass die Taliban wieder so stark geworden sind? Spanta: Daran, dass wir so viel schwächer geworden sind. Unsere Probleme sind nicht nur Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Terrorismus und Drogen. Das Problem ist auch die Regierung, die von der Bevölkerung nicht als rechtmäßig betrachtet wird. Sie ist ja auch durch keine Wahl legitimiert.
profil: Sie meinen die Umstände der Präsidentenwahl 2014. Damals gab es Vorwürfe der Wahlfälschung und eine gewisse Bürgerkriegsgefahr. Letztlich wurde der Wahlsieger Aschraf Ghani auf Druck der USA genötigt, seinen unterlegenen Konkurrenten als Ministerpräsidenten zu akzeptieren und eine Einheitsregierung zu bilden. Spanta: Uns wurde nicht erlaubt, dass der Sieger der Präsidentschaftswahl - ob er nun gut oder schlecht war - die Macht übernimmt.
profil: Dennoch: War es in dieser Situation nicht vernünftiger, eine Einheitsregierung zu bilden? Spanta: Pragmatismus ist das eine, aber wir sprechen über die Prinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie. Entweder wir akzeptieren diese mit allen einhergehenden Risiken oder nicht. Was wäre denn, wenn in ein paar Monaten in den USA Donald Trump Präsident werden sollte oder in wenigen Wochen Norbert Hofer in Österreich? Akzeptieren wir das, oder verüben wir einen Putsch? Wir dürfen unsere eigenen Spielregeln nicht zerstören.
profil: Mit der aktuellen Regierung sind Sie aber offenbar nicht zufrieden. Spanta: Es ist eine Regierung der Ja-Sager, die sich auch keine Akzeptanz durch ihre Arbeit erworben hat. Die Wirtschaftslage ist trist, die Arbeitslosigkeit steigt, die Partizipation der Bevölkerung wird geringer. Nur eine Minderheit der verschiedenen Volksgruppen fühlt sich von der Regierung vertreten. Diese versteht die Sorgen der normalen Afghanen nicht, also der Menschen in den ländlichen Gebieten, die täglich von den Taliban schikaniert und von den Amerikanern bombardiert werden.
Wir haben die internationale Gemeinschaft immer aufgefordert, uns als legitime Regierung und nicht als Vasallen zu betrachten.
profil: Was denken Sie darüber, dass nach dem offiziellen Ende der internationalen Intervention in Afghanistan weiterhin ausländische Truppen im Land sind? Spanta: Eine geringe Zahl von ausländischen Truppen für die Ausbildung der afghanischen Sicherheitsorgane ist noch immer notwendig. Sie sollten aber im Rahmen der afghanischen Gesetze und der bilateralen Vereinbarungen Präsenz zeigen und sich nicht als eine Art Oberbefehlshaber oder Besatzer benehmen. Wenn sie sich in einem gesetzesfreien Raum bewegen, sollten sie gehen.
profil: Wie unabhängig ist Afghanistan heute? Spanta: Wir haben die internationale Gemeinschaft immer aufgefordert, uns als legitime Regierung und nicht als Vasallen zu betrachten. Bevor ich Außenminister wurde, war ich jahrelang an der Uni Aachen tätig und habe dort auf Augenhöhe mit den Kollegen Gleichberechtigung und Emanzipation unterrichtet. Als ich nach Afghanistan zurückkehrte, wurde ich behandelt, als sei ich ein Hinterwäldler ohne jede Ahnung - und nicht wie ein mündiger Mensch, wie Kant sagen würde. Zweitklassige Diplomaten glaubten, mir das Völkerrecht erklären zu müssen.
profil: Während der westlichen Intervention hat sich in Afghanistan auch die Korruption extrem ausgebreitet. Wer ist dafür verantwortlich: der Westen oder Präsident Karzai, dessen Regierung Sie angehörten? Spanta: Ich habe hier keine selektive Herangehensweise. Ich sage nicht, die Ausländer sind schuld oder wir allein sind schuld. Viele Afghanen waren genauso in Korruption verwickelt wie jene ausländischen Gruppierungen, die das Geld hatten. Als wir anfingen, gegen die unzähligen privaten Sicherheitsunternehmen aus dem Westen vorzugehen, die zum Teil mächtiger geworden waren als die afghanische Polizei, bekam ich Anrufe von allen mächtigen Führern dieser Erde. Sie forderten, dass wir bei der Schließung dieser oder jener Sicherheitsfirma vorsichtig sein sollten.
profil: Und die Rolle von Karzai? Spanta: Die Toleranz von Karzai gegenüber Korruption war wirklich sehr groß. Ich habe mich immer dagegen ausgesprochen, auch öffentlich. Aber der durch die Propaganda angelsächsischer Zeitungen entstandene Eindruck, das Zentrum aller Korruption sei Karzai, ist falsch. Sie haben recht, Karzai hat es toleriert. Seine Antwort auf meine Frage, warum er das tue, war: "Weil ich keine Unterstützung habe, meine Regierung und Machtbasis ist so schwach.“ Er konnte nicht zusätzlich zu der Herausforderung durch die Taliban auch noch einen inneren Konflikt austragen. Die Korruption der heutigen Regierung ist übrigens noch schlimmer geworden; die sogenannten Anti-Korruptions-Champions sind selbst bis auf die Knochen korrupt.
Die reform-orientierten, weltlich orientierten Ansätze sind um vieles leiser geworden, stattdessen hat sich in den vergangenen acht, neun Jahren ein enorm gewaltgeladener Konservatismus entwickelt.
profil: In den 1970er-Jahren schien Afghanistan auf dem Weg zur Modernisierung zu sein. Wie sieht es heute aus? Spanta: Als ich damals Student war, wurde der Diskurs von Sozialismus, Sozialdemokratie und ähnlichen Themen bestimmt. Als ich 2003 und 2004, also nach dem Fall der Taliban, an der Uni von Kabul unterrichtete, konnten wir über alles diskutieren: Säkularismus, Frauenrechte, Gleichberechtigung. Viele kannten europäische Literatur - Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu. Heute ist das nicht mehr möglich. Erstens hat keiner eine Ahnung, zweitens gibt es auch Gegner dieser Diskussionen. Es geht nur noch um Daesh (die Terrormiliz IS, Anm.), die Taliban und andere Formen des Islamismus. Die reform-orientierten, weltlich orientierten Ansätze sind um vieles leiser geworden, stattdessen hat sich in den vergangenen acht, neun Jahren ein enorm gewaltgeladener Konservatismus entwickelt.
profil: Ist Gewalt zu einem Teil der afghanischen Kultur geworden? Spanta: Die Gewalt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so massiv ausgebreitet, dass sie bedauerlicherweise zum Normalfall geworden ist. Als ich sechs Jahre alt war, kam es in der Provinz Herat zu einem Mord. Noch Jahre später sprachen die Menschen von dieser Tragödie. Heute müssen wir eine hohe Gewalttoleranz, ja sogar Gewaltverherrlichung konstatieren.
profil: Wie konnte es dazu kommen? Spanta: Weil mit dem Einmarsch der Sowjets Traditionen und Strukturen zerstört wurden und wir diese nicht durch moderne Werte wie Humanismus und Rechtsstaatlichkeit ersetzten. Neben der Toleranz der Gewalt wurde aber auch die Toleranz gegenüber Korruption Teil unserer Kultur. In meiner Kindheit war es eine Schande, zu bestechen oder sich bestechen zu lassen. Heute schämen sich die Menschen nicht, ihre Villen und Luxusautos zur Schau zu stellen.
profil: Ist Afghanistan für Sie ein Land, in das man Flüchtlinge zurückschieben kann? Spanta: Es ist für mich schwierig, darauf objektiv zu antworten. Das liegt erstens daran, dass ich selber Flüchtling war. Hätte ich in den 1980er-Jahren nicht den Flüchtlingsstatus erhalten, hätte ich weder Deutsch lernen noch promovieren noch eine Familie gründen können. Ich wäre wohl von den Kommunisten umgebracht worden. Daher kann ich alle, die flüchten und Schutz suchen, verstehen. Ich solidarisiere mich mit ihnen emotional. Juristisch müsste ich eine andere Antwort geben: Wir haben Inseln der Sicherheit in Afghanistan, etwa in den großen Städten. Aber in vielen anderen Teilen des Landes herrscht Krieg. Ich würde jedenfalls keine Flüchtlinge in Kriegsgebiete abschieben.
Rangin Dadfar Spanta, 62, Der Sohn eines Großgrundbesitzers flüchtete vor der pro-sowjetischen Regierung in den 1980er-Jahren, promovierte als Politologe in Deutschland und lehrte dort jahrelang an der Universität Aachen. Nach dem Fall der Taliban kehrte er in seine Heimat zurück. Zwischen 2006 und 2010 war er Außenminister, danach bis 2014 nationaler Sicherheitsberater des damaligen Präsidenten Hamid Karzai, mit dem er bis heute eng zusammenarbeitet.