Ex-Abgeordnete aus Afghanistan: "Mein Herz ist gebrochen"
Es ist ein emotionales Treffen, das sich im vergangenen November in der Nähe von Athen abspielt. Küsse werden verteilt, Neuigkeiten ausgetauscht, Tränen vergossen. Noch vor wenigen Monaten waren die 28 Frauen, die sich hier in den Geschäftsräumen einer kleinen NGO versammelt haben, Abgeordnete des afghanischen Parlaments, nun sind sie Flüchtlinge. Die Taliban haben das Land übernommen, doch die Frauen wollen nicht aufgeben. Wie der britische „Guardian“ zuerst berichtete, haben sie sich nach ihrer Flucht vor den Islamisten in Griechenland wiedergefunden. Aus dem Exil wollen sie weiter für ihr Land zu kämpfen.
Shagufa Noorzai kommt aus Helmand, einer kriegsgebeutelten, äußerst konservativen Provinz im Süden Afghanistans. Als sie 2018 gewählt wurde, war sie 24 – und damit die jüngste Abgeordnete im Parlament. Noorzai war bekannt dafür, sich der Sorgen von Mädchen und Frauen anzunehmen. Sie versuchte zu helfen, schrieb den Menschen, die sich von weither meldeten, über Facebook-Messenger. Noorzai wusste: Einem Mann würden sich diese Frauen niemals anvertrauen. Ihr hingegen schon.
profil: Frau Noorzai, was hat Sie damals dazu bewogen, für das Parlament zu kandidieren?
Noorzai: Die Abgeordneten aus meiner Provinz waren Männer, die sich nicht sehr um die Anliegen von Frauen und jüngeren Menschen kümmerten. Sie waren Teil des mafiösen politischen Systems und haben den Leuten nicht vermittelt, dass sie sich zivilgesellschaftlich engagieren können. Ich wollte den Menschen zeigen, dass es auch anders geht. Ich habe schon in Helmand auf lokaler Ebene für die Menschen gearbeitet. Sie vertrauten mir, ich habe ihnen geholfen und meine Stimme für sie erhoben. Mein Vater und meine Mutter haben mich dabei unterstützt.
profil: Mit welchen Problemen haben sich die Menschen an Sie gewandt?
Noorzai: Ich habe schon vor meiner Kandidatur mit den Menschen in den Dörfern und Städten Helmands über ihre Probleme gesprochen. Sie kamen von weither, viele waren Opfer von Gewalt. Ich wollte etwas verändern, sie sahen mich als ihre Anführerin. Als ich dann für das Parlament kandidierte, war ich mit vielen Problemen konfrontiert. Das politische System war korrupt. Als ich schließlich gewählt wurde, konnte ich es nicht glauben. Ich dachte, ich träume.
profil: Mit welchen Hindernissen hatten Sie zu kämpfen?
Noorzai: Es gab Propaganda gegen meine Kandidatur und etliche Drohungen. Allen war klar, dass ich im Parlament für Grundrechte kämpfen werde. Das war vielen nicht recht. Weibliche Abgeordnete hatten viele Feinde. Als ich in mein Büro einzog, hieß es, dass die Taliban mich töten wollen. Die Sicherheitsleute haben gesagt, dass sie nicht für meine Sicherheit sorgen könnten. Viele Menschen hat das abgeschreckt. Aus Angst vor einem Attentat wollten sie nicht in meine Sprechstunden kommen. Ich
habe auch vom Islamischen Staat Drohungen erhalten. Andere haben mir Geld geboten, damit ich meine Kandidatur zurückziehe. Doch ich bin nicht des Geldes wegen ins Parlament eingezogen.
Als die Taliban im vergangenen August die afghanische Hauptstadt Kabul erobern, bricht Panik aus. Menschen verbrennen aus Angst vor den radikalen Islamisten ihre Bücher, in den Straßen stauen sich die Autos, Tausende machen sich auf den Weg zum Flughafen. Noorzai versteckt sich und verbringt die nächsten zehn Tage allein in einem Keller. Die Taliban suchen sie, dringen in das Haus ihrer Familie ein, nehmen die Autos und Waffen mit. Schließlich gelingt es der Abgeordneten, zusammen mit ihrer Mutter, der hochschwangeren Schwester und einem ihrer Brüder bis zum Flughafen vorzudringen.
Es ist der 26. August, jener Tag, an dem bei einem Selbstmordanschlag an einem der Eingangstore rund 180 Menschen sterben. Shagufa Noorzai sieht die Leichen, überall ist Blut. Sie schaffen es in einen Flieger in den Iran, dann geht es weiter nach Georgien und schließlich nach Griechenland. Dort lebt sie nun mit Mutter, Schwester und Bruder in einem Strandhotel in der Nähe von Athen.
Möglich wurde die komplexe Rettungsaktion durch ein Netzwerk unterschiedlicher Organisationen, allen voran die amerikanische NGO Mina’s List, die Tausenden Frauen und deren Familien zur Flucht verhalf.
profil: Bald nach Ihrer Ankunft in Griechenland haben Sie zusammen mit Kolleginnen beschlossen, ein Exilparlament zu gründen. Sie halten Sitzungen ab, sprechen mit Politikern, Diplomaten, NGOs. Was hat Sie dazu bewegt?
Noorzai: Ich bin Mina’s List sehr dankbar, ohne sie wäre ich wohl noch in Kabul. Kaum hier angekommen, haben wir versucht, Kolleginnen aus dem Land zu holen. Die meisten sind nun hier in Griechenland. Wir treffen uns regelmäßig und überlegen, wie wir Frauen helfen können, die in Afghanistan bleiben mussten. Sie dürfen nicht mehr in die Schule oder an die Universität, viele konnten nicht an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Die Taliban haben sie zum Verstummen gebracht. Mit unserem Exilparlament wollen wir ein Netzwerk aufbauen. Wir erheben die Stimmen, damit die internationale Gemeinschaft unsere Anliegen hört: für die Frauen und Kinder Afghanistans. Wenn ich demnächst nach Kanada ziehe, will ich eine Stiftung aufbauen, um den Frauen zu helfen. Ihre Lage ist dramatisch.
Afghanistan war auch in den 20 Jahren vor der Rückkehr der Taliban ein gefährliches Terrain für Frauen. Nach dem Ende ihrer Herrschaft 2001 durften Mädchen zwar Schulen besuchen, und die Gleichberechtigung der Geschlechter wurde in der Verfassung verankert. Frauen drängten in die Politik, sie wurden Polizistinnen und Soldatinnen, Journalistinnen und Richterinnen. Doch Frauen blieben unterdrückt. Die Rate an häuslicher Gewalt blieb hoch – und Zwangsehen eher die Regel als die Ausnahme.
Im afghanischen Parlament gab es eine Frauenquote: Im Jahr 2019 war der Anteil weiblicher Abgeordneter mit fast 30 Prozent höher als im US-Kongress (2019: 24 Prozent; österreichischer Nationalrat aktuell: 41,5).
Doch die Frauen waren den Schikanen ihrer männlichen Kollegen ausgesetzt, Zwischenrufe und Kommentare zu ihrem Aussehen an der Tagesordnung. Viele Parlamentarierinnen wurden bedroht, auf einige gab es Mordanschläge.
In der neuen Taliban-Regierung sitzen ausschließlich Männer. Frauen sind aus der Öffentlichkeit verschwunden, außer Haus dürfen sie nur verschleiert und in männlicher Begleitung. Mädchen sind von weiterbildenden Schulen ausgeschlossen, zahlreiche Frauen haben ihren Job verloren. Proteste dagegen haben die Taliban gewaltsam niedergeschlagen.
profil: Die Lage der Frauen in Afghanistan hat sich dramatisch verschlechtert. Etliche verstecken sich vor den Taliban, darunter neun weibliche Abgeordnete, die es nicht aus dem Land geschafft haben. Was erzählen diese Frauen?
Noorzai: Wir sind in großer Sorge um sie und versuchen, ihnen die Flucht zu ermöglichen, doch Griechenland will keine weiteren Visa ausstellen. Auch Richterinnen, Anwältinnen, Aktivistinnen und andere bekannte Frauen werden von den Taliban gesucht und befinden sich in Todesgefahr. Wir müssen sie aus dem Land holen. Das können wir aber nicht mit allen. Deshalb müssen wir versuchen, den anderen zu mehr Rechten zu verhelfen. Ich habe mich immer gegen die Taliban geäußert und auch die Regierung kritisiert. Ich wollte jene, die mich gewählt hatten, angemessen vertreten. Jetzt hat sich alles geändert. Ich arbeite in erster Linie für die Frauen in meinem Land. Ich will, dass sie wieder in die Schule, an die Universitäten und an ihre Arbeitsplätze zurückkehren können.
profil: Die UNO fordert 4,5 Milliarden Euro für humanitäre Hilfe, um den Menschen in Afghanistan zu helfen und Zehntausende Kinder vor dem Hungertod zu bewahren. Vergangene Woche reisten Vertreter der Taliban nach Oslo, um Diplomaten aus den USA und der EU zu treffen. Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?
Noorzai: Ich fordere sie dazu auf, humanitäre Hilfe zu leisten. Das Treffen in Oslo war wichtig, um das zu erreichen. Die Taliban wollen eine internationale Anerkennung ihrer Regierung. Die internationale Gemeinschaft muss Druck auf die Taliban ausüben, damit sie den Frauen Rechte zugestehen und sie an die Schulen und in ihre Jobs zurückkehren lassen. Frauen müssen ihre Stimmen erheben und in der Öffentlichkeit auftreten dürfen. Geschützt werden müssen auch alle, die vor der Machtübernahme der Taliban für die Regierung gearbeitet haben. Sie fürchten um ihr Leben. Die internationale Gemeinschaft kann zum Schutz dieser Menschen und zur Wiederbelebung der Menschenrechte in Afghanistan beitragen.
profil: Sie haben Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis und Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou getroffen. Sind noch andere Politiker und Diplomaten an Sie herangetreten?
Noorzai: Ja. Wir haben auch mit dem US-Botschafter in Griechenland gesprochen. Ich bin der Regierung hier sehr dankbar. Sie hat uns sehr geholfen und uns hier willkommen geheißen.
profil: In Kabul waren Sie eine hochrangige Politikerin, jeder kannte Sie. Nun sind Sie als Flüchtling in einem fremden Land von der Heimat abgeschnitten. Wie kommen Sie damit zurecht?
Noorzai: Ich hätte niemals gedacht, dass ich einmal Flüchtling sein werde. Griechenland ist ein wunderschönes Land. Früher habe ich immer gesagt: Irgendwann werde ich dorthin auf Urlaub fahren, mir Athen ansehen. Jetzt, wo ich hier bin, habe ich jede Freude verloren. Es ist eine sehr schwere Zeit für mich. Zu Hause in Afghanistan kannten und respektierten mich die Menschen. Auf dem Basar erkannten sie mich sogar, wenn ich einen Niqab trug – an den Augen. Vor Kurzem hat mich hier in Griechenland ein Afghane erkannt. Er war sehr froh, mich zu sehen, doch ich konnte das nicht erwidern. Ich bin nicht froh darüber, als Flüchtling leben zu müssen. Ich will nicht, dass mich hier jemand erkennt. Mein Herz ist gebrochen.
profil: Wie verbringen Sie Ihre Tage?
Noorzai: Die meiste Zeit bin ich zu Hause mit meiner Familie. Ich koche,
lese, ich versuche, mich zu beschäftigen. Psychisch geht es mir nicht gut. Am Nachmittag gehe ich manchmal spazieren, blicke aufs Meer hinaus. Doch nichts macht mich glücklich. Ich wünsche diese Erfahrung niemandem.
profil: Was sind Ihre größten Sorgen?
Noorzai: In Afghanistan ist die Armut das größte Problem. Unter einem Regimewechsel, wie er in Afghanistan stattgefunden hat, leiden Frauen und Kinder stets am meisten. Viele Frauen schaffen es nicht, ihre Kinder zu ernähren. Männer verkaufen ihre Kinder, um ihre Familien einen Monat lang mit Essen versorgen zu können. Sie verkaufen ihre neun- oder zehnjährigen Töchter an alte Männer – für 500 Dollar! Das schmerzt mich sehr.
Ihr afghanisches Handy hat Shagufa Noorzai noch. Immer noch melden sich jeden Tag Leute aus Helmand bei ihr. Lehrer schreiben ihr, dass sie seit Monaten kein Gehalt bekommen und nichts zu essen haben. Was soll ich tun, fragen sie, meine Töchter dürfen nicht in die Schule, wie soll ihre Zukunft aussehen? Noorzai versucht, zu trösten: Das wird schon, sagt sie dann. Doch die Menschen glauben es nicht: Nichts wird wieder gut. Wir haben alles verloren.
Sie schafft es nicht immer, das alte Handy bei sich zu tragen. Schaltet sie es ein, hört es nicht auf zu summen, oft sind in
wenigen Stunden Hunderte neue Nachrichten eingelangt. Noorzai versucht zu helfen, aber wie? Häufig weint sie. Weil sie nichts tun kann für ihre Leute. Weil die Menschen ihre Kinder verkaufen.
Shagufa Noorzai fühlt sich verantwortlich und ohnmächtig zugleich. Die Machtübernahme der Taliban, sagt sie, sei der Schwäche der Regierung zu verdanken – und der Verantwortungslosigkeit der internationalen Gemeinschaft.
profil: Während sich die in Afghanistan verbliebenen weiblichen Abgeordneten vor den Taliban verstecken, haben es alle Ihre männlichen Kollegen außer Landes geschafft. Woran liegt das?
Noorzai: Das politische System Afghanistans war wie die Mafia. Viele männliche Politiker waren korrupt und haben viel Geld gemacht. Die Frauen waren ehrlicher, sie hatten nicht mehrere Häuser im Ausland wie ihre männlichen Kollegen. Als die Taliban an jenem Sonntag nach Kabul kamen, waren die Männer bereits entkommen. Andere standen in gutem Kontakt mit den Taliban, sie hatten im Gegensatz zu den Frauen nichts zu befürchten. Etliche sind in die Türkei, die USA, nach Russland oder in den Iran geflohen.
Shagufa Noorzai wird nicht mehr lange in Griechenland bleiben. Sie plant, schon bald nach Kanada auszuwandern, ihren Business-Master abzuschließen und ein Unternehmen zu gründen. Über eine Stiftung will sie ein Netzwerk aufbauen, um Frauen in ihrer Heimat zu helfen.
Nach der Machtübernahme der Taliban haben sich die meisten internationalen Hilfsorganisationen aus Afghanistan zurückgezogen. Humanitäre Hilfe wie Nahrungsmittel und Medikamente erreichen das Land zwar noch, doch Projekte zur Unterstützung der Zivilbevölkerung gibt es kaum mehr.
Frauenhäuser mussten schließen, Bildungsinitiativen ihre Arbeit einstellen. Shagufa Noorzai will alles tun, um den in Afghanistan verbleibenden Frauen zu mehr Rechten zu verhelfen. So schmerzhaft es sein mag, eines steht fest: „Wir können nicht alle Frauen und Mädchen aus dem Land holen.“