Afghanistan: Die Taliban zeigen ihr Gesicht

Frauen dürfen arbeiten, sagen die Taliban heute. Ein profil-Interview aus dem Jahr 2000 zeigt: Das sagten sie auch damals schon.

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Alles lief sehr zivilisiert und professionell ab, als Zabihullah Mujahid am Dienstag der abgelaufenen Woche seine erste Pressekonferenz nach der Übernahme des Staates durch die Taliban abhielt. Zabihullah Mujahid ist seit 2007 der Sprecher der Taliban. Seine blutrünstigen Aussendungen, in denen er den Tod der Feinde bejubelt und die Tapferkeit der eigenen Kämpfer preist, verbreitet er auf seinem Twitter-Account, Interviews gibt er per Telefon. Doch noch nie zuvor hatte er Journalisten persönlich getroffen oder auch nur sein Gesicht gezeigt. Viele dachten, hinter dem Namen "Zabihullah Mujahid" steckten in Wahrheit mehrere Personen. Jetzt kennt man ihn, auch wenn er weder sein Alter noch seinen Wohnort oder andere persönliche Angaben preisgegeben hat.

Langsam bekommen die Taliban ein Gesicht, oder besser: mehrere Gesichter.

 

Abdul Ghani, genannt "Baradar" (Bruder); den Spitznamen hat ihm Mullah Omar verliehen, der während ihrer des ersten Emirats der Taliban das höchste Amt innehatte.

Haibatullah Akhundzada, ebenfalls aus der Gründergeneration; er ist der religiöse Anführer der Bewegung. Einer seiner Söhne starb - mit Zustimmung des Vaters - als Selbstmordattentäter.

Sirajuddin Haqqani, aus dem einflussreichen gleichnamigen Clan; er pflegt enge Beziehungen zur Terrormiliz Al Kaida.

Diese und noch ein paar weitere Männer ähnlichen Schlages regieren ab sofort das "Islamische Emirat Afghanistan", und Zabihullah Mujahid, der Pressesprecher, hat die nicht ganz einfache Aufgabe, den Eindruck zu vermitteln, es handle sich um eine ganz normale und sogar versöhnliche Regierung. "Wir haben allen verziehen, die gegen uns gekämpft haben", sagte er vor den TV-Kameras, und: "Wir möchten in Frieden leben." Auch die Frauen im Land bräuchten sich keine Sorgen zu machen, versichert der Taliban-Sprecher: Sie würden nicht diskriminiert und dürften sogar arbeiten, "Schulter an Schulter mit uns".

Nun fragt sich die ganze Welt, ob sich die Taliban des Jahres 2021 vielleicht tatsächlich von denen unterscheiden, die in den Jahren 1996 bis 2001 regierten. Haben sie im Exil in Katar und Pakistan ansatzweise Modernität erlebt und aufgesaugt? Ist ihre vorsintflutliche, aggressive Ideologie von einst einem moderaten Pragmatismus gewichen?

Um die Taliban, ihr Denken und ihre Rhetorik besser zu verstehen, hilft ein Blick zurück. Einen Mann wie Zabihullah Mujahid hatten die Taliban auch damals. Er hieß Abdul Hakim Mujahid und war so etwas wie ihr Botschafter bei den Vereinten Nationen. Sein Ziel war es, die Anerkennung der Taliban als offizielle Regierung Afghanistans bei den UN zu erreichen. Abdul Hakim Mujahid wohnte im New Yorker Stadtteil Queens, er arbeitete im Homeoffice. Die Nummer seines Festnetzanschlusses stand auf seiner Website. Für Journalisten war er erreichbar, schließlich galt es, die Islamisten international präsentabel erscheinen zu lassen.

Im August 2000 gab Abdul Hakim Mujahid profil ein telefonisches Interview.

Viele Fragen, die den Taliban heute gestellt werden, waren auch damals ein Thema - etwa, wie sie Frauen behandeln.

profil: Wirtschaftliche Härten treffen laut UNO-Berichten vor allem Frauen, weil sie gemäß Ihren Gesetzen nicht mehr arbeiten dürfen.

Abdul Hakim Mujahid: Ich glaube nicht, dass Frauen davon sehr betroffen sind. Das ist Propaganda. 99 Prozent der Frauen haben früher auch nicht gearbeitet. Sie unterstützten ihre Ehemänner in der Landwirtschaft oder in Familienbetrieben. Das können sie auch heute noch.

profil: Früher arbeiteten Frauen etwa in der Verwaltung. Das dürfen sie heute nicht mehr.

Mujahid: Ja, aber bis letztes Jahr bekamen sie trotzdem noch ihre Gehälter ausbezahlt.

profil: Aber sie mussten ihren Arbeitsplatz verlassen.

Mujahid: Ja, in manchen Bereichen. Aber Sie werden sehen, wenn Normalität einkehrt, wenn der Krieg vorüber ist, werden Frauen alle Arbeiten machen können, für die sie physisch, kulturell und intellektuell geeignet sind.

Arbeiten, für die Frauen "physisch, kulturell und intellektuell geeignet" sind, fanden sich in Afghanistan während der Taliban-Herrschaft nur wenige. Auch heute formuliert Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid eine entscheidende Einschränkung, wenn er darüber spricht, dass Frauen im Berufsleben nicht diskriminiert würden: Frauen könnten Beschäftigun gen "auf Basis unserer Regeln" ausüben. Musliminnen wären nämlich, so der Fundamentalislamist, "glücklich, im Rahmen der Scharia (des islamischen Rechts, Anmerkung) zu leben".

Die Auslegung der Scharia hat sich in den vergangenen 20 Jahren in den Augen radikaler Islamisten wohl kaum geändert, und so ist die Hoffnung, Ansätze von Frauenrechten würden im neuen Emirat Einzug halten, trügerisch.

Auch die Brutalität, mit der die Taliban ihre absurd strengen Vorschriften durchsetzen, konnte Abdul Hakim Mujahid schon im Jahr 2000 - aus seiner Sicht schlüssig - erläutern.

profil: Weil Ihr Rechtssystem von Gott offenbart wurde, werden Sie auch in Zukunft öffentliche Erschießungen und Strafamputationen durchführen?

Mujahid: Unser allmächtiger Gott befiehlt uns, dass Strafen in der Öffentlichkeit vollzogen werden. Dies dient als Lektion für alle anderen. Wenn die Öffentlichkeit nicht von den Exekutionen erfährt, wird das Verbrechen weitergehen. Warum haben Sie denn im Westen ein solches Kriminalitätsproblem? Afghanistan ist der sicherste Platz der Welt. Und auch der Exekutierte ist mental und ideologisch zufriedengestellt.

profil: Wie bitte?

Mujahid: Doch. Er weiß, dass er durch die Exekution als Unschuldiger zu Gott, dem Allmächtigen, gelangen wird.

Was in unseren Augen unmenschlich ist, rechtfertigen Taliban als gottbefohlen.

Eine der großen, bangen Fragen lautet: Wird das neue Islamische Emirat Afghanistan wieder eine Herberge für islamistische Terroristen aus aller Herren Länder? Während ihrer ersten Phase der Herrschaft war das so. Osama Bin Laden, Anführer der Al Kaida, stand seit 1999 auf der FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher, und die US-Regierung unter Präsident Bill Clinton versuchte vergeblich, die Taliban zu seiner Auslieferung zu bewegen.

Auch damals stritten die Taliban ab, irgendetwas mit Terror oder dem internationalen Dschihad zu tun zu haben:

profil: Osama bin Laden lebt immer noch in Afghanistan. Es hieß kürzlich, er würde auch die Geiselnehmer auf Jolo (Anm.: Die islamistische Terrororganisation Abu Sajaf nahm damals ausländische Touristen auf der philippinischen Insel Jolo als Geiseln) finanzieren.

Mujahid: Unsere Regierung gestattet ihm nicht, mit Ausländern in Kontakt zu treten. Er führt ein normales Leben in Afghanistan, weil er im Rest der Welt nicht sicher ist. Das ist eine humanitäre Maßnahme.

Das Interview aus dem Jahr 2000 zeigt, wie die Taliban einerseits rhetorisch verschleiern, was sie vorhaben. Wie sie unter Berufung auf göttliches Gesetz Barbarei rechtfertigen. Und wie sie ganz simpel lügen.

Und doch ist nicht auszuschließen, dass die Taliban einzelne Regeln lockern, ohne die strikte Auslegung der Scharia zu mildern. Es heißt, dass Frauen anstatt der Burka-der Ganzkörperverschleierung-den Hijab-das islamische Kopftuch-tragen müssen. Viele Afghanen und Afghaninnen befolgen jetzt schon aus Angst vor Repressionen einige der alten Regeln. So haben Ladenbesitzer Plakate von Frauen rasch übermalt oder aus den Schaufenstern entfernt.

Abdul Hakim Mujahid war übrigens der Einzige in der Führungsriege der Taliban, der die Anschläge des 11. September 2001 auf New York und Washington öffentlich verurteilte. Er verließ die Taliban 2010 und arbeitete danach für die Regierung unter Hamid Karzai.

Auch das sollte niemanden täuschen: Abdul Hakim Mujahid war als Repräsentant der Taliban freundlich und umgänglich. Ebenso wie Zabihullah Mujahid heute. Bei der Pressekonferenz verabschiedete er sich mit den Worten: "Leider haben wir nicht genug Zeit, aber danke für Ihr Kommen! Schönen Tag!"

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur