Ausland

Paradiesische Hölle: "Zeige Respekt und verhülle dich!"

ORF-Reporterin Rosa Lyon hat zwei Wochen lang Afghanistan bereist. Sie traf Frauen, die ihre Hoffnung nicht aufgeben wollen.

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Von Rosa Lyon 

Gute sechs Autostunden westlich von Kabul liegt der Nationalpark Band-e Amir. Bis vor einem Jahr war die Straße eine der gefährlichsten Routen in Afghanistan. Es gab Kämpfe, Raubüberfälle und Entführungen. Nun kontrollieren an zumindest sieben Checkpoints Taliban-Kämpfer Papiere und Passagiere. Lange, dunkle Bärte, viele eindrucksvolle Waffen und grimmige Mienen. Zögerlich kehrt der Tourismus zurück. Afghanistans Oberschicht verbringt gern einmal ein Wochenende inmitten unberührter Natur. Rot-braune, endlos wirkende Bergketten, dazwischen blaue und türkise spiegelglatte Seen-darin Schilfwälder, rundum hellgrüne Bäume-,alles mutet zu makellos an, um echt zu sein, in einem Land, das als Hölle auf Erden gilt.

Habiba war zuletzt als kleines Kind mit ihren Eltern hier. Seither hat sie diesen prächtigen Flecken Natur nicht mehr gesehen. Jetzt, mit 55 Jahren, reist sie mit ihrem Ehemann, Kindern und Enkelkindern aus Kabul an, insgesamt 16 Familienmitglieder. Sie habe so viele Regime und Regierungen erlebt, erzählt sie. Dass einige Jahre dabei waren, in denen Bildung für Frauen selbstverständlich war, dafür sei sie dankbar. Nun, seit der neuerlichen Machtergreifung durch die Taliban, würden die Freiheiten wieder weniger. Aber wie schlimm es werden wird, weiß noch niemand genau.

Touristen kehren langsam in den Nationalpark Band-e-Amir zurück.

Die schwanenförmigen Tretboote in leuchtenden Farben haben es der Religionslehrerin angetan. Habiba strahlt nach einer Runde in einem gelben Boot auf dem salzigen See. Voll Stolz spricht sie über ihre gebildeten Kinder. Eine Tochter ist Ärztin, die andere Direktorin einer Volksschule. Ihr Leben sei perfekt, meint Habiba. Ob die Taliban oder andere an der Macht seien, sei für sie persönlich einerlei.

Doch um das Wohl und um die Zukunft ihrer Kinder, vor allem ihrer Enkelkinder, mache sie sich Gedanken. Eine ihrer Töchter überlegt, Afghanistan zu verlassen, denn ab der Sekundarstufe sind die Schulen in den meisten Provinzen Afghanistans für Mädchen geschlossen. Teenagerinnen bleibt Bildung verwehrt. Den Versprechen der Regierung, die Schulen bald wieder für Mädchen zu öffnen, wollen sie gerne Glauben schenken. Doch langsam geht ihnen die Kraft aus, die Zeit läuft davon.

Unweit des Nationalparks standen in Bamyan einst bis zu 53 Meter hohe Buddha-Statuen aus der Zeit zwischen dem 3. und dem 10. Jahrhundert. Am Ende ihrer ersten Herrschaft im Jahr 2001 zerstörten sie die Taliban, weil die Darstellung menschlicher Figuren nicht in ihr radikal-islamisches Weltbild passt. Einer von ihnen ist nun Gouverneur der Provinz. Er hat das Gelände absperren lassen und verlangt Eintritt zu den imposanten Löchern im Fels, wo früher die riesigen Sandstein-Buddhas thronten. Sie fehlen wie die Freiheit der Kunst und viele andere Freiheiten.

Gleich neben der ruinierten Touristenattraktion sieht man Dutzende kleine Höhlen im Stein. Sie dienen den Ärmsten der Armen als Behausung. Fließendes Wasser gibt es nicht, Strom ebenso wenig. Täglich schleppt Umida Kanister mit Wasser den Berg hinauf, sparsam geht sie mit der Autobatterie um, die ihr den Strom für eine Glühbirne spendet. Umida ist Witwe. Seit ihr Mann vor ein paar Jahren gestorben ist, lebt sie mit ihren beiden Kindern hier. Ihr Tagesablauf habe sich durch die Taliban kaum geändert. Das Leben ihrer 13-jährigen Tochter jedoch sei auf den Kopf gestellt worden. Fereshta kann nicht mehr zur Schule gehen, und das vermisst sie schrecklich. Vor allem Mathematik habe ihr Spaß gemacht, sagt Fereshta. Ein Anflug von Lebenslust huscht über ihr Gesicht. Als sie vom Seilspringen mit ihrer Freundin in den Pausen erzählt, kämpft sie mit den Tränen.

Wo bis 2001 eine riesige Buddha-Staute stand, klafft nun ein Loch (Mitte),kleine Höhlen im Stein dienen den Ärmsten der Armen als Behausung.

Mutter und Tochter hocken nebeneinander auf dem Lehmboden, und Umida bestickt einen Polsterüberzug in traditionellem Dunkelrot. Manchmal bekommt sie Aufträge dieser Art von einer wohlhabenden Familie. Diesmal bezahlen sie 400 Afghani, umgerechnet knapp fünf Euro, für einen Monat Arbeit. Es reicht kaum zum Überleben. Ein Laib Brot kostet 20 Afghani.

Wie es weitergeht, ist Umida nicht klar. Sie hofft, dass die Taliban ihre Versprechen wahr machen, die Schulen wieder zu öffnen, und auf Gottes Gnade. Fereshta und ihre fünf Geschwister sollen es besser haben als sie, sagt Umida wie ein Gebet gen Himmel.

Verschiedene Vertreter der Taliban haben verschiedene Gründe für die geschlossenen Schulen der Sekundarstufe für Mädchen genannt. Von "Änderungen im Curriculum" war die Rede, ein andermal von "Lehrermangel". Seit Monaten heißt es, "bald" würden die Schulen wieder geöffnet. Alle wollen die Schulen wieder aufsperren, versichern mehrere hochrangige Vertreter der Taliban. Es könne nicht mehr lange dauern, bald gäbe es gute Neuigkeiten. Doch es dauert nun schon mehr als 450 Tage, seit die Schulen für Teenagerinnen geschlossen sind.

Bloß warum? Wohin soll dieser perfide Plan führen? Ist es Ideologie? Wessen Agenda ist die Bildungsverweigerung? Stellen Frauen, insbesondere gebildete Frauen, für die Taliban eine solche Bedrohung dar, dass sie sie klein, ungebildet und möglichst unsichtbar machen wollen? Oder gibt es die unsichtbare pakistanische Hand, die Afghanistan klein halten will? Und ist diese pakistanische Hand mächtig genug, um afghanische Schulen geschlossen zu halten? So lautet die These des ehemaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai. Die Taliban behaupten hingegen, das Emirat würde sich von niemandem etwas sagen lassen.

Umida hofft, dass die Taliban ihre Versprechen wahr machen, die Schulen wieder zu öffnen, und auf Gottes Gnade.
 

Ist es Taktik der Taliban, ambivalente Signale auszusenden? Fühlen sie sich quasi unbeobachtet wegen des russischen Krieges in der Ukraine? Es scheint den Vertretern der Taliban, mit denen ich gesprochen habe, klar zu sein, dass es in wenigen Jahren bereits keine zusätzlichen Ärztinnen, Pflegerinnen und Lehrerinnen mehr geben wird. Sie scheinen zu wissen, wie verrückt der Bildungsentzug ist.

Hinter vorgehaltener Hand heißt es, es gäbe zwischen der De-facto-Regierung in Kabul und der Emirats-Führung in Kandahar massive Meinungsunterschiede und wenig Kommunikation. Das letzte Wort hat in Afghanistan derzeit jedenfalls das Staatsoberhaupt des Islamischen Emirates Afghanistan, der Emir Hibatullah Akhundzada. Den Bildungsminister, der die Bildung von Mädchen öffentlich befürwortet hatte, hat er im September durch einen Kleriker aus Kandahar ersetzt.

Das Leben hat sich für die meisten Menschen radikal verändert, sagt Benazir Baktash. Sie ist Journalistin, moderiert Nachrichtensendungen und Talkshows. Eines der bekanntesten Gesichter Afghanistans. Nun muss sie es verdecken. Sie tritt öffentlich nur noch mit Gesichtsmaske auf - nicht mehr pandemiebedingt, nunmehr talibanbedingt. Benazir Baktash wollte sich gegen die neuen Vorschriften stemmen, doch den Widerstand gab sie rasch auf. Sie denke penibler nach, bevor sie etwas ausspreche, erzählt sie. Die Selbstzensur in der Redaktion sei beängstigend.

Ihr Gesicht nicht mehr zeigen zu können, sei im Vergleich gar nicht so schlimm, erklärt sie. Sehr viele Frauen dürften nicht mehr arbeiten. Eingesperrt und fremdbestimmt zu sein und keiner sinnvollen Beschäftigung nachgehen zu können, sei zur Realität vieler Frauen in Afghanistan geworden. Und das, nachdem sie knapp zwei Jahrzehnte lang beinah westliche Freiheiten gewohnt waren. 20 Jahre Bildung ließen sich nicht so einfach ausradieren, meint Benazir Baktash. Doch jeden Tag kämen neue Einschränkungen, neue Verbote hinzu. An den Universitäten müssen nicht mehr bloß irgendwelche Kopftücher, Hijabs, getragen werden, es müssen schwarze oder dunkelblaue Tücher sein-bunt ist nun verboten.

Demonstrationen sind ebenfalls untersagt. Wer teilnimmt, riskiert Gefängnisstrafen und womöglich gröberen Ärger. Dennoch wagen sich immer wieder manche auf die Straßen. Aber flott werden derlei Versammlungen aufgelöst - mit Schüssen in die Luft und Schlägen.

Sechs Millionen Menschen in Afghanistan sind einen Schritt vom Verhungern entfernt.

Philippe Kropf

World Food Programme

Frauen in Afghanistan wüssten sehr genau, dass sie an den Rand gedrängt werden sollen, aus dem Sozialleben, aus dem Straßenbild und eben auch von den Fernsehbildschirmen, so die Moderatorin Benazir Baktash. Wer aber glaubt, dass sich nur das Leben der Frauen in Afghanistan geändert habe, der irre. Alle Menschen achteten nun darauf, was sie sagten. Alle sprächen leise oder gar nicht mehr in der Öffentlichkeit. Schließlich wisse man nie, wer zuhört, so Benazir Baktash.

Wer ein Loch im Bauch hat, für den ist alles andere zweitrangig. Das drängendste Problem ist der Hunger. Laut Vereinten Nationen wissen 19 Millionen Menschen in Afghanistan derzeit nicht, wo sie das nächste Essen herbekommen sollen. Sechs Millionen von ihnen seien einen Schritt vom Verhungern entfernt, sagt Philippe Kropf vom World Food Programme. Dabei gäbe es im Grunde genug Nahrung für alle. Bloß Geld dafür haben die wenigsten. Die Wirtschaft ist komplett in sich zusammengefallen, als die internationalen Truppen abgezogen sind und die Gelder aus dem Ausland gestoppt wurden. Bis vor einem Jahr hat der Großteil der Wirtschaft aus internationalen Hilfen bestanden. Nun ist Afghanistan isoliert, vom internationalen Zahlungssystem abgeschnitten, auch die Reserven sind eingefroren. Es gibt kaum bezahlte

Rosa Lyon im Gespräch mit dem stellvertretenden afghanischen Wirtschaftsminister Abdul Latif Nazari

Arbeit. Das wenige Geld, das den Menschen noch bleibt, reicht für immer weniger Essen, sagt Philippe Kropf, denn auch in Afghanistan sind die Preise für Lebensmittel gewaltig gestiegen. Außerdem fehlen Kühlhäuser. Obst und Gemüse bleibt daher nicht lange frisch. Abdul Latif Nazari wirkt zuversichtlich. Das Büro des Vize-Wirtschaftsministers ist groß, man könnte darin wohnen. Er bewegt sich langsam, spricht mit Bedacht. Afghanistan sei reich an Bodenschätzen, erklärt Abdul Latif Nazari, an Kohle, Gold, Lithium, an Edelsteinen und sauberem Wasser. Daran seien die Nachbarn Iran und Pakistan interessiert, aber auch Russland, die Türkei und China. Auch an Obst und Gemüse aus Afghanistan sei die Nachfrage groß. Russland wolle afghanische Paradeiser - die seien besser als die türkischen.

Nun gehe es darum, eine Wirtschaft aufzubauen, die nicht ausschließlich auf Hilfe von außen angewiesen ist. Dazu müsse Afghanistan seine strategische Lage nutzen - als Transitland.

Und so wird die 450 Kilometer lange Autobahn von Kabul nach Kandahar gerade neu errichtet. 2003 wurde sie mit finanzieller Unterstützung der USA gebaut und war während der Präsenz von US-geführten Streitkräften auch durch die Taliban schwer beschädigt worden. Diesmal entstehe die Straße gänzlich ohne ausländische Finanzierung-das sei beispiellos in der modernen Geschichte Afghanistans.

Auf meine Frage nach dem Hunger bekomme ich keine Antwort. Stattdessen preist der Wirtschaftsminister den "economic plan" wiederholt an. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum sei bereits geschaffen, so Abdul Latif Nazari: Afghanistan sei deutlich sicherer geworden.

In der Tat gibt es keine Gefechte mehr. Der Krieg ist vorbei. Doch die Abwesenheit von Krieg macht noch keinen Frieden.

Was ist das für ein Leben, wenn alle Freiheit genommen wird? Am vergangenen Sonntag zerstört Emir Hibatullah Akhundzada alle Hoffnungen, dass die radikal-islamistische Herrschaft Milde walten lassen könnte. Er lässt den Sprecher der Regierung verkünden, dass die Scharia - das islamische Recht - wie schon während der ersten Regierungszeit der Taliban in ihrer brutalsten Form praktiziert werden müsse. Das bedeutet öffentliche Exekutionen, Auspeitschungen, Amputationen als Strafen für Diebstahl.

Zugleich gaben die Taliban bekannt, dass Frauen ab sofort keinen Zutritt zu Vergnügungsparks, Turnsälen und öffentlichen Bädern haben. Bisher durften sie hinein, wenn sie sich an die Regel hielten, die auf einem Schild am Eingang stand: "Liebe Mama, liebe Schwester, zeige Respekt und verhülle dich!" Jetzt ist auch damit Schluss im Afghanistan des Jahres 2022.

Rosa Lyon, Jahrgang 1979, ist ORF-Journalistin und-Moderatorin. Die gebürtige Steirerin ist seit 2010 Teil der "Zeit im Bild"-Redaktion, moderiert die Früh- und Mittags-"ZIB" und führt mitunter durch das Wirtschaftsmagazin "Eco". Für die "ZIB" und eine "Kreuz und Quer" - Dokumentation verbrachte sie zwei Wochen in Afghanistan.