Unter Islamisten: Wo sich in Aleppo Kurden verstecken
Der Fall von Aleppo dauerte nur drei Tage. Die syrische Millionenmetropole war eine der ersten Städte, die Anfang Dezember an die Rebellen fiel. Die Truppen des mittlerweile gestürzten und nach Moskau geflohenen Diktators Baschar Al-Assad kollabierten förmlich.
„Sie flohen wie Ratten von einem sinkenden Schiff“, erzählt Menan Cehfer, ein Kurde, der in Aleppo als Lehrer arbeitet. Er war dabei, als Islamisten die Stadt eroberten. In den von kurdischen Milizen kontrollierten Vierteln Scheich Maksud und Achrafieh (Siehe Kasten) spielten sich chaotische Szenen ab: „Wir lebten in Panik. Die Jugendlichen rannten los, um die Viertel zu verteidigen“, erzählt Cehfer. Seitdem patrouillieren vermehrt Freiwilligenmilizen durch die Straßen.
Eine Blitzoffensive von gerade einmal 12 Tagen brach vergangene Woche das Rückgrat des Langzeitherrschers Assad, dessen Familie Syrien zuvor fünf Jahrzehnte regiert hatte.
„Ich konnte es zuerst nicht glauben. Für mich war es wie eine zweite Geburt“, erzählt Cehfer. Weil er als Lehrer die kurdische Sprache unterrichtet, hätte Syriens Geheimdienste nach ihm gefahndet, sagt er: „Sie wollten mich in eines ihrer dreckigen Gefängnisse, ein lebendiges Grab, stecken.“
Ich konnte es zuerst nicht glauben. Für mich war es wie eine zweite Geburt.
Doch die Angst ist groß in neue Tyrannei abzuschlittern. Denn seit Assads Sturz haben die Islamisten endgültig das Sagen.
Belagert und abgeschottet
Die Stadtviertel Scheich Maksud und Achrafieh hängen seit der Machtübernahme der Islamisten in einem Limbo fest. Viele Geschäft bleiben geschlossen. Menschen haben sich mit Lebensmittel eingedeckt. „Es gibt keine offiziellen Straßenverbindungen zwischen den von den Rebellen kontrollierten Gebieten und den kurdischen Vierteln“, erzählt Emîn Elîko, Lokalpolitiker der Partei der Demokratischen Union (PYD), eine der größten kurdischen Parteien. Im Nordosten Syriens stellt die PYD und dessen Verbündete eine von islamistischen Rebellen, und lange auch von Assad, unabhängige Autonomieregierung.
Aleppo
Das Wirtschaftszentrum Aleppo ist die Heimat von zwei Millionen „Halabis“, der arabische Name für die Bewohner Aleppos. Lange beherbergte die Stadt eine der größten christlichen Gemeinden im Nahen Osten: Nach Jahren des Bürgerkrieges machen Christen heute jedoch nur noch fünf Prozent der Einwohner aus. In Scheich Maksud, dem größeren der zwei kurdischen Viertel, lebten laut Zahlen aus 2016 ungefähr 30.000 Menschen. Die Mehrheit davon, zwischen 60 und 80 Prozent, sind Kurden, aber auch Minderheiten, wie christliche Armenier und Assyrer, leben in dem Bezirk. Kurdische Milizen kontrollieren schon seit Beginn des Syrischen Bürgerkriegs, als es von 2012 bis 2016 zu schweren Kämpfen kam, Scheich Maksud und Achrafieh.
Doch gänzlich abgeschottet sind die zwei Kurdenviertel nicht: Über manche Straßen kann man weiter ins Stadtinnere gelangen. Doch davon warnt der kurdische Journalist Mamude gegenüber profil: „Wer die Viertel verlässt läuft Gefahr, verschleppt zu werden.“
Eine Warnung, die der kurdische Lehrer Cehfer ignoriert: Zweimal war er im Stadtzentrum Aleppos. Dort hätte er Kämpfer des Komitees zur Befreiung der Levante (HTS), die größte islamistische Rebellengruppe, gesehen, erzählt er: „Sie sehen mit ihren langen Bärten und Röcken aus, wie IS-Kämpfer, doch sie halten sich an die Befehle ihres Anführers Al-Julani und nähern sich niemals Zivilisten.” HTS-Chef Abu Muhammad Al-Julani hatte zur Mäßigung und Achtung von Minderheiten aufgerufen. „Pragmatisch“ wirke die Rebellengruppe, sagt Cehfer.
Furcht und Abschreckung
Die größte Gefahr gehe von der Syrischen Nationalen Armee (SNA) aus, glaubt Cehfer hingegen. „Die SNA kennen wir Kurden nur als Kriminelle“, sagt er. In Afrin im Nordwesten Syriens vertrieben SNA-Milizen, die von der Türkei finanziert und ausgebildet werden, die Mehrheit der dort lebenden Kurden.
Kurz nachdem Aleppo fiel, versuchte die SNA auch in die kurdischen Viertel Scheich Maksud und Achrafieh vorzudringen. Doch als man auf Widerstand von lokalen Milizen stieß, brach die SNA den Vorstoß ab. Seitdem herrscht eine unruhige Waffenruhe. Durch Aleppo geistern Gerüchte: Kurdische Scharfschützen sollen sich in den zwei Vierteln verschanzt haben. Gerüchte, die PYD-Politiker Elîko bestreitet: „Aber die Bewohner von Scheich Maksud und Achrafieh bleiben und sind bereit sich zu verteidigen.“
Neues Syrien
Der Konflikt zwischen Islamisten und Kurden spielt sich in Aleppo in Miniatur ab: Im Nordosten Syriens greifen SNA-Milizen unterstützt von türkischen Luftangriffen von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), ein Auffangbecken linker, kurdischer und Minderheiten-Milizen, kontrollierte Gebiete an. Vor kurzem fiel die strategisch wichtige Ortschaft Manbidsch. SNA-Kämpfer verübten Massaker an gefangengenommenen Kurden.
Al-Julanis HTS verhielt sich bis jetzt neutral. Die Islamistenmiliz hatte die SDF während der Offensive informiert, keine kurdischen Gebiete angreifen zu wollen.
Die SDF versucht der HTS eine Hand entgegen zu strecken: Die von den Kurden angeführten Kräfte tauschten die Flagge ihrer Autonomieregierung aus. Nun weht die grün-weiß-schwarze Rebellenflagge in den kurdischen Gebieten. SDF- und PYD-Politiker Salih Muslim lobte erst kürzlich in einem Interview die Disziplin der HTS. Die Kurden seien bereit für Verhandlungen.
SDF-Chef Mezlûm Ebdî enthüllte am Donnerstag in einem TV-Interview, dass erste Verhandlungen mit der HTS im Gange seien und eine Delegation baldig nach Damaskus reisen soll.
Die Bewohner von Scheich Maksud und Achrafieh bleiben und sind bereit sich zu verteidigen.
Gelingt der Spagat zwischen Kurden und HTS-Islamisten? Die HTS distanzierte sich in der jüngsten Vergangenheit von der Türkei. Ankara hatte ihren Anführer Al-Julani mit Finanzhilfen unterstützt . Doch die pro-türkische SNA, die den Krieg nicht aufgeben möchte, passt nicht in die Friedenspläne des Rebellenführers. Die Frage, wie man mit den kurdischen Autonomiegebieten im Nordosten Syriens umgeht, könnte zur Zerreißprobe für das neue Syrien werden.
„Ich hoffe eines Tages in einem Land mit Meinungsfreiheit und Gerechtigkeit für alle zu leben“, sagt der Kurde Cehfer. In Scheich Maksud seie es aktuell ruhig, doch die Menschen blicken besorgt in die Zukunft.