Meinung

Rechtsbrüche in der Ägäis: Der Preis des Schweigens

Beim Besuch in Athen prangerte Außenminister Schallenberg die Rechtsbrüche der griechischen Küstenwache nicht an. Dabei hätte gerade Österreich das Recht, Kritik zu üben.

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Es war ein „Solidaritätsbesuch“, den Alexander Schallenberg am vergangenen Mittwoch in Griechenland absolvierte, und so hörte sich das bei der Pressekonferenz in Athen auch an. Österreichs Außenminister würdigte die Rolle Griechenlands, das „seit Beginn der Migrationskrise 2015 rund 250.000 Menschen aus Seenot gerettet hat“. Der Vorwurf, Griechenland sei „untätig“, gehe also „völlig ins Leere“.

Es ist eine interessante Formulierung, die Schallenberg da gewählt hat, denn Untätigkeit ist nicht der Vorwurf, zumindest nicht jener, der am schwersten wiegt. Vielmehr häufen sich die Belege für schwere Menschenrechtsverletzungen durch die griechische Küstenwache. Flüchtlinge und Migranten werden in Gummibooten auf dem Meer ausgesetzt – oder, wie Überlebende behaupten, sogar ins Wasser geworfen, damit sie ertrinken.

Belege für die Brutalität der griechischen Küstenwache gibt es seit Jahren, eine eben erschienene BBC-Dokumentation zeichnet ein besonders grausames Bild. Laut dem britischen Fernsehsender soll die griechische Küstenwache zwischen Mai 2020 und Mai 2023 für den Tod von mehr als 40 Menschen verantwortlich sein, neun davon hätten Küstenwächter ins Wasser geworfen.

Die Berichte der Überlebenden in der Dokumentation „Dead Calm: Killing in the Med?“ sind schwer zu ertragen. Ibrahim, ein junger Mann aus Kamerun, erzählt, wie er im September 2021 nach seiner Ankunft auf der Insel Samos von Maskierten gejagt und zusammen mit zwei weiteren Männern in einem Boot der griechischen Küstenwache zurück aufs Meer gebracht wurde. Die Sicherheitskräfte warfen einen nach dem anderen ins Wasser, sagt Ibrahim. Er schaffte es zurück an Land, die Leichen der beiden anderen Männer wurden an die türkische Küste gespült. Die Anwälte der Überlebenden verlangen von den griechischen Behörden, Ermittlungen wegen zweifachen Mordes aufzunehmen.

Die Regierung in Athen bezeichnet sämtliche Vorwürfe als haltlos. Doch die Belege für das brutale Vorgehen in der Ägäis sind erdrückend. Hunderte Überlebende berichten davon, es gibt belastbare Daten und mittlerweile sogar Videomaterial. Vor einem Jahr veröffentlichte die „New York Times“ das Video einer illegalen Abschiebung von Flüchtlingen vor der Insel Lesbos. Der Österreicher Fayad Mulla hatte gefilmt, wie Vermummte eine Gruppe von Männern, Frauen, Kleinkindern und Babys von der Insel Lesbos hinaus aufs Meer bringen und auf einer aufblasbaren Rettungsinsel aussetzen. Solche Pushbacks sollen in den vergangenen Jahren häufig geschehen sein, doch in diesem Fall wurde der Rechtsbruch aufgezeichnet. Es war so etwas wie die „Smoking Gun“, ein kaum widerlegbarer Beweis für die Täterschaft.

Vieles spricht dafür, dass es sich beim Vorgehen der griechischen Küstenwache um eine politische Strategie handelt.

Geschehen ist seither nichts, Ermittlungen blieben ohne Ergebnisse. Das gilt auch für den Fall der „Adriana“, jenes Bootes, das die griechische Küstenwache laut Überlebenden absichtlich zum Kentern brachte. Mehr als 600 Menschen ertranken dabei im Juni 2023, nur 104 überlebten.

Vieles spricht dafür, dass es sich beim Vorgehen der griechischen Küstenwache um eine politische Strategie handelt. Die vielen Fälle, dokumentiert über einen längeren Zeitraum, legen nahe, dass die Rechtsbrüche in der Ägäis nicht der Brutalität einiger wildgewordener Küstenwächter entspringen, sondern es sich dabei um eine politische Weisung handelt. Sogar die EU-Küstenschutzagentur „Frontex“, selbst unter massiver Kritik, spricht von „starken Anzeichen für anhaltende, schwerwiegende Grundrechtsverletzungen in Griechenland“.

Als im Herbst 2015 die Leiche des kleinen Alan Kurdi an die türkische Küste gespült wurde, druckten Zeitungen in aller Welt das Bild des ertrunkenen Zweijährigen auf ihren Titelseiten. Das Entsetzen war groß, es galt der allgemeine Konsens, dass so etwas nicht geschehen darf. Wenig später folgte das EU-Türkei Abkommen, die Zahl der Überfahrten Richtung Griechenland ging zurück – und damit auch die Todesfälle.

Heute schockieren die Bilder von Ertrunkenen vor den Toren Europas kaum mehr. Das Abkommen mit der Türkei ist Geschichte, Griechenland ist auf sich selbst gestellt – und setzt auf brutale Abschreckung.

„Während einige Staaten betroffen sind, schauen andere weg“, sagte Schallenberg in Athen, das „Abseitsstehen“ unterminiere die europäische Idee. Nur: Genauso macht das Wegschauen bei den Rechtsbrüchen Griechenlands die vielzitierten Werte der EU zur Farce. Das Schweigen der übrigen EU-Staaten erweckt den Verdacht, dass man Griechenland gewähren lässt, weil es die Drecksarbeit für alle erledigt.

Bei seinen Gesprächen in Athen habe Schallenberg die Rechtsbrüche angesprochen, heißt es aus dem Außenministerium in Wien. Öffentlich angeprangert hat er die Praxis in der Ägäis nicht, dabei könnte gerade Schallenberg es sich erlauben, maßvoll, aber nachdrücklich Kritik zu äußern. In den vergangenen Jahren hat Österreich seine Verantwortung wahrgenommen und sehr vielen Menschen Aufnahme gewährt. Rechtsstaat und Asylsystem funktionieren, Österreich gehört nicht zu den EU-Ländern, die Migranten illegal abschieben, misshandeln oder willkürlich inhaftieren. Die Kritik an Rechtsbrüchen sollte unter Freunden und Partnern zum normalen Ton gehören.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.