Callamard
Diese Kritiker haben keine Ahnung von Völkerrecht, sie haben
unseren 250-seitigen Bericht zum Thema nicht gelesen und nicht fünf Jahre dazu recherchiert. Sobald sie das getan haben, können wir gern darüber diskutieren. Der Begriff „race“ (der Begriff kann nicht mit „Rasse“ übersetzt werden, im Englischen meint er eine ethnische oder soziale Gruppe, Anm.) ist in dem Bericht ordentlich definiert, und es besteht kein Zweifel daran, dass Palästinenser in Israel als „race“ betrachtet werden. Deswegen ist der Begriff Apartheid zutreffend. Selbst in Südafrika wird er in Bezug auf Israel nicht abgelehnt.
Südafrika hat gegen Israel
wegen vermeintlichen Völkermordes ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eingebracht.
Callamard
Amnesty International hegt keinen Zweifel daran, dass Israel gegen das Volk der Palästinenser das Verbrechen der Apartheid begeht. Dies zeigt Wirkung, Regierungen erkennen langsam, dass es für die Tötung von palästinensischen Menschen, von Kindern auf dem Weg zur Schule, für Landnahmen und die Zerstörung von Dörfern in der Westbank einen Begriff gibt.
Gegen Amnesty International steht der Vorwurf im Raum, dass Sie im Grunde Israel für den Angriff der Hamas verantwortlich machen, also Täter-Opfer-Umkehr betreiben. Können Sie das nachvollziehen?
Callamard
Nein. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Hamas am 7. Oktober und davor Kriegsverbrechen begangen hat und möglicherweise auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Was Hamas getan hat, ist auf allen Ebenen grauenhaft und hat das israelische Volk traumatisiert. Wir sagen aber auch: Der 7. Oktober ist nicht aus dem Nichts heraus passiert, es gibt ein Davor und ein Danach. Dieses Davor und Danach muss betrachtet werden, wenn man eine Vision für die Zukunft schaffen, die Gewaltspirale unterbrechen und die Sicherheit für alle Menschen in der Region garantieren will. Das ist es,
was UN-Generalsekretär António Guterres gemeint hat, als er vom „Kontext“ sprach. Dieser Kontext rechtfertigt nicht den Angriff der Hamas vom 7. Oktober, aber er muss bei den Visionen für die Zukunft berücksichtigt werden.
Vor Kurzem trauerte Amnesty International um Walid Dakka. Der Tod des am längsten inhaftierten palästinensischen Gefangenen in Israel sei eine „brutale Erinnerung an die Missachtung Israels für das Recht auf Leben der Palästinenser“, hieß es. Dakka war der Anführer einer Terrorgruppe, die einen 19-jährigen Israeli entführt und brutal ermordet hatte. Können Sie den Zorn darüber verstehen, dass Amnesty International Dakkas Freilassung forderte und am Ende seinen Tod betrauerte?
Callamard
Nein, denn die Menschen müssen die Fakten verstehen! Dakka hatte seine Strafe längst abgesessen, blieb ohne weitere Verfahren inhaftiert und lag im Sterben, weil er Krebs hatte. Wozu also der Shitstorm? Wir tun unseren Job, wir weisen auf das geltende Völkerrecht hin. Die internationalen Verpflichtungen gelten auch für Israel. Wir werden die Verbrechen, die Dakka begangen hat, niemals rechtfertigen, doch wir müssen verstehen, dass das Prinzip des Diskriminierungsverbots und der Menschlichkeit für alle gilt.
Sie meinen, die Prinzipien des Völkerrechts müssen für alle gelten, auch für Menschen, die unsere Sympathien nicht verdient haben?
Callamard
Ja. Hier werden wir am härtesten geprüft. Es ist einfach, Menschenrechte für Helden einzufordern. Als humanistische Gesellschaft müssen wir diese Prinzipien auch bei jenen anwenden, die wir nicht leiden können, ablehnen oder sogar hassen. Dort findet die wichtigste Prüfung unseres Systems statt. In dem Moment, wo wir bei unseren zentralen Prinzipien Ausnahmen machen, beginnen diese Prinzipien zu erodieren. Dann werden wir eines Tages selbst zu Opfern werden.
Amnesty International wird für seine Arbeit vermehrt kritisiert, vor allem in Bezug auf Israel …
Callamard
Die Kritik kommt doch nur aus diesem Land, aus Österreich.
Das stimmt nicht, Kritik kam aus etlichen Ländern.
Callamard
Österreich, Deutschland und Israel sind die einzigen Staaten, aus denen diese Art von Kritik laut wird.
Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass Sie vorsichtiger agieren müssen?
Callamard
Nein. Wir können nicht vorsichtig agieren, wenn es um möglichen Genozid geht. Wir können nicht vorsichtig sein, wenn es um Verstöße dieses Ausmaßes geht.
Begeht Israel einen Genozid am palästinensischen Volk?
Callamard
Darüber haben wir noch keinen Beschluss gefasst. Sicher ist, dass Israel eine ganze Reihe von Kriegsverbrechen begeht
Israel bestreitet diese Darstellung vehement.
Callamard
Wir sehen in Gaza die größte Zahl von Journalisten und humanitären Helfern, die je in einem Krieg umkamen. Mehr als 70 Prozent der zivilen Infrastruktur sind zerstört. Laut Experten, die sich seit Jahren mit zivilen Opfern in bewaffneten Konflikten befassen, fordert Israels Militäroffensive in Gaza Opferzahlen, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, die Realität in Gaza zu benennen, nur weil manche Menschen das nicht hören wollen. Wir werden darauf genauso hinweisen wie auf die Kriegsverbrechen der Hamas am 7. Oktober, und ich kann Ihnen sagen, das gefällt einigen auch nicht. Sehen Sie sich den Zustand der Welt an! Das Letzte, was wir brauchen, sind Menschenrechtsorganisationen, die sich selbst zensurieren, weil das, was sie zu sagen haben, unpopulär ist.
Agnès Callamard, 61
ist seit März 2021 Generalsekretärin von Amnesty International. Zuvor war die französische Menschenrechtsexpertin UN-Sonderberichterstatterin für außergerichtliche, standrechtliche und willkürliche Hinrichtungen. Callamard war vergangene Woche in Wien, um an einer vom österreichischen Außenministerium organisierten Konferenz über autonome Waffensysteme teilzunehmen. Amnesty International, gegründet 1961, recherchiert Menschenrechtsverletzungen in aller Welt, um sie aufzuzeigen und Aktionen dagegen zu starten. 1977 wurde die Organisation mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Grundlage der Arbeit ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; im Jahr 2001 wurde der Einsatz auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ausgedehnt.