Olaf Scholz und seine Ampelregierung plagen multiple Krisen, innere Konflikte und das scheinbar unaufhaltsame Erstarken der AfD. Die Bundesrepublik steht vor einem Wendejahr.
10.01.24
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Von Walter Mayer (Berlin)
War alles falsch?
Der Ausstieg aus Wehrpflicht und Atomkraft. Der Mindestlohn. Die offenen Grenzen. Die Klimaziele. Das erhöhte Bürgergeld als Ersatz für Hartz IV. Die Corona-Maßnahmen. Die Ankündigung der Cannabis-Legalisierung. Schließlich, als billiges Bonbon, das nicht mehr jedem schmeckte, die freie Geschlechtswahl ab Erreichung des 14. Lebensjahres.
War das wirklich alles falsch? Fehler über Fehler? Komplett oder großteils daneben?
Deutschland schaut zweifelnd in den Spiegel und erkennt sich nicht mehr. Mag sich nicht mehr. Ist frustriert, müde und verbraucht. Kann scheinbar nichts mehr anfangen mit dem mittigen Merkelismus, den die rot-grün-gelbe Ampel-Regierung unter Olaf Scholz, vielleicht um ein paar Nuancen verändert, fortsetzte. Hat genug vom kuscheligen Laissez-faire-Liberalismus, der die Bundesrepublik über 30 Jahre lang, eigentlich seit dem Fall der Mauer, also seit der ausklingenden Ära Kohl, geprägt hat. Die Formel aus brummender Wirtschaft, relativ moderatem Sozialabbau und progressiver Gesellschaftspolitik – sie geht nicht mehr auf.
Der „Wir schaffen das“-Optimismus ist verweht.
Aus der bunten Republik mit ihren multifreundlichen Träumen ist ein griesgramgraues Krisenland geworden. Der „Wir schaffen das“-Optimismus ist verweht. Wie immer, wenn das Selbstbewusstsein schrumpft, plustert sich das Ego auf, und die Ellenbogen werden spitz. Die Alternative für Deutschland (AfD) dominiert die Umfragen. Die Partei, die der Verfassungsschutz in relevanten Teilen als „erwiesen rechtsextrem“ einstuft, liegt in den letzten Umfragen bundesweit bei 21,6 Prozent, und vieles spricht dafür, dass sie bei den 2024 anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg Nummer eins wird. Der „Wind of Change“ weht in diesem Winter scharf von rechts.
Die aktuell Regierenden dagegen sind deutlich unbeliebt. Von seinem 142 Quadratmeter großen Büro im siebten Stock des Kanzleramts muss Olaf Scholz in ein Land schauen, das ihn mehrheitlich ablehnt. Laut ARD-Umfrage wünschen sich 41 Prozent der Bürger Neuwahlen. Und fast jeder Zweite rechnet mit einem vorzeitigen Bruch der Koalition („Handelsblatt“). Deutschland will sich neu erfinden. Aber wie?
Als Olaf Scholz mit seinen engsten Vertrauten, dem Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und Regierungssprecher Steffen Hebestreit, zwischen Weihnachten und Silvester über die traditionelle TV-Neujahrsansprache nachdenkt, steht ihm die dramatische Lage seiner Regierung und die Frage, was er seit März 2018, erst als Vize unter Angela Merkel und dann als Kanzler der Ampelkoalition, falsch gemacht haben könnte, deutlich vor Augen.
Zuversicht schrumpft
Die Lage der Regierung: Drei Parteien, die keine Kompromisse finden und deren Widersprüche sich nicht mehr durch Geschenke an die jeweilige Klientel zudecken lassen. Eine SPD, die in Angststarre auf die aktuellen Umfragen blickt. Eine FDP, in der nur eine knappe Mehrheit der Mitglieder für den Verbleib in der Koalition ist.
Und die Grünen, die es sich durch ein dilettantisch vorbereitetes Wärmepumpengesetz mit weiten Bevölkerungsteilen verdorben haben und deren Basis an der von den eigenen grünen Ministern getragenen, verschärften Migrationspolitik verzweifelt. Spätestens, seit der Bundesgerichtshof im Karlsruher Haushaltsurteil die Aushöhlung der verfassungsmäßigen Schuldenbremse durch Schattenhaushalte verunmöglichte, fehlt das Geld für Goodies an die Gefolgschaft.
Der Bundeskanzler liegt im Politikerranking blamabel auf Platz zwölf – noch hinter AfD-Chefin Alice Weidel. Der erst im Jänner 2023 bestellte Verteidigungsminister Boris Pistorius dagegen ist mutmaßlich dank seiner Kasernenhoftöne („Deutschland muss kriegstauglich werden“) Umfragekanzler und hält Platz eins. Pistorius brachte jüngst die eigene Generalität zum Haareraufen und Brandbriefschreiben, als er kampfbereite Bundeswehrtruppen im Baltikum in Aussicht stellte. Aber markige Worte sind billiger als Panzer.
Der vorweihnachtliche Streik der Lokführer konnte nur mühsam darüber hinwegtäuschen, dass sich die Deutsche Bahn seit Jahren selbst bestreikt. Die DB ist europäischer Verspätungsmeister. Mehr als jeder zweite Zug kommt unpünktlich beziehungsweise gar nicht am Ziel an. Bahnchef Richard Lutz freut sich dieses Jahr dennoch über einen Gehaltsbonus von 1,3 Millionen Euro. Den bekommt er, weil er den Anteil weiblicher Führungskräfte erhöht hat.
Die Krise der Bahn steht prototypisch für die Infrastrukturdefizite des Landes: Digitalisierung, Verteidigung, Integration. „Unser Land ist zu lange auf Verschleiß gefahren“, gesteht Olaf Scholz in seiner am Silvesterabend ausgestrahlten Neujahrsansprache. Das waren dann aber auch schon die einzigen, ansatzweise selbstkritischen Worte, die die Scholz-Lippen verließen. Ansonsten: alles richtig gemacht, man lebe eben in schweren Zeiten, Putin, Nahost, Inflation etc., aber „wir Deutsche kommen auch mit Gegenwind zurecht“.
Allerdings: Wie die Wirtschaftsleistung – im dritten Quartal: minus 0,1 Prozent – schrumpfte auch die Zuversicht: Laut dem Umfrageinstitut Allensbach sieht jeder zweite Bundesbürger pessimistisch auf die kommenden Jahre. Die im Dezember veröffentliche internationale PISA-Studie erschüttert das Selbstvertrauen der Dichter-und-Denker-Nation weiter. Die deutschen Schüler erzielten in diesem Weltleistungsvergleich ihr bisher schlechtestes Ergebnis.
Blaue Könige
Konjunktur hat nur die AfD, ihre Kurve zeigt beunruhigend steil nach oben. In Pirna (Sachsen) stellt die Partei mit dem Nike-ähnlichen Swoosh im Logo ihren ersten Oberbürgermeister. Und wahrscheinlich kann Björn Höcke, Spitzenkandidat der vom Thüringer Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuften AfD, im Juni als Wahlsieger Anspruch auf das thüringische Ministerpräsidentenamt erheben. In der jüngsten Umfrage lag seine Partei dort mit 36,5 Prozent weit vorn.
Der britische „Economist“ porträtierte jüngst die AfD-Vorsitzende Alice Weidel als „The blue Queen“, die blaue Königin. Weidel, offen lesbisch mit einer Migrantin aus Sri Lanka in der Schweiz lebend, repräsentiert all das Unfassbare ihrer Partei. Die ehemalige Managerin der Investmentbank Goldman Sachs, weltgewandt und wirtschaftsliberal, verbündete sich mit dem völkisch-sozial-nationalen Flügel der Partei und sammelt Obskuranten und Querulanten ebenso wie Unzufriedene aller Couleurs. Bei der Landtagswahl in Hessen, wo die AfD zweitstärkste Partei hinter der CDU wurde, kamen die meisten ihrer neugewonnenen Stimmen aus dem Nichtwähler- und dem SPD-Lager, aber auch zu Tausenden von Grünen und Linken.
Opposition ohne Kompass
Deutschlands objektive Dysfunktionalitäten und die psychologische Verunsicherung der Staatsbürger sind der Booster der AfD. Das querfrontige Bündnis der Ex-Linken Sahra Wagenknecht mit ihrer starken Strahlkraft ins AfD-Milieu kann daran kurzfristig wenig ändern. Bei den Landtagswahlen 2024 wird die Wagenknecht-Truppe wegen organisatorischer Probleme wohl nicht antreten.
Gleichzeitig hat die stärkste Oppositionskraft im Bund, die große alte Union, keinen Kompass zur Machtübernahme. Zwar werden lautstark Neuwahlen gefordert – aber noch längst ist nicht klar, wer CDU und CSU in solche Wahlen führen soll. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz scheint zwar irgendwie davon auszugehen, eine Art „natürlicher“ Kanzlerkandidat zu sein. Aber da sind auch noch die Ambitionen von Markus Söder, der weiterhin immer breitbeiniger wird, und die des spitzzüngigen NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Der personellen Unklarheit entspricht die strategische. Der von Merz’ Stellvertreter Carsten Linnemann geprägte Entwurf für ein Grundsatzprogramm passt weder zur SPD noch zu den Grünen. Er ist sozialpolitisch so wirtschaftsliberal, dass eine „große“ Koalition nur mehr schwer vorstellbar ist. Und gesellschaftlich so konservativ (pro Atom, contra Gendern), dass auch die flexibelsten grünen Verrenkungskünstler nicht mitmachen können.
Womit sich die Frage nach alternativen Optionen stellt. Also: ob beziehungsweise wann die „Brandmauer gegen rechts“, das Versprechen der Unionsparteien, niemals mit der AfD zusammenzuarbeiten, verglimmt. Es gibt genug CDU-Funktionäre, die in diese Richtung zündeln. Spätestens nach den Wahlen in Thüringen wird es zum Schwur kommen.
Schon einmal, im Februar 2020, haben dort AfD, CDU und FDP zusammen den FDP-Mann Kemmerich als Kurzzeit-Ministerpräsidenten installiert. Nur das Eingreifen von Angela Merkel konnte die schwarz-gelb-blaue Mesalliance wieder auflösen. Doch eine Angela Merkel spielt heute keine Rolle mehr in der Union.
Wenn Ende Jänner die politische und gesellschaftliche Elite zum Staatsakt für die verstorbene Politlegende Wolfgang Schäuble zusammenkommt, wird es zwischen den rot-grünen Spitzen und jenen der Union nur mehr reserviertes Händeschütteln geben. Die Blöcke formieren sich neu. Wer marschiert mit wem wohin? Wird bald alles falsch, was bisher richtig schien?
„2024 wird das Jahr der neuen deutschen Angst“, fasste „Spiegel“-Kommentator Nikolaus Blome am ersten Tag des neuen Jahres die Lage zusammen und meinte damit die Angst, nach den Wahlen in einem Land aufzuwachen, das man nicht mehr erkennt.
Angst ist unberechenbar. Angst macht meistens alles falsch.