„Nicht jeder, der eine bestimmte Position vertritt, wird dafür bezahlt“
Der SPÖ-Delegationsleiter im Europaparlament Andreas Schieder über den Korruptionsskandal in seiner Fraktion und die Frage, warum das Engagement der Kollegen für Katar den Sozialdemokraten nicht aufgefallen ist.
Ihre ehemalige Fraktionskollegin im EU-Parlament, die griechische Sozialdemokratin Eva Kaili, sitzt in Haft, sie soll von Katar bestochen worden sein. Sie hat sich in den vergangenen Wochen besonders engagiert für das Golfemirat eingesetzt. Ist das der Fraktion nicht merkwürdig erschienen?
Schieder
Offenbar nicht ausreichend. Kaili war schon länger eine Außenseiterin, die auch schwerwiegende Zerwürfnisse mit ihrer Partei hatte, der griechischen Pasok. Wie sich der gesamte Kriminalfall darstellt, geht es ja nicht nur um Katar, sondern auch um Marokko. Vieles deutet darauf hin, dass Marokko involviert ist und es auch hier Geldflüsse gab. Offenbar hat es ein Netzwerk gegeben, das ausgehend von der NGO eines ehemaligen italienischen Europaabgeordneten (Pier Antonio Panzeri, Anm.) und dessen ehemaligen Mitarbeitern versucht hat, Einfluss auf das Europäische Parlament zu nehmen.
Nach den Verhaftungen im Dezember hat das Europaparlament eine Resolution verabschiedet, in der die Einflussnahme Katars verurteilt wird. Die Linksfraktion wollte auch Marokko in dieser Resolution nennen, ist aber an den Gegenstimmen der Konservativen und Sozialdemokraten gescheitert. Sie haben, anders als viele Ihrer Fraktionskollegen, dafür gestimmt. Wieso gab es solchen Widerstand gegen die Nennung Marokkos?
Schieder
Ich habe dafür gestimmt, weil für mich zu diesem Zeitpunkt bereits klar war, dass Marokko immer mehr ins Zentrum der Ermittlungen rückt. Offenbar sahen das viele Abgeordnete auch aus meiner Fraktion anders. Ich gehe aber davon aus, dass man jetzt mehr auf Marokko schauen wird. Katar stand wegen der Fußballweltmeisterschaft im Zentrum. Bei Marokko war es ein schleichender Prozess, die laufenden Menschenrechtsverletzungen Marokkos in Bezug auf die Westsahara sind immer wieder Thema (Marokko besetzt die Westsahara seit Jahrzehnten, die ehemaligen Bewohner leben in algerischen Flüchtlingslagern, Anm.). Das Handels- und Fischereiabkommen der Europäischen Union mit Marokko droht demnächst vom Europäischen Gerichtshof annulliert zu werden. Die Frage ist, wie sich das Europäische Parlament hier positionieren wird. Das Interesse Marokkos an unseren Entscheidungen ist groß, und wir müssen hier besonders vorsichtig und sauber arbeiten.
Jetzt zeigt sich, dass Marokko schon vor Jahren damit begonnen hat, ein Netzwerk von korrupten europäischen Politikern aufzubauen, das Katar nun nutzte. Die Verdächtigen sind allesamt Sozialdemokraten, die sich für Marokko oder Katar oder beide eingesetzt haben. Hat das niemand als seltsam wahrgenommen?
Schieder
Marokko ist ein sehr umstrittenes Land innerhalb der europäischen Politik. Es gibt Länder wie Frankreich, die sehr promarokkanische Positionen vertreten, auch in der Frage der Westsahara. Österreich und Deutschland haben die Menschenrechtsverletzungen bezüglich der Westsahara stets thematisiert. Ich glaube, Marokko hat bewusst einen ehemaligen italienischen Abgeordneten gesucht. Es gibt schon seit Längerem Vermutungen, dass Einflussnahme aus Marokko ausgeübt wird, nicht nur im Europäischen Parlament, sondern auch in anderen Institutionen.
Aber das fällt doch auf, wenn sich plötzlich Leute aus den eigenen Reihen für ein bestimmtes Land engagieren?
Schieder
Es ist mir schon aufgefallen, dass ein italienischer Kollege, der Vorsitzende der Delegation für die Beziehungen zu den Maghreb-Staaten, der nun ins Visier der Behörden geraten ist, häufig das Wort für Marokko ergriffen hat. Nur: Eine politische Meinung zu haben, bedeutet noch nicht, dass man korrupt sein muss. Nicht jeder, der eine bestimmte Position vertritt, wird dafür bezahlt. Als der Europäische Gerichtshof das Fischereiabkommen mit Marokko kippte, hat sich auch die österreichische Regierung dafür eingesetzt, die Angelegenheit in die nächste Instanz zu bringen. Wir können nicht jeden verdächtigen, der bestimmte Positionen vertritt.
Man sieht den Leuten nicht an, wenn sie für ihre Positionen bestochen werden. Dennoch stellt sich die Frage, was man aus der Angelegenheit lernen kann. Sie sitzen im Sonderausschuss zu Einflussnahme aus dem Ausland auf die demokratischen Prozesse in der EU. Wie kann man solche Einflussnahmen künftig verhindern?
Schieder
Wir werden im Europäischen Parlament einen Untersuchungsausschuss einrichten, um zu klären, wo man etwas hätte sehen müssen und wo man möglicherweise Opfer krimineller Machenschaften wurde, die nicht so einfach zu verhindern gewesen wären. Es ist wichtig, alle Aspekte aufzuarbeiten, um die Mechanismen und Strukturen so zu schärfen, dass Derartiges nicht mehr passieren kann.
Kailis Verhalten hätte Ihrer Fraktion durchaus seltsam erscheinen können. Im November gab es eine Resolution zur WM in Katar, in der das Golfemirat kritisiert wurde. Kaili versuchte Abgeordnete zu überzeugen, gegen diese Resolution zu stimmen, auch Mandatare aus anderen Fraktionen. Ist das niemandem aufgefallen?
Schieder
Aus der SPÖ-Delegation hat sie niemanden angesprochen. Das liegt wohl daran, dass unsere Haltung durch unser Stimmverhalten und unsere Wortmeldungen im Europaparlament eindeutig sind: Wir sprechen Menschenrechtsverletzungen an und verurteilen sie aufs Schärfste. Katar gegenüber haben wir uns stets kritisch geäußert. Kaili hätte bei uns nichts zu holen gehabt. Offensichtlich hat sie Leute gesucht, von denen sie dachte, dass sie sie überzeugen kann.
Anfang Dezember hat Kaili im Innenausschuss für die Visaliberalisierung für Katar gestimmt, obwohl sie gar nicht Mitglied des Ausschusses ist. Sie hat sich offenbar in den Innenausschuss hineingeschmuggelt. Wie kann das sein?
Schieder
Ich bin selbst nicht in dem Innenausschuss, daher kann ich nicht sagen, wie das damals war. Die Vorgehensweise zeigt, dass sie über kriminelle Energie verfügte. An sich dürfen interessierte Abgeordnete aber schon in Ausschüsse, denen sie nicht angehören.
Mitstimmen dürfen sie aber nur in offizieller Vertretung eines Ausschussmitglieds.
Schieder
Genau. Diese Vorgehensweise ist mir unerklärlich. Sie zeigt, dass Kaili ein hohes Maß an krimineller Energie aufgewendet hat.
Das Interesse Marokkos an unseren Entscheidungen ist groß.
Es gab eine Probeabstimmung, wo herauskam, dass es bei den Sozialdemokraten eine Stimme zu viel gibt. Daraufhin hat die sozialdemokratische Koordinatorin Birgit Sippel auf ihre eigene Stimme verzichtet, damit Kaili abstimmen kann. Das ist doch äußerst ungewöhnlich.
Schieder
Das übliche Prozedere bei zu vielen Stimmen ist, dass die überschüssigen zurückgenommen werden. Es wurde dann offenbar mit großer Mehrheit für die Visaliberalisierungen abgestimmt. Mittlerweile wurde das Dossier aber richtigerweise eingefroren.
Sie waren zwar nicht dabei, aber Sie sind Delegationsleiter der SPÖ im Europaparlament. Sehen Sie es nicht als Ihre Aufgabe, herauszufinden, was geschehen ist?
Schieder
Natürlich versuchen wir innerhalb der Fraktion herauszufinden, wie das abgelaufen ist. Aber Sie müssen schon verstehen, dass ich, weil ich nicht im Innenausschuss bin, nicht weiß, ob Kaili sich hineingeschlichen hat.
Aber Sie haben doch bestimmt mit Ihren Kollegen gesprochen. Ihre Kollegin Theresa Muigg war anwesend. Das wirkt jetzt ein bisschen so, als wollte man da lieber nicht mehr drüber sprechen. Es ist sehr schwer zu glauben, dass die SPÖ-Delegation nicht Bescheid weiß.
Schieder
Die Kollegin Muigg hatte ihr Mandat eben erst angetreten und war nicht in die Vorbereitungen der Abstimmung involviert. In so einem Ausschuss sitzen Hunderte Menschen, da ist vieles nicht leicht zu beobachten. Ich weiß nicht, ob die sozialdemokratische Koordinatorin die Situation erfasst hat, denn Kaili hat sich nicht bei ihr angemeldet. Wir werden weiterhin in der Fraktion untersuchen, was da passiert ist. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass uns das egal ist. Das ist es nicht. Wir werden das aufklären.
Im Europaparlament war es seit dem Ausbruch des Skandals ziemlich ruhig. Man hat auch von der Fraktion der Sozialdemokraten nicht viel gehört. Befindet sich die Fraktion in einer Schockstarre?
Schieder
Dem möchte ich auf das Schärfste widersprechen. Die Fraktion hat Kaili sofort ausgeschlossen und eine Fülle von Punkten für mehr Transparenz auf den Tisch gelegt. Wir fordern einen Untersuchungsausschuss im Europäischen Parlament, damit die Vorkommnisse schonungslos aufgeklärt werden, und wir haben uns dafür eingesetzt, dass alle Dossiers, die mit Katar zu tun haben, darunter auch die Visaliberalisierung, pausiert werden. Das sollten wir auch mit Marokko so handhaben. Die Fraktion der Sozialdemokraten hat, wie das gesamte Europäische Parlament, sofort reagiert. Das betrifft nicht nur eine Fraktion, sondern das gesamte Parlament. Präsidentin Roberta Metsola hat richtigerweise sofort klargemacht, dass das Europäische Parlament alles unternimmt, um die Behörden bei der Aufklärung zu unterstützen. Dazu gehört auch die Aufhebung der Immunität zweier weiterer Abgeordneter, die wir selbstverständlich unterstützen, um die Ermittlungen der Behörden nicht zu behindern.
Welche Konsequenzen zieht die Fraktion der Sozialdemokraten aus dem Dilemma?
Schieder
Innerhalb der Fraktion werden wir noch stärker auf Transparenz bei Personalpaketen achten, wenn es etwa um Vorschläge für verschiedene Ämter geht. Bei den Anlassfällen Katar und Marokko müssen wir kritisch nachforschen, wer welche Dossiers betreut und welche Positionen vertreten hat. Ein kriminelles Netzwerk wie dieses, von Katar und offenbar auch von Marokko ausgestattet mit sehr viel Geld, ist schockierend. Nur: Wenn jemand bereit ist, Hunderttausende Euro in einem Plastiksack illegal in irgendeinem Hinterhof entgegenzunehmen, dann helfen mitunter die besten Transparenzmaßnahmen nichts. Da braucht es ermittelnde Behörden.
Bisher mussten Abgeordnete Treffen mit Lobbyisten und Regierungsvertretern aus Drittstaaten nicht melden. Ein Vorschlag für die Verbesserung der Transparenzregeln ist, die Lobbyingregister um Interessenvertreter aus Drittstaaten zu erweitern. Dazu gab es schon vor Jahren einen Vorschlag der Grünen, aber sie waren damit allein. Wieso hat man das nicht schon damals beschlossen?
Schieder
Wenn man ein Dossier betreut, muss man schon jetzt alle Lobbyisten, die man dazu trifft, angeben. Ich bin dafür, dass man das erweitert und Termine auch eintragen muss, wenn man in der Sache nicht Berichterstatter ist. Und ja: Das Register muss um Drittstaaten und um Vertreter von Staaten erweitert werden, auch Treffen mit Pressesprechern, Botschaftern und Politikern müssen registriert werden. Wir halten das in der SPÖ-Delegation seit Beginn der Legislaturperiode so, und ich halte es für sinnvoll, das verpflichtend einzuführen.
Das ist sehr löblich. Aber warum war Ihre Fraktion bisher dagegen, das zur Regel zu machen? Musste erst etwas Schlimmes geschehen, um zu erkennen, dass es strengere Transparenzregeln braucht?
Schieder
Die Diskussion war vor meiner Zeit. Ich halte es für richtig, Maßnahmen für mehr Transparenz einzuführen. Allerdings kann man, selbst wenn alle Treffen mit Botschaftern und Regierungsvertretern in ein Register eingetragen werden müssen, nicht verhindern, dass sich jemand wie Frau Kaili bestechen lässt.
Das Europaparlament galt lange als Abstellgleis für unliebsame Politiker, das faktisch nichts mitzureden hat. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Das Parlament hat sich mehr Rechte erkämpft, es darf mehr mitbestimmen, auch außenpolitisch. Durch das Spitzenkandidaten-System und die Möglichkeit, Kommissare abzulehnen, ist es demokratischer geworden. Sehen Sie diesen Reputationsgewinn durch den Korruptionsskandal in Gefahr?
Schieder
Es stimmt, das Europäische Parlament hat in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen. Es ist der einzige direkt demokratisch legitimierte Gesetzgeber auf europäischer Ebene und hat, gerade was Verurteilungen und Behandlungen von Menschenrechtsverletzungen und anderen außenpolitischen Themen betrifft, ein sehr hohes Gewicht. Aus diesem Grund hat es die Einflussnahmen gegeben. Sie haben leider recht mit Ihrer Frage – natürlich ist es ein großer Reputationsschaden. Es ist traurig, dass das kriminelle Netzwerk, das diesen Schaden angerichtet hat, Hunderte andere Abgeordnete, die täglich wichtige und gute Arbeit leisten, in ein schlechtes Licht rückt. Deshalb ist es wichtig, die Wahrscheinlichkeit, dass so was wieder passiert, massiv zu reduzieren. Das Europäische Parlament muss noch deutlicher machen, dass es an Gesetzen arbeitet, die Europas Bürgerinnen und Bürgern nutzen und die soziale Gerechtigkeit voranbringen.
Die Feinde der EU freuen sich über den Skandal. Ungarns Premier Viktor Orbán hat gefordert, das Europaparlament abzuschaffen.
Schieder
Leute wie Orbán sollten lieber ihren Mund halten. Diese Leute haben nichts Sinnvolles beizutragen, ganz im Gegenteil. Herr Orbán ist selbst bis zum Hals in Korruptionsfälle verstrickt.